]> Brief: gb-1838-12-08-04

gb-1838-12-08-04

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Karl August Zwicker an Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig <lb></lb>Leipzig, 8. Dezember 1838 Als ein ganz unbekannter Mensch wage ich es Ihnen eine Bitte vorzutragen, und die Gewährung derselben der bekannten Güte und Humanität Ew. Wohlgeboren vertrauensvoll zu überlassen. Wohl kann ich mir denken, wie schwer es einem Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online (FMB-C) unbekannt unbekannt Zwicker, Karl August (1817-?)Zwicker, Karl August (1817-?) Transkription: FMB-C Edition: Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe (FMB-C). Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft. Humboldt-Universität zu Berlin
Am Kupfergraben 5 10117 Berlin Deutschland
http://www.mendelssohn-online.com Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0)

Maschinenlesbare Übertragung der vollständigen Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys (FMB-C)

Großbritannien Oxford GB-Ob Oxford, Bodleian Library Music Section M.D.M. d. 34/156. Autograph Karl August Zwicker an Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig; Leipzig, 8. Dezember 1838 Als ein ganz unbekannter Mensch wage ich es Ihnen eine Bitte vorzutragen, und die Gewährung derselben der bekannten Güte und Humanität Ew. Wohlgeboren vertrauensvoll zu überlassen. Wohl kann ich mir denken, wie schwer es einem

1 Doppelbl.: S. 1-4 Brieftext.

Karl August Zwicker

Karl August Zwicker, Vertonung des 8. Psalm. Karl August Zwicker, Ouvertüre.

Green Books

Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C: Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz Hin- und Gegenbriefe Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML-TEI-Basis.

Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy 1809-1847 in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept, Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.

8. Dezember 1838 Zwicker, Karl August (1817-?)counter-resetZwicker, Karl August (1817-?) LeipzigDeutschland Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847) LeipzigDeutschland deutsch
Zwicker, Karl August (1817-?) Zwicker, Karl August (1817-?) Wohlgeborner Herr.

Als ein ganz unbekannter Mensch wage ich es Ihnen eine Bitte vorzutragen, und die Gewährung derselben der bekannten Güte und Humanität Ew. Wohlgeboren vertrauensvoll zu überlassen. Wohl kann ich mir denken, wie schwer es einem Manne von Ihrem Rufe, der mit Geschäften überhäuft ist, sein mag den mannichfachen und wohl oft auch ganz unbegründeten Gesuchen zu begegnen, mit denen gewöhnlich Höherstehende, und zumal in der Kunst, verfolgt werden: allein ehe Ew. Wohlgeboren vielleicht eben durch jene Umstände bewogen, einen mir vielleicht nachtheiligen Entschluß fassen, bitte ich ergebenst, Sie wollen meinen Brief zu Ende lesen. Um Ihnen nicht länger ermüdend zu seyn, wage ich es gleich zur Sache überzugehen.

Anbei folgen nämlich 2 Stücke von meiner Arbeit: der 8te Psalm <name key="PSN0118747" style="hidden" type="author">Zwicker, Karl August (1817-?)</name><name key="CRT0112023" style="hidden" type="music">Der 8. Psalm</name>und eine Ouvertüre<name key="PSN0118747" style="hidden" type="author">Zwicker, Karl August (1817-?)</name><name key="CRT0112021" style="hidden" type="music">Ouvertüre</name>. Von letzterer sei mir erlaubt vorläufig zu bemerken, daß sich der frühere Musikdirector der EuterpeEuterpeLeipzigDeutschland, Herr MüllerMüller, Christian Gottlieb (1800-1863) beifällig darüber aussprach. Nun weiß ich zwar, daß Ew. Wohlgeboren einen ganz andern Maaßstab bei Beurtheilung derselben anlegen werden; allein wie auch Ihr Ausspruch lauten mag, Sie werden wenigstens nicht verkennen, daß dieselbe nicht mit der jetzigen Art Modekompositionen gemein hat; und eben dieß ermuthigt mich wiederum einigermaßen einem Manne mich zu nahen der als Pfleger der Werke der früheren Kunstperiode allgemein bekannt ist. Von dem Psalm kann ich weiter nichts sagen, als daß derselbe geschrieben worden ist, nachdem ich wegen der Abreise des Herrn Musikdirector Müller mir selbst überlassen war. So kann ich nur die Aufmerksamkeit Ew. Wohlgeboren auf die Stücke richten, wie sie mir erscheinen.

|2| Zuerst würde ich Ew. Wohlgeboren bitten den Chor No: 3 mit Fuge durchzusehen, der in einer von dem jetzigen Style höchst abweichenden Art geschrieben ist. Dann wünschte ich Sie möchten die Chöre No: 5 und 1 und die Arien No: 4 und No: 2 inniger Aufmerksamkeit würdig finden. Von letzterer muß ich freilich bemerken, daß der 2 Theil unreif und so gut als noch nicht geschrieben ist, allein ich war nicht in der gehörigen Stimmung sie zu vollenden und wollte sie auch nicht als Fragment vor Ihre Augen treten lassen.

