gb-1834-12-07-01
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Leipzig, 7. Dezember 1834
Maschinenlesbare Übertragung der vollständigen Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys (FMB-C)
2 Doppelbl.: S. 1-8 Brieftext.
Friedrich Rochlitz
Green Books
Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C: Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz Hin- und Gegenbriefe Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML-TEI-Basis.
Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy 1809-1847 in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept, Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.
Ich beantworte Ihr werthes
Sie können über das, was Sie in
Es sind nicht weniger als vier und dreyßig Jahre, daß der damalige Director des hiesigen Concerts, Hr.
Tod Jesu
Sieben Worte
Dies Alles mußte ich voraussenden, nicht nur um vor Ihnen gerechtfertigt zu seyn, sondern auch um fortfahren zu können, wie ich nun thue.
Im Sommer 1831 oder 32 (ganz bestimmt erinnere ich mich nicht) reisete Herr Kapellmeister
möglichsein konnte, anders zu denken, als: Sp. hat aus irgend einem Grunde, den du mit der Zeit ja wohl erfahren wirst, sich für das Nein entschieden und dies dir nicht deutlicher, als handelnd und dann schweigend, erklären wollen. Also dachte ich wirklich; die Sache war mir abgethan und wurde bald vergessen.
Inzwischen hatte ich Ihre Compositionen nach und nach gehört, gelesen und wieder gehört. Neugierde trieb mich zuerst zu ihnen und Umstände verwehrten diese Neugierde: Ihr seel. pp die ganz besondere, ganz originelle ein niemals ein.
Inzwischen hatte ich drey Jahre hindurch täglich – um nur das Entscheidenste anzuführen – die einzige geliebte Tochter, 31 jährige Wittwe und Mutter von sechs liebenswürdigen Kindern, an Auszehrung hinsterben, unmittelbar darauf, ja im Beginn schon zu derselben Zeit, meine geliebte Frau der Tochter in derselben Krankheit, dann im Todte folgen sehn müssen. Von den Wirkungen dieser Lebenserfahrungen gehört nur eine in diesen Zusammenhang. Ich lernte mich noch viel mehr als sonst an den halten, welchen jenes Gedicht besingt. Das erneuerte Studium der Documente zur Geschichte seiner selbst, der mit ihm verbundenen Personen, und seines Volks in jener über dasselbe entscheidenden Zeit, wurde meine Lieblingsbeschäftigung. Hierdurch wurde in alle dem Vieles mir neu, weiter umgreifend, alles deutlicher, lebendiger, befestigter – und hoffentlich in alle Ewigkeit; ich sahe auch an meinen Entschlafenden und fühlte an mir selbst, was alles Jenes uns Menschen werden könne. So mußte sich nothwendig der Wunsch erzeugen, was in mir lebe und wirke auch Andern wenigstens anzudeuten, damit es – verschmäheten sie es nicht – auch in ihnen lebendig und wirksam werden könnte. Wie das erreichen? Ich bin kein Prediger; ich bin kein Erzieher.
Da fiel mir jenes Gedicht, es fielen mir die offenbaren Wirkungen desselben wenn auch in so unvollkommener Gestalt, verbunden mit seiner Musik, wenn
Hier habe ich nicht weiter zu erzählen, sondern nur ein Irthum zu berichtigen, der Ihnen aus Mangel an Zeit in Cassel hat beygehen müssen. Sie glauben, das Gedicht, wie Sie es bei Spohr gesehen, sey, verglichen mit dem, in Ihrer Hand, im Wesentlichen dasselbe und nur in Nebendingen verändert. Gerade umgekehrt: im Wesentlichen ist es anders und nur in Nebendingen dasselbe. Wenigstens sind für mich Nebendinge: Plan und Folge des Ganzen, wiefern es historisch ist – unerwähnt, daß diese ja, als in den heiligen Schriften gegeben, nie einer Abänderung unterliegen dürften; Vertheilung der Hauptscenen – mit welchen es übrigens derselbige Fall; und dgl. mehr. Auch die Anlage der Charaktere mußte bleiben. Aber fast Alles, was tiefer liegt, ist in Ihrem Manuscript anders und – warum soll ich nicht selbst sagen, was offen daliegt? – ist weit besser. Vergleichen Sie es nur genau mit dem, was Spohr und Schicht haben.
