gb-1841-03-02-02

            Berlin 2 Maerz 1841. Lieber Felix
Es ist eine brochure in diesen Tagen erschienen, welche mit Recht das allgemeinste Aufsehen erregt, und, obgleich von der Polizei verboten, in tausenden von Exemplaren circulirt, und begierig aus einer Hand in die andre übergeht. Es ist zwar sehr möglich, daß Du sie dort schon gelesen hast, indessen möchte ich, daß Du sie jedenfalls läsest, und da schicke ich sie Dir denn hierbei, auf die Gefahr hin, Dir etwas schon Bekanntes aufzutischen.
Ich finde den Styl, – den Inhalt, – die Würde und Kraft, welche darin herrschen, – die Ruhe und Mässigung bei festem Beharren auf dem Rechte, – außerordentlich schön. Mag daraus werden, was da wolle, so bedeutet die brochure einen Fortschritt der öffentlichen Meinung, welcher durch nichts hinwegzuläugnen ist, und welcher seine Früchte schon tragen wird. Diese brochure wäre vor einem Jahre, bei Lebzeiten des vorigen Königs, – nicht möglich gewesen. Der darin herrschende Geist ist erst seitdem erwacht und er wird, so Gott will, nicht wieder einschlafen.
Du wirst leicht erkennen, daß das Ding, weder von einem Gelehrten, noch von einem Dilettanten, sondern von einem Staatsmann, oder wenigstens unter dem unmittelbaren Einflusse eines solchen verfaßt ist. Nun hat Preußen nur noch Einen Staatsmann, welchem man so etwas zutrauen kann, und der lebt in Ostpreußen. Ihm wird denn auch allgemein die brochure zugeschrieben, und da Du mich einmal aufgefordert hast, Dir über jenen Mann etwas Näheres mitzutheilen, so wird Dir das Werkchen in welchem er selbst, oder doch sein Geist spricht, interessant seyn!
Lebe wohl, lieber Bruder Dein P
Der Schachtisch geht heute nach dort ab, und wird Dir gefallen.          

            <TEI xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xmlns:xsi="http://www.w3.org/2001/XMLSchema-instance" xsi:schemaLocation="http://www.tei-c.org/ns/1.0 ../../../fmbc_framework/xsd/fmb-c.xsd" xml:id="gb-1841-03-02-02" xml:space="default"> <teiHeader xml:lang="de"> <fileDesc> <titleStmt> <title key="gb-1841-03-02-02" xml:id="title_f47fbb06-1e66-4b8e-b877-8ffeb2d6b947">Paul Mendelssohn Bartholdy an Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig <lb></lb>Berlin, 2. März 1841</title> <title level="s" type="incipit" xml:id="title_37a2b4e5-71af-421b-bbf9-b2bad88a2ffa">Es ist eine brochure in diesen Tagen erschienen, welche mit Recht das allgemeinste Aufsehen erregt, und, obgleich von der Polizei verboten, in tausenden von Exemplaren circulirt, und begierig aus einer Hand in die andre übergeht.</title> <title level="s" type="sub" xml:id="title_8352c307-39fe-414c-9b94-39a3a9cca820">Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online (FMB-C)</title> <title key="fmb-1841-02-13-01" type="precursor" xml:id="title_5dc2e150-bb66-4608-bbeb-95db2e8a39a6">Felix Mendelssohn Bartholdy an Paul Mendelssohn Bartholdy in Berlin, adressiert an Mendelssohn &amp; Co.; Leipzig, 13. Februar 1841</title> <title key="fmb-1841-03-04-01" type="successor" xml:id="title_d9c557a9-4d9b-4c6e-bb58-9bb571255e10">Felix Mendelssohn Bartholdy an Paul Mendelssohn Bartholdy in Berlin; Leipzig, 4. 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Humboldt-Universität zu Berlin</publisher> <address> <street>Am Kupfergraben 5</street> <placeName xml:id="placeName_f2226f67-2d9f-4142-a616-934df2c0ee1d"> <settlement>10117 Berlin</settlement> <country>Deutschland</country> </placeName> </address> <idno type="URI">http://www.mendelssohn-online.com</idno> <availability> <licence target="http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/">Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0)</licence> </availability> </publicationStmt> <seriesStmt> <p>Maschinenlesbare Übertragung der vollständigen Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys (FMB-C)</p> </seriesStmt> <sourceDesc source="edition_template_manuscript" xml:id="sourceDesc_54384c64-1616-430c-bf09-97f32155fec9"> <msDesc> <msIdentifier> <country>Großbritannien</country> <settlement>Oxford</settlement> <institution key="RISM">GB-Ob</institution> <repository>Oxford, Bodleian Library</repository> <collection>Music Section</collection> <idno type="signatur">M.D.M. d. 39/101.</idno> </msIdentifier> <msContents> <msItem> <idno type="autograph">Autograph</idno> <title key="gb-1841-03-02-02" type="letter" xml:id="title_db639598-be43-4f75-a539-8d9be4661662">Paul Mendelssohn Bartholdy an Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig; Berlin, 2. 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Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept,  Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.