Jetzt möchte ich noch einige Andeutungen über den Standpunct geben, von dem aus diese Stücke zu beurtheilen sind. Nöthig ist jedoch hierzu daß die Periode meines früheren Lebens mit in Betracht gezogen wird. In einer kleinen Stadt erzogen, schrieb man mir schon früh Talent in der Musik zu: allein der dürftige Grund hiervon war wohl mein schöner Sopran und meine Fertigkeit im Gesange. Von meinen damals bemittelten Eltern veranlaßt nahm ich Klavier-Unterricht und setzte ihn vom 9 1/4 bis 14 1/2 Jahre ununterbrochen fort; allein unter welcher Auspicion und mit welchem Erfolg, überlasse ich Ew. Wohlgeboren aus dem Folgenden zu eingner Beurtheilung. Nichts bekam ich bei meinem Unterricht in die Hände als alte Tänze und Sonaten: und nur einmal traten die Sonaten von Pleyl<name key="PSN0113903" style="hidden" type="author">Pleyel, Ignaz Joseph (1757–1831)</name><name key="CRT0112024" style="hidden" type="music">Sonaten</name> wie ein Sonnenblick in die Reiche jener Marterstücke ein. Ich besaß ein ausgezeichnetes Gedächtniß in der Musik, so daß ich mich erinner in meinem 9 1/2 Jahre ein 3 Seiten langes Stück fast ohne Anstoß nachgespielt zu haben: allein mein beschränkter Lehrer der Stadtmusikus statt dieß Talent zu beachten und zu pflegen, verpönte mir dasselbe streng, indem dieß dem vom Blattspielen schädlich sei. Ohne die geringste Fertigkeit mit einer erbärmlichen Applicatur und ohne alle Einsicht in die Musik (MozartMozart, Wolfgang Amadeus (1756-1791) und Andere kannte ich nur dem Namen nach, von BeethovenBeethoven, Ludwig van (1770-1827) und BachBach, Johann Sebastian (1685-1750) konnte ich nicht einmal dieß sagen) kam ich als Alumnus nach DresdenDresdenDeutschland an die KreuzschuleKreuzschuleDresdenDeutschland mit Ekel und Abscheu gegen alle Musik. Zum Beweis erzähle ich Folgendes. Als ich 1/2 Jahr in Dresden war, wurde eine große Aufführungwurde eine große Aufführung – Karl August Zwicker meint offensichtlich die Große geistliche Musik zum Besten der Armen am Dienstag, den 4. September 1832 in der Neustädter Kirche in Dresden, bei dem Johann Gottlieb Naumanns »Vater unser« und eine »Sinfonie C-Dur« Wolfgang Amadeus Mozarts aufgeführt wurden. Siehe Eberhard Steindorf, Die Konzerttätigkeit der Königlichen musikalischen Kapelle zu Dresden (1817-1858). Institutionsgeschichtliche Studie und Dokumentation (Dresdner Schriften zur Musik, Bd. 11), Baden-Baden 2018, S. 143. des Vater Unser<name key="PSN0113554" style="hidden" type="author">Naumann, Johann Gottlieb (1741–1801)</name><name key="CRT0112180" style="hidden" type="music">Vater unser</name> und der <choice resp="editor" source="autograph_edition_template" xml:id="choice_fb6175ca-23b2-4ef4-8f78-e0e183e8de6d"> <sic resp="writer">Esdur</sic> <corr resp="editor">C-Dur</corr> </choice> Sinfonie von Mozart<name key="PSN0113466" style="hidden" type="author">Mozart, Wolfgang Amadeus (1756–1791)</name><name key="CRT0110132" style="hidden" type="music">Sinfonie C-Dur</name>EsDur [recte C-Dur] Sinfonie von Mozart – Wolfgang Amadeus Mozart schrieb neun Sinfonien in C-Dur, so dass die Sinfonie nicht benannt werden kann. veranstaltet: und hier war ich so weit, daß ich nur gezwungen mitsang und während der Sinfonie aus dem Concertsaale entfloh. Da trat 1/2 Jahr später, Ostern 1833 für mich ein wichtiges Ereigniß ein. Zu dem gewöhnlichen großen Concert am Palmsonntag wurde die große 2chörige Passionsmusk von Seb. Bach<name key="PSN0109617" style="hidden" type="author">Bach, Johann Sebastian (1685–1750)</name><name key="CRT0107794" style="hidden" type="music">Matthäus-Passion BWV 244</name> gemacht und hier fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Hingerissen und begeistert ward ich von jenen ungeheuern und tiefen Harmonien, von den Combinationen