Jetzt endlich zu meiner Meynung und zu meinem Entschluß, die Sie baldigst zu erfahren wünschen! Ich knüpfe, was ich zu sagen habe, unmittelbar
Jenes Manuscript ist und bleibt Ihr Eigenthum. Sie geben es niemals in eine andere Hand, als in die meinige, im Fall Sie sich von seiner Composition zurückziehen. – Es ist nicht im Geringsten mein Wunsch, unsern werthen Spohr an der Vollendung und Verbreitung seiner Arbeit zu hindern; in dieser Vollendung zu stören. Nicht der entfernteste Zweifel würde mich, auch wenn Sie sich über sein Werk nicht so sehr günstig geäußert hätten, jemals angewandelt haben, ob er auch Etwas liefern werde, das Jedermann, wie Ihnen und mir, Erhebung, edle Richtung, würdige Freude bringen müsse.
Aber eben so wenig werde ich Ihnen jemals, außer, wenn Sie es ausdrücklich und beharrlich verlangen, das mir geschenkte Wort zurückgeben. Warum sollten denn auch zwey Meister nicht mit Werken, im Allgemeinen gleichen Inhalts, neben einander auftreten und dann neben einander bestehen können, schrieben doch Messias, dieser, seine
könntenBeyde nicht anders: Sie
müßtensehr verschiedene Werke liefern, wenn Sie auch Beyde ganz den denselben Text bearbeiteten; was ja doch aber keinesweges der Fall ist. – Und was hindert Sie Beyde dann, beym ersten Hervortreten Gang und Lage der Sache aufrichtigst bekannt zu machen, um falschen Voraussetzungen und Mißurtheilen selbst beym gemischten Publicum und seinen Zeitungssprechern zu begegnen? Es würde das selbst Ihnen Beyden und dem ersten Eindruck Ihrer Musik zum Vortheil gereichen; schon darum, weil es die Aufmerksamkeit Aller schärfen müßte. – Zufälliges, was die Natur der Gegenstände an die Hand giebt und was ähnlich hätte werden müssen, wenn Sie von einander nichts gewußt hätten, das können nun Sie, der Spätere, vermeiden; wie z. B., daß Sp. zur Einleitung eine Art Trauermarsch geschrieben hat, und ich Ihnen angerathen habe, einen solchen zu schreiben. (Ich habe mit Spohr weder hierüber, noch über sonst Etwas, die musikalische Behandlungsart betreffend, mündlich oder schriftlich mich ausgelassen.) Ihre wahrhaft bewundernswürdige Erfindungsgabe wird Ihnen so sicher Auswege im Überfluß darbieten, daß ich mir gar nicht verstatte, dergleichen anzugeben. – Da, so viel ich weiß, in Cassel keine Kirchenmusik stattfindet, so läßt sich voraussetzen, Hr. Spohr werde bey seiner Arbeit zunächst das Concert in’s Auge gefaßt haben: wie nun, wenn Sie bey der Ihrigen zunächst, wie ich gethan, die Kirche in’s Auge faßten? Allerdings wäre das nicht nothwendig und müßte gänzlich, wie Ihrem Genius, so Ihrer Neigung entsprechen: aber nicht Weniges in Ihren größern Werken scheint mir darauf hinzudeuten, Sie könnten leicht meine Absicht theilen. Und Sie wollen ja bey diesem Werke, so wenig als ich, Geld verdienen – –
Senden Sie Herrn Kapellmeister
Bravour-Arie, voller langen, schon damals längst veralteten Passagen für die Sängerin aufstutzte. Er war, daß es so Rechtens sey, bis an seinen Tod fest überzeugt und ließ deshalb noch im Jahre 1817 oder 18, wo Partitur und Auszug erschienen,
selbstohne die geringste Abkürzung drucken.