</p></editorialDecl></encodingDesc> <profileDesc> <creation> <date cert="high" when="1841-03-02" xml:id="date_67cefa37-05d0-4c1d-abd4-78966c3873f1">2. 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Die Schrift war im Februar 1841 erschienen und »machte in ganz Deutschland einen überwältigenden Eindruck, weil sie in einer unzweifelhaft zeitgemäß erscheinenden Sache der in der Mehrheit der Bevölkerung herrschenden Stimmung treuen Ausdruck gab« (siehe Art. Johann Jacoby, in: ADB 13, 1881, S. 622). Jacoby trat darin für Presse- und Meinungsfreiheit, eine Verfassung für Preußen und eine Volksvertretung auf nationaler Ebene ein. Mendelssohns Exemplar der Schrift befindet sich in der Bodleian Library in Oxford (GB-Ob, Deneke 337).</note> in diesen Tagen erschienen, welche mit Recht das allgemeinste Aufsehen erregt, und, obgleich von der Polizei verboten,<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_bf0894c0-4b88-4a03-8078-537e0b1eaf18" xml:lang="de">von der Polizei verboten – Jacobys »Vier Fragen beantwortet von einem Ostpreußen« wurde am 13. März 1841 in Preußen verboten und er selbst wegen Hochverrats, Majestätsbeleidigung und Verspottung der Landesgesetze angeklagt. Nach langer Untersuchung wurde Jacoby am 20. Januar 1843 freigesprochen (siehe Art. Johann Jacoby, in: ADB 13, 1881, S. 623). </note> in tausenden von Exemplaren circulirt, und begierig aus einer Hand in die andre übergeht. Es ist zwar sehr möglich, daß Du sie dort schon gelesen hast, indessen möchte ich, daß Du sie jedenfalls läsest, und da schicke ich sie Dir denn hierbei, auf die Gefahr hin, Dir etwas schon Bekanntes aufzutischen.</p> <p>Ich finde den Styl, – den Inhalt, – die Würde und Kraft, welche darin herrschen, – die Ruhe und Mässigung bei festem Beharren auf dem Rechte, – außerordentlich schön. Mag daraus werden, was da wolle, so bedeutet die <hi rend="latintype">brochure</hi> einen Fortschritt der öffentlichen Meinung, welcher durch nichts hinwegzuläugnen ist, und welcher seine Früchte schon tragen wird. Diese <hi rend="latintype">brochure</hi> wäre vor einem Jahre, bei Lebzeiten des<persName xml:id="persName_3e1a6eb6-4970-4dff-b450-e89547efc951"> vorigen Königs<name key="PSN0113989" style="hidden" type="person">Preußen, Friedrich Wilhelm III. von (1770-1840)</name></persName>, – nicht möglich gewesen.<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_96b1cf79-4de0-4ada-82fd-bfe63cb0f6a2" xml:lang="de">vor einem Jahre, bei Lebzeiten des vorigen Königs, – nicht möglich gewesen – Nach dem Tod des preußischen Königs Friedrich Wilhelms III. hatte Friedrich Wilhelm IV. am 7. Juni 1840 den Thron bestiegen. Liberale und Demokraten hatten große Hoffnungen in den Regierungswechsel gesetzt, ebenso was die von Jacoby angesprochene Einlösung der von Friedrich Wilhelm III. 1810 zugesagten Verfassungsänderungen (u. a. die Einrichtung einer gesamtstaatlichen Volksrepräsentation) betraf.</note> Der darin herrschende Geist ist erst seitdem erwacht und er wird, so Gott will, nicht wieder einschlafen.</p> <p>Du wirst leicht erkennen, daß das Ding, weder von einem Gelehrten, noch von einem Dilettanten, sondern von einem Staatsmann, oder wenigstens unter dem unmittelbaren Einflusse <add place="above">eines solchen<name key="PSN0113263" resp="writers_hand" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Paul Hermann (1812-1874)</name></add> verfaßt ist. 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Ihm wird denn auch allgemein die <hi rend="latintype">brochure</hi> zugeschrieben, und da Du mich einmal aufgefordert hast, Dir über jenen Mann etwas Näheres mitzutheilen, so wird Dir das Werkchen in welchem er selbst, oder doch sein Geist spricht, interessant seyn!</p> <closer rend="right">Lebe wohl, lieber Bruder</closer> <signed rend="right">Dein <hi n="1" rend="underline">P</hi></signed> </div> <div n="2" type="act_of_writing" xml:id="div_c374125e-4e54-4c28-99ea-12992698a9d7"> <docAuthor key="PSN0113263" resp="author" style="hidden" xml:id="docAuthor_78921bea-65e6-4cc9-a9dc-8377cffff746">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Paul Hermann (1812-1874)</docAuthor> <docAuthor key="PSN0113263" resp="writer" style="hidden" xml:id="docAuthor_f3d7dad7-43a3-4ded-bbfe-b1e5ba73c8f7">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Paul Hermann (1812-1874)</docAuthor> <p style="paragraph_without_indent">Der Schachtisch geht heute nach <placeName xml:id="placeName_dcdc4d65-6ffa-41be-b835-6804ce5e4c59">dort<settlement key="STM0100116" style="hidden" type="locality">Leipzig</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName> ab, und wird Dir gefallen.</p> </div> </body> </text></TEI>