des Genies und des tiefsten Verstandes, den ich bei den |3| Klängen des MozartschenMozart, Wolfgang Amadeus (1756-1791) Genius verstockt geblieben war. Mit einer unglaublichen Wuth stürzte ich mich auf Alles was ich von den Bach’sBach, Johann Sebastian (1685-1750) und später auch von BeethovenBeethoven, Ludwig van (1770-1827) und HändelHändel, Georg Friedrich (1685-1759) erlangen konnte. Der Cantor OttoOtto, Julius (1804-1877) gab mir unentgeldlich Generalbaß, und als ich nach vielen Bedrückungen von Seiten mehrerer Lehrer der Schule endlich dahin gebracht wurde aus Prima abzugehen unterstützte er meinen Entschluß mich der Musik zu widmen, und versprach mir zu diesem Behufe Empfehlungen nach Leipzig. Da blieb ich nach meinem Abgang Michaelis 1836 bis 1837 zu Hause, übte ich mich im Klavierspiel, wo ich doppelte Arbeit hatte, indem ich Alles frühere erst vergessen mußte, studirte einige alte Partituren von Emanuel BachBach, Carl Philipp Emanuel (1714-1788) und kam endlich Michaelis 1837 nach LeipzigLeipzigDeutschland mit Empfehlungen an PohlenzPohlenz, Christian August (1790-1843) versehen. Dieser versprach mir unaufgefordert Alles, was ich mir nur wünschte, allein mit leeren Versprechungen konnte mir nicht gedient sein, und obgleich ich während dieses Jahres mehrmals wieder bei ihm war, so habe ich doch bis heute noch nicht das Geringste durch ihn erhalten. Da hörte ich von einigen Bekannten etwas Näheres über den Musikdirector MüllerMüller, Christian Gottlieb (1800-1863) und beschloß ihm ein Stück meiner Arbeit zu übergeben. Er nahm mich freundlich auf, und als ich ihm meine bedrängten Umstände anzeigte, so gab er mir freiwillige und unentgeldliche Unterweisung in der Instrumentirung. Ihm verdanke ich viel, denn er arbeite so lange an mir bis ich mich endlich aus den starren Formen der Kunst, in denen ich mir durch langes Studium des Seb. Bach besonders gefiel, heraus gewunden hatte, und ich lernte Natürlich schreiben. Da schien sich auch jetzt das besondere Mißgeschick, welches von je alle meine Schritte verfolgt hat, noch einmal zu zeigen, und der Musikdirector Müller verließ Leipzig; ja ich konnte nicht einmal von ihm Abschied nehmen. Endlich beschloß ich den letzten aber entscheidenden Wurf zu wagen, und mich Ew. Wohlgeboren anzuvertrauen. So entstand dieser Brief, und der Erfolg meines Schrittes steht in Ihren Händen. Nun erlaube ich mir noch zu bemerken, daß ich einige Lieder<name key="PSN0118747" style="hidden" type="author">Zwicker, Karl August (1817-?)</name><name key="CRT0112022" style="hidden" type="music">Lieder</name> geschrieben, die dem MusikDirector Müller sehr gefielen, und manches Andere was ich Ew. Wohlgeboren später vorlegen würde. Auch füge ich noch hinzu, daß ich sehr wenig, ich kann fast sagen gar keine Musik gehört habe, indem ich in DresdenDresdenDeutschland, als ich noch das Geld hierzu gehabt hätte, als Alumnus keine Gelegenheit und keine Zeit hatte und nur Beethovens <hi rend="latintype">Fidelio</hi><name key="PSN0109771" style="hidden" type="author">Beethoven, Ludwig van (1770–1827)</name><name key="CRT0108010" style="hidden" type="music">Fidelio op. 72</name>, den ich durch Zufall einigemale hörte, macht hiervon eine Ausnahme. Hier bin ich nur in sehr wenig Opern |4| gewesen, und was die Hauptsache ist, neuere Partituren habe ich kaum gesehen, und von bloßer Instrumentalmusik gilt dieß nicht einmal. So habe ich dann Ew. Wohlgeboren meine ganzen Verhältnisse dargelegt. Sie können alles für mich thun. Ob der gemachte Schritt meinen Erwartungen entsprechen wird weiß ich nicht, aber hoffen will ich es wenigstens und nur noch hinzufügen, daß Sie unter allen Ihren zahlreichen Verehrern keinen finden werden der mit mehr Innigkeit und Dankbarkeit erfüllt wäre gegen Sie als

Ew. Wohlgeboren ergebenster Karl August Zwicker stud.

wohnhaft: Ritterstraße 699.

Leipzig: den 8ten Decbr. 1838.
            Wohlgeborner Herr.
Als ein ganz unbekannter Mensch wage ich es Ihnen eine Bitte vorzutragen, und die Gewährung derselben der bekannten Güte und Humanität Ew. Wohlgeboren vertrauensvoll zu überlassen. Wohl kann ich mir denken, wie schwer es einem Manne von Ihrem Rufe, der mit Geschäften überhäuft ist, sein mag den mannichfachen und wohl oft auch ganz unbegründeten Gesuchen zu begegnen, mit denen gewöhnlich Höherstehende, und zumal in der Kunst, verfolgt werden: allein ehe Ew. Wohlgeboren vielleicht eben durch jene Umstände bewogen, einen mir vielleicht nachtheiligen Entschluß fassen, bitte ich ergebenst, Sie wollen meinen Brief zu Ende lesen. Um Ihnen nicht länger ermüdend zu seyn, wage ich es gleich zur Sache überzugehen.
Anbei folgen nämlich 2 Stücke von meiner Arbeit: der 8te Psalm und eine Ouvertüre. Von letzterer sei mir erlaubt vorläufig zu bemerken, daß sich der frühere Musikdirector der Euterpe, Herr Müller beifällig darüber aussprach. Nun weiß ich zwar, daß Ew. Wohlgeboren einen ganz andern Maaßstab bei Beurtheilung derselben anlegen werden; allein wie auch Ihr Ausspruch lauten mag, Sie werden wenigstens nicht verkennen, daß dieselbe nicht mit der jetzigen Art Modekompositionen gemein hat; und eben dieß ermuthigt mich wiederum einigermaßen einem Manne mich zu nahen der als Pfleger der Werke der früheren Kunstperiode allgemein bekannt ist. Von dem Psalm kann ich weiter nichts sagen, als daß derselbe geschrieben worden ist, nachdem ich wegen der Abreise des Herrn Musikdirector Müller mir selbst überlassen war. So kann ich nur die Aufmerksamkeit Ew. Wohlgeboren auf die Stücke richten, wie sie mir erscheinen.
 Zuerst würde ich Ew. Wohlgeboren bitten den Chor No: 3 mit Fuge durchzusehen, der in einer von dem jetzigen Style höchst abweichenden Art geschrieben ist. Dann wünschte ich Sie möchten die Chöre No: 5 und 1 und die Arien No: 4 und No: 2 inniger Aufmerksamkeit würdig finden. Von letzterer muß ich freilich bemerken, daß der 2 Theil unreif und so gut als noch nicht geschrieben ist, allein ich war nicht in der gehörigen Stimmung sie zu vollenden und wollte sie auch nicht als Fragment vor Ihre Augen treten lassen.
Jetzt möchte ich noch einige Andeutungen über den Standpunct geben, von dem aus diese Stücke zu beurtheilen sind. Nöthig ist jedoch hierzu daß die Periode meines früheren Lebens mit in Betracht gezogen wird. In einer kleinen Stadt erzogen, schrieb man mir schon früh Talent in der Musik zu: allein der dürftige Grund hiervon war wohl mein schöner Sopran und meine Fertigkeit im Gesange. Von meinen damals bemittelten Eltern veranlaßt nahm ich Klavier-Unterricht und setzte ihn vom 9 1/4 bis 14 1/2 Jahre ununterbrochen fort; allein unter welcher Auspicion und mit welchem Erfolg, überlasse ich Ew. Wohlgeboren aus dem Folgenden zu eingner Beurtheilung. Nichts bekam ich bei meinem Unterricht in die Hände als alte Tänze und Sonaten: und nur einmal traten die Sonaten von Pleyl wie ein Sonnenblick in die Reiche jener Marterstücke ein. Ich besaß ein ausgezeichnetes Gedächtniß in der Musik, so daß ich mich erinner in meinem 9 1/2 Jahre ein 3 Seiten langes Stück fast ohne Anstoß nachgespielt zu haben: allein mein beschränkter Lehrer der Stadtmusikus statt dieß Talent zu beachten und zu pflegen, verpönte mir dasselbe streng, indem dieß dem vom Blattspielen schädlich sei. Ohne die geringste Fertigkeit mit einer erbärmlichen Applicatur und ohne alle Einsicht in die Musik (Mozart und Andere kannte ich nur dem Namen nach, von Beethoven und Bach konnte ich nicht einmal dieß sagen) kam ich als Alumnus nach Dresden an die Kreuzschule mit Ekel und Abscheu gegen alle Musik. Zum Beweis erzähle ich Folgendes. Als ich 1/2 Jahr in Dresden war, wurde eine große Aufführung des Vater Unser und der Sinfonie von Mozart veranstaltet: und hier war ich so weit, daß ich nur gezwungen mitsang und während der Sinfonie aus dem Concertsaale entfloh. Da trat 1/2 Jahr später, Ostern 1833 für mich ein wichtiges Ereigniß ein. Zu dem gewöhnlichen großen Concert am Palmsonntag wurde die große 2chörige Passionsmusk von Seb. Bach gemacht und hier fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Hingerissen und begeistert ward ich von jenen ungeheuern und tiefen Harmonien, von den Combinationen des Genies und des tiefsten Verstandes, den ich bei den Klängen des Mozartschen Genius verstockt geblieben war. Mit einer unglaublichen Wuth stürzte ich mich auf Alles was ich von den Bach’s und später auch von Beethoven und Händel erlangen konnte. Der Cantor Otto gab mir unentgeldlich Generalbaß, und als ich nach vielen Bedrückungen von Seiten mehrerer Lehrer der Schule endlich dahin gebracht wurde aus Prima abzugehen unterstützte er meinen Entschluß mich der Musik zu widmen, und versprach mir zu diesem Behufe Empfehlungen nach Leipzig. Da blieb ich nach meinem Abgang Michaelis 1836 bis 1837 zu Hause, übte ich mich im Klavierspiel, wo ich doppelte Arbeit hatte, indem ich Alles frühere erst vergessen mußte, studirte einige alte Partituren von Emanuel Bach und kam endlich Michaelis 1837 nach Leipzig mit Empfehlungen an Pohlenz versehen. Dieser versprach mir unaufgefordert Alles, was ich mir nur wünschte, allein mit leeren Versprechungen konnte mir nicht gedient sein, und obgleich ich während dieses Jahres mehrmals wieder bei ihm war, so habe ich doch bis heute noch nicht das Geringste durch ihn erhalten. Da hörte ich von einigen Bekannten etwas Näheres über den Musikdirector Müller und beschloß ihm ein Stück meiner Arbeit zu übergeben. Er nahm mich freundlich auf, und als ich ihm meine bedrängten Umstände anzeigte, so gab er mir freiwillige und unentgeldliche Unterweisung in der Instrumentirung. Ihm verdanke ich viel, denn er arbeite so lange an mir bis ich mich endlich aus den starren Formen der Kunst, in denen ich mir durch langes Studium des Seb. Bach besonders gefiel, heraus gewunden hatte, und ich lernte Natürlich schreiben. Da schien sich auch jetzt das besondere Mißgeschick, welches von je alle meine Schritte verfolgt hat, noch einmal zu zeigen, und der Musikdirector Müller verließ Leipzig; ja ich konnte nicht einmal von ihm Abschied nehmen. Endlich beschloß ich den letzten aber entscheidenden Wurf zu wagen, und mich Ew. Wohlgeboren anzuvertrauen. So entstand dieser Brief, und der Erfolg meines Schrittes steht in Ihren Händen. Nun erlaube ich mir noch zu bemerken, daß ich einige Lieder geschrieben, die dem MusikDirector Müller sehr gefielen, und manches Andere was ich Ew. Wohlgeboren später vorlegen würde. Auch füge ich noch hinzu, daß ich sehr wenig, ich kann fast sagen gar keine Musik gehört habe, indem ich in Dresden, als ich noch das Geld hierzu gehabt hätte, als Alumnus keine Gelegenheit und keine Zeit hatte und nur Beethovens Fidelio, den ich durch Zufall einigemale hörte, macht hiervon eine Ausnahme. Hier bin ich nur in sehr wenig Opern gewesen, und was die Hauptsache ist, neuere Partituren habe ich kaum gesehen, und von bloßer Instrumentalmusik gilt dieß nicht einmal. So habe ich dann Ew. Wohlgeboren meine ganzen Verhältnisse dargelegt. Sie können alles für mich thun. Ob der gemachte Schritt meinen Erwartungen entsprechen wird weiß ich nicht, aber hoffen will ich es wenigstens und nur noch hinzufügen, daß Sie unter allen Ihren zahlreichen Verehrern keinen finden werden der mit mehr Innigkeit und Dankbarkeit erfüllt wäre gegen Sie als
Ew. Wohlgeboren ergebenster Karl August Zwicker stud.
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Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept,  Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.</p></editorialDecl></encodingDesc> <profileDesc> <creation> <date cert="high" when="1838-12-08" xml:id="date_ecfebed1-ad65-46ac-94c1-e533c13f0275">8. Dezember 1838</date></creation> <correspDesc> <correspAction type="sent"> <persName key="PSN0118747" resp="author" xml:id="persName_8eeeb46d-9c6d-49c1-8c6d-9ad74137a188">Zwicker, Karl August (1817-?)</persName><note>counter-reset</note><persName key="PSN0118747" resp="writer">Zwicker, Karl August (1817-?)</persName> <placeName type="writing_place" xml:id="placeName_e63c8f0f-620e-44ad-85ff-40926fd7e32a"> <settlement key="STM0100116">Leipzig</settlement><country>Deutschland</country> </placeName> </correspAction> <correspAction type="received"> <persName key="PSN0000001" resp="receiver" xml:id="persName_b18e7b45-10e0-4ee8-a02f-a5305650cf94">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName> <placeName type="receiving_place" xml:id="placeName_8985317c-8c71-4374-913b-b62e007259cc"> <settlement key="STM0100116">Leipzig</settlement><country>Deutschland</country> </placeName> </correspAction> </correspDesc> <langUsage> <language ident="de">deutsch</language> </langUsage> </profileDesc> <revisionDesc status="draft">  </revisionDesc> </teiHeader> <text type="letter"> <body> <div n="1" type="act_of_writing" xml:id="div_a2d5e015-f39b-4636-9afe-e00ce569c319"> <docAuthor key="PSN0118747" resp="author" style="hidden">Zwicker, Karl August (1817-?)</docAuthor> <docAuthor key="PSN0118747" resp="writer" style="hidden">Zwicker, Karl August (1817-?)</docAuthor> <salute rend="left">Wohlgeborner Herr.</salute> <p style="paragraph_without_indent">Als ein ganz unbekannter Mensch wage ich es Ihnen eine Bitte vorzutragen, und die Gewährung derselben der bekannten Güte und Humanität Ew. Wohlgeboren vertrauensvoll zu überlassen. Wohl kann ich mir denken, wie schwer es einem Manne von Ihrem Rufe, der mit Geschäften überhäuft ist, sein mag den mannichfachen und wohl oft auch ganz unbegründeten Gesuchen zu begegnen, mit denen gewöhnlich Höherstehende, und zumal in der Kunst, verfolgt werden: allein ehe Ew. Wohlgeboren vielleicht eben durch jene Umstände bewogen, einen mir vielleicht nachtheiligen Entschluß fassen, bitte ich ergebenst, Sie wollen meinen Brief zu Ende lesen. Um Ihnen nicht länger ermüdend zu seyn, wage ich es gleich zur Sache überzugehen.</p> <p>Anbei folgen nämlich 2 Stücke von meiner Arbeit: der <title xml:id="title_52b5a1b1-bb9e-4d37-8774-ce9b8f458a66">8te Psalm <name key="PSN0118747" style="hidden" type="author">Zwicker, Karl August (1817-?)</name><name key="CRT0112023" style="hidden" type="music">Der 8. Psalm</name></title>und eine <title xml:id="title_34b07df2-87c1-4cfe-ade8-e52d80f21273">Ouvertüre<name key="PSN0118747" style="hidden" type="author">Zwicker, Karl August (1817-?)</name><name key="CRT0112021" style="hidden" type="music">Ouvertüre</name></title>. Von letzterer sei mir erlaubt vorläufig zu bemerken, daß sich der frühere Musikdirector der <placeName xml:id="placeName_5f032eee-2321-48dd-9aba-1582b933fd8d">Euterpe<name key="NST0100522" style="hidden" subtype="" type="institution">Euterpe</name><settlement key="STM0100116" style="hidden" type="locality">Leipzig</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName>, Herr <persName xml:id="persName_8d62ef39-c66c-49d4-97bd-69ea142b25af">Müller<name key="PSN0113491" style="hidden" type="person">Müller, Christian Gottlieb (1800-1863)</name></persName> beifällig darüber aussprach. Nun weiß ich zwar, daß Ew. Wohlgeboren einen ganz andern Maaßstab bei Beurtheilung derselben anlegen werden; allein wie auch Ihr Ausspruch lauten mag, Sie werden wenigstens nicht verkennen, daß die<unclear reason="covering" resp="UT">s</unclear>elbe nicht mit der jetzigen Art Modekompositionen gemein hat; und eben dieß ermuthigt mich wiederum einigermaßen einem Manne mich zu nahen der als Pfleger der Werke der früheren Kunstperiode allgemein bekannt ist. Von dem Psalm kann ich weiter nichts sagen, als daß derselbe geschrieben worden ist, nachdem ich wegen der Abreise des Herrn Musikdirector Müller mir selbst überlassen war. So kann ich nur die Aufmerksamkeit Ew. Wohlgeboren auf die Stücke richten, wie sie mir erscheinen. </p> <p><seg type="pagebreak"> |2| <pb n="2" type="pagebreak"></pb></seg>Zuerst würde ich Ew. Wohlgeboren bitten den Chor No: 3 mit Fuge durchzusehen, der in einer von dem jetzigen Style höchst abweichenden Art geschrieben ist. Dann wünschte ich Sie möchten die Chöre No: 5 und 1 und die Arien No: 4 und No: 2 inniger Aufmerksamkeit würdig finden. Von letzterer muß ich freilich bemerken, daß der 2 Theil unreif und so gut als noch nicht geschrieben ist, allein ich war nicht in der gehörigen Stimmung sie zu vollenden und wollte sie auch nicht als Fragment vor Ihre Augen treten lassen.</p> <p>Jetzt möchte ich noch einige Andeutungen über den Standpunct geben, von dem aus diese Stücke zu beurtheilen sind. Nöthig ist jedoch hierzu daß die Periode meines früheren Lebens mit in Betracht gezogen wird. In einer kleinen Stadt erzogen, schrieb man mir schon früh Talent in der Musik zu: allein der dürftige Grund hiervon war wohl mein schöner Sopran und meine Fertigkeit im Gesange. Von meinen damals bemittelten Eltern veranlaßt nahm ich Klavier-Unterricht und setzte ihn vom 9 <formula rend="fraction_slash"><hi rend="supslash">1</hi><hi rend="barslash">/</hi><hi rend="subslash">4</hi></formula> bis 14 <formula rend="fraction_slash"><hi rend="supslash">1</hi><hi rend="barslash">/</hi><hi rend="subslash">2</hi></formula> Jahre ununterbrochen fort; allein unter welcher Auspicion und mit welchem Erfolg, überlasse ich Ew. Wohlgeboren aus dem Folgenden zu eingner Beurtheilung. Nichts bekam ich bei meinem Unterricht in die Hände als alte Tänze und Sonaten: und nur einmal traten die <title xml:id="title_20590000-ed21-4aa2-a319-919dd58824a0">Sonaten von Pleyl<name key="PSN0113903" style="hidden" type="author">Pleyel, Ignaz Joseph (1757–1831)</name><name key="CRT0112024" style="hidden" type="music">Sonaten</name></title> wie ein Sonnenblick in die Reiche jener Marterstücke ein. Ich besaß ein ausgezeichnetes Gedächtniß in der Musik, so daß ich mich erinner in meinem 9 <formula rend="fraction_slash"><hi rend="supslash">1</hi><hi rend="barslash">/</hi><hi rend="subslash">2</hi></formula> Jahre ein 3 Seiten langes Stück fast ohne Anstoß nachgespielt zu haben: allein mein beschränkter Lehrer der Stadtmusikus statt dieß Talent zu beachten und zu pflegen, verpönte mir dasselbe streng, indem dieß dem vom Blattspielen schädlich sei. Ohne die geringste Fertigkeit mit einer erbärmlichen Applicatur und ohne alle Einsicht in die Musik (<persName xml:id="persName_cf6a3851-b155-4e16-a3bf-4eb036f82429">Mozart<name key="PSN0113466" style="hidden" type="person">Mozart, Wolfgang Amadeus (1756-1791)</name></persName> und Andere kannte ich nur dem Namen nach, von <persName xml:id="persName_5d523dca-dde3-4983-afa8-61681e17fad2">Beethoven<name key="PSN0109771" style="hidden" type="person">Beethoven, Ludwig van (1770-1827)</name></persName> und <persName xml:id="persName_4df7cfea-851a-4a27-abe0-7b660a581085">Bach<name key="PSN0109617" style="hidden" type="person">Bach, Johann Sebastian (1685-1750)</name></persName> konnte ich nicht einmal dieß sagen) kam ich als Alumnus nach <placeName xml:id="placeName_5275c02f-a2b1-4cef-aecc-64d5d1913ef6">Dresden<settlement key="STM0100142" style="hidden" type="locality">Dresden</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName> an die <placeName xml:id="placeName_740b99c1-4256-44df-adfb-ca96a467a341">Kreuzschule<name key="NST0103466" style="hidden" subtype="" type="institution">Kreuzschule</name><settlement key="STM0100142" style="hidden" type="locality">Dresden</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName> mit Ekel und Abscheu gegen alle Musik. Zum Beweis erzähle ich Folgendes. Als ich <formula rend="fraction_slash"><hi rend="supslash">1</hi><hi rend="barslash">/</hi><hi rend="subslash">2</hi></formula> Jahr in Dresden war, wurde eine große Aufführung<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_d2e2c7ed-007c-40f9-ac5e-44334816f737" xml:lang="de">wurde eine große Aufführung – Karl August Zwicker meint offensichtlich die Große geistliche Musik zum Besten der Armen am Dienstag, den 4. September 1832 in der Neustädter Kirche in Dresden, bei dem Johann Gottlieb Naumanns »Vater unser« und eine »Sinfonie C-Dur« Wolfgang Amadeus Mozarts aufgeführt wurden. Siehe Eberhard Steindorf, Die Konzerttätigkeit der Königlichen musikalischen Kapelle zu Dresden (1817-1858). Institutionsgeschichtliche Studie und Dokumentation (Dresdner Schriften zur Musik, Bd. 11), Baden-Baden 2018, S. 143. </note> des <title xml:id="title_60e5583a-c5ae-4cdb-a0b6-5a1b3ae93990">Vater Unser<name key="PSN0113554" style="hidden" type="author">Naumann, Johann Gottlieb (1741–1801)</name><name key="CRT0112180" style="hidden" type="music">Vater unser</name></title> und der <title xml:id="title_6bc56b54-1300-4a8f-bcd7-5f3ec07326db"><choice resp="editor" source="autograph_edition_template" xml:id="choice_fb6175ca-23b2-4ef4-8f78-e0e183e8de6d"> <sic resp="writer">Esdur</sic> <corr resp="editor">C-Dur</corr> </choice> Sinfonie von Mozart<name key="PSN0113466" style="hidden" type="author">Mozart, Wolfgang Amadeus (1756–1791)</name><name key="CRT0110132" style="hidden" type="music">Sinfonie C-Dur</name></title><note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_8ffb1b49-d271-4817-8c26-84165a4817a2" xml:lang="de">EsDur [recte C-Dur] Sinfonie von Mozart – Wolfgang Amadeus Mozart schrieb neun Sinfonien in C-Dur, so dass die Sinfonie nicht benannt werden kann.</note> veranstaltet: und hier war ich so weit, daß ich nur gezwungen mitsang und während der Sinfonie aus dem Concertsaale entfloh. Da trat <formula rend="fraction_slash"><hi rend="supslash">1</hi><hi rend="barslash">/</hi><hi rend="subslash">2</hi></formula> Jahr später, <date cert="high" when="1833-04-02" xml:id="date_f5269d60-54ad-4e6a-827d-a0ade32a8f12">Ostern 1833</date> für mich ein wichtiges Ereigniß ein. Zu dem gewöhnlichen großen Concert am Palmsonntag wurde die große <title xml:id="title_3ede4109-4b56-4c2c-b0b4-42e9e773e9c5">2chörige Passionsmusk von Seb. Bach<name key="PSN0109617" style="hidden" type="author">Bach, Johann Sebastian (1685–1750)</name><name key="CRT0107794" style="hidden" type="music">Matthäus-Passion BWV 244</name></title> gemacht und hier fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Hingerissen und begeistert ward ich von jenen ungeheuern und tiefen Harmonien, von den Combinationen des Genies und des tiefsten Verstandes, den ich bei den<seg type="pagebreak"> |3| <pb n="3" type="pagebreak"></pb></seg>Klängen des <persName xml:id="persName_ca59a924-1723-4a7c-9ab6-a0adafa82c96">Mozartschen<name key="PSN0113466" style="hidden" type="person">Mozart, Wolfgang Amadeus (1756-1791)</name></persName> Genius verstockt geblieben war. Mit einer unglaublichen Wuth stürzte ich mich auf Alles was ich von den <persName xml:id="persName_d91d32be-dfd0-4555-88a6-472ef53cd2d7">Bach’s<name key="PSN0109617" style="hidden" type="person">Bach, Johann Sebastian (1685-1750)</name></persName> und später auch von <persName xml:id="persName_6f5937b8-956e-4fec-a646-22950c681e92">Beethoven<name key="PSN0109771" style="hidden" type="person">Beethoven, Ludwig van (1770-1827)</name></persName> und <persName xml:id="persName_70cffc7e-ffca-4634-8c82-7350de7e8265">Händel<name key="PSN0111693" style="hidden" type="person">Händel, Georg Friedrich (1685-1759)</name></persName> erlangen konnte. Der Cantor <persName xml:id="persName_ca528fd8-3011-4c0b-923c-9117a4b8d1b9">Otto<name key="PSN0119340" style="hidden" type="person">Otto, Julius (1804-1877)</name></persName> gab mir unentgeldlich Generalbaß, und als ich nach vielen Bedrückungen von Seiten mehrerer Lehrer der Schule endlich dahin gebracht wurde aus Prima abzugehen unterstützte er meinen Entschluß mich der Musik zu widmen, und versprach mir zu diesem Behufe Empfehlungen nach Leipzig. Da blieb ich nach meinem Abgang Michaelis 1836 bis 1837 zu Hause, übte ich mich im Klavierspiel, wo ich doppelte Arbeit hatte, indem ich Alles frühere erst vergessen mußte, studirte einige alte Partituren von <persName xml:id="persName_138f1d3d-8a7e-48bd-84fd-a515ebc1d2bf">Emanuel Bach<name key="PSN0109609" style="hidden" type="person">Bach, Carl Philipp Emanuel (1714-1788)</name></persName> und kam endlich <date cert="high" when="1837-09-29" xml:id="date_9984969d-331f-4763-ae6f-7124b3bfe39b">Michaelis 1837 </date>nach <placeName xml:id="placeName_86eeaf83-df9e-44ec-afb6-d2bd5fdd8b0d">Leipzig<settlement key="STM0100116" style="hidden" type="locality">Leipzig</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName> mit Empfehlungen an <persName xml:id="persName_0c74e4f0-bbf6-464d-a1e3-86bce5b966e6">Pohlenz<name key="PSN0113927" style="hidden" type="person">Pohlenz, Christian August (1790-1843)</name></persName> versehen. Dieser versprach mir unaufgefordert Alles, was ich mir nur wünschte, allein mit leeren Versprechungen konnte mir nicht gedient sein, und obgleich ich während dieses Jahres mehrmals wieder bei ihm war, so habe ich doch bis heute noch nicht das Geringste durch ihn erhalten. Da hörte ich von einigen Bekannten etwas Näheres über den Musikdirector <persName xml:id="persName_e198d42d-83c1-495d-b39b-62bec5fb9885">Müller<name key="PSN0113491" style="hidden" type="person">Müller, Christian Gottlieb (1800-1863)</name></persName> und beschloß ihm ein Stück meiner Arbeit zu übergeben. Er nahm mich freundlich auf, und als ich ihm meine bedrängten Umstände anzeigte, so gab er mir freiwillige und unentgeldliche Unterweisung in der Instrumentirung. Ihm verdanke ich viel, denn er arbeite so lange an mir bis ich mich endlich aus den starren Formen der Kunst, in denen ich mir durch langes Studium des Seb. Bach besonders gefiel, heraus gewunden hatte, und ich lernte Natürlich schreiben. Da schien sich auch jetzt das besondere Mißgeschick, welches von je alle meine Schritte verfolgt hat, noch einmal zu zeigen, und der Musikdirector Müller verließ Leipzig; ja ich konnte nicht einmal von ihm Abschied nehmen. Endlich beschloß ich den letzten aber entscheidenden Wurf zu wagen, und mich Ew. Wohlgeboren anzuvertrauen. So entstand dieser Brief, und der Erfolg meines Schrittes steht in Ihren Händen. Nun erlaube ich mir noch zu bemerken, daß ich <title xml:id="title_384c78f5-d3b7-426c-9c64-ff76dc2d98be">einige Lieder<name key="PSN0118747" style="hidden" type="author">Zwicker, Karl August (1817-?)</name><name key="CRT0112022" style="hidden" type="music">Lieder</name></title> geschrieben, die dem MusikDirector Müller sehr gefielen, und manches Andere was ich Ew. Wohlgeboren später vorlegen würde. Auch füge ich noch hinzu, daß ich sehr wenig, ich kann fast sagen gar keine Musik gehört habe, indem ich in <placeName xml:id="placeName_5a7aa427-1656-4b2d-b955-b6aeedebd9f1">Dresden<settlement key="STM0100142" style="hidden" type="locality">Dresden</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName>, als ich noch das Geld hierzu gehabt hätte, als Alumnus keine Gelegenheit und keine Zeit hatte und nur <title xml:id="title_50aeaa8a-5b7b-4295-97ed-540cf0694a71">Beethovens <hi rend="latintype">Fidelio</hi><name key="PSN0109771" style="hidden" type="author">Beethoven, Ludwig van (1770–1827)</name><name key="CRT0108010" style="hidden" type="music">Fidelio op. 72</name></title>, den ich durch Zufall einigemale hörte, macht hiervon eine Ausnahme. Hier bin ich nur in sehr wenig Opern<seg type="pagebreak"> |4| <pb n="4" type="pagebreak"></pb></seg>gewesen, und was die Hauptsache ist, neuere Partituren habe ich kaum gesehen, und von bloßer Instrumentalmusik gilt dieß nicht einmal. So habe ich dann Ew. Wohlgeboren meine ganzen Verhältnisse dargelegt. Sie können alles für mich thun. Ob der gemachte Schritt meinen Erwartungen entsprechen wird weiß ich nicht, aber hoffen will ich es wenigstens und nur noch hinzufügen, daß Sie unter allen Ihren zahlreichen Verehrern keinen finden werden der mit mehr Innigkeit und Dankbarkeit erfüllt wäre gegen Sie als </p> <closer rend="center">Ew. Wohlgeboren</closer> <closer rend="right">ergebenster</closer> <signed rend="right">Karl August Zwicker stud.</signed> </div> <div type="sender_address" xml:id="div_e6530d61-ee43-47e8-beed-33fa722a000a"> <p style="paragraph_right"> <address> <addrLine>wohnhaft: Ritterstraße 699.</addrLine> </address> </p> </div> <dateline rend="left">Leipzig:</dateline> <dateline rend="left">den 8ten <hi rend="latintype">Decbr</hi>. 1838.</dateline> </body> </text></TEI>