Leipzig, d. 7ten Dec. 1834. Hochgeehrter Herr! Ich beantworte Ihr werthes Schreiben vom 1sten und an demselben Tage, wo ich es empfangen. Es ist mein alter Gebrauch, unangenehme Dinge so bald abzuthun, als irgend möglich. Sie können über das, was Sie in Cassel erfahren, kaum mehr befremdet gwesen seyn, als ich es über die Nachricht davon bin. Es ist nothwendig, daß ich mich umständlich darüber erkläre; und habe ich nur zuvor zu versichern, daß ich seit langen Jahren mit Hrn. Kapellm. Spohr in gänzlich ungestörtem, zutraulichem Verhältnis gestanden habe, und, so viel mir bekannt, noch heute stehe. Es sind nicht weniger als vier und dreyßig Jahre, daß der damalige Director des hiesigen Concerts, Hr. Schicht, zugleich mit den damaligen Vorstehern des Concerts, mich um eine Dichtung zu einem Passionsoratorio dringend ersuchte. Es war nämlich damals noch feststehende Sitte, jeden Palmensonntag ein öffentliches Concert zu geben und in demselben ein Passionsoratorium aufzuführen; dies aber mit möglichster Feyerlichkeit, so daß ohne Ausnahme z. B. Jedem und Jeder der Eingang verweigert wurde; außer in ganz schwarzer Kleidung. Grauns Tod Jesu und Haydns Sieben Worte konnte, man doch nicht immer geben, und einige neuere Compositionen wollten nicht recht gefallen. Darum wendete man sich an mich, und Schicht, ein an Geist zwar beschränkter Mann, aber vom besten Willen und vieler Geübtheit im Technischen seiner Kunst, sollte mein Gedicht componiren. Ich begriff, daß dies für ein Publicum, wie es eben an jenem Tage sich zu sammlen pflegte, (auch Familienväter des Handwerksstandes, die sonst niemals auch nur den Gedanken hegten, ein Concert zu besuchen, ) durchaus dramatisch seyn müsse. So entstand dieses Gedicht; die Musik ist Schichts bestes Werk; es wurde oft, später auch in den Kirchen, und stets mit großem Zulauf, auch keineswegs ohne vollgültige Zeichen der Erbauung unter den Zuhörern, aufgeführt. Wie die Musik ausgefallen ist, können Sie leicht erfahren; denn (viel später) boten Hr. Schicht und Hr. Hofmeister, Musikalienhändler in Leipzig, sich gegenseitig die Hände, Partitur und Klavierauszug herauszugeben, und dies ohne mir auch nur ein Wort davon zuvor zu sagen, so daß Hr. H. sogar für mein Exemplar des Klavierauszugs den verlangten Preiß von mir empfangen hat. * Die wunderlichen Leute hatten gefürchtet: erschiene das Werk gedruckt und ich hätte dies vorher erfahren, so würde ich Anspruch auf einiges Honorar machen: mir aber war es um ganz Anderes zu thun, als um Honorar; nämlich um Verbesserung meiner jugendlichen Arbeit. Indessen – die Sache war geschehen; ich ließ sie (wie gar manche andere Unbilden, die ich in verwandten Fällen von Verlegern und Componisten – und zum Theil sehr, auch mit Recht berühmten – im langen Leben zu ertragen bekommen) – ich sage: ich ließ die Sache stillschweigend auf sich beruhn. – Im Jahre 1820 fing ich nun an, meine frühern Arbeiten verschiedenen Inhalts und verschiedener Form zu sammlen und im folgenden Jahre nun drucken zu lassen. („Auswahl aus R. s frühern Schriften P. Züllichau, b. Darnmann; sechs Bände. ) Auch jenes Oratorium, wie sehr mangelhaft ich nun es fand, schien mir doch der Aufnahme nicht ganz unwerth. Ich nahm es auf; und da es hier in Leipzig (so zu sagen) als örtlich in den Kirchen feststand, auch der Klavierauszug in nicht wenigen, zum Theil mir selbst bekannten, achtbaren Familien zur Privaterbauung gäng und gäbe war: so glaubte ich (leider!) nur Weniges und auf Einzelnheiten Gerichtetes ändern zu dürfen. Dies Alles mußte ich voraussenden, nicht nur um vor Ihnen gerechtfertigt zu seyn, sondern auch um fortfahren zu können, wie ich nun thue. Im Sommer 1831 oder 32 (ganz bestimmt erinnere ich mich nicht) reisete Herr Kapellmeister Spohr mit seiner Gemalin nach Teplitz über Leipzig und besuchte mich. Ich freuete mich seiner und wir unterhielten uns mit Zutraun, so wie immer. Er hatte nicht lange vorher sein Oratorium: „Die letzten Dinge” wozu ich ihm die Worte der heiligen Schriften alten und neuen Testaments gewählt und zusammengestellt; das Werk war in Leipzig öffentlich zu Gehör gekommen und, doch nur theilweise, mit gerechtem, d. h. innigem Beyfall aufgenommen worden. Dies „theilweise” hatte offenbar seinen Hauptgrund in dem, (doch nothwendiger Weise, ) wie im Inhalt, so in Feyerlichkeit und Erhabenheit einander zu ähnlichen meisten Stücken. Wir sprachen auch hierüber aufrichtig, und wurden bald eins: ein Oratorium, besonders wenn es zunächst für’s Concert bestimmt sey, müsse, und heut zu Tage noch unerläßlicher, etwas von dramatischer Form haben. Als Hr. Sp. mich seiner Überzeugung fand, richtete er die Bitte um solch ein Gedicht an mich. Ich, schon damals von fortwährenden häuslichen Leiden darniedergebeugt, hatte mir ernstlich vorgenommen, gar nichts mehr für das Publicum zu schreiben. Ich gestand das, und lehnte darum des hochgeachteten Mannes Gesuch ab. Er suchte vergebens mich abwendig zu machen, und da er vor jedem andern ein Passionsoratorium sich wünschte: so fiel mir plötzlich jenes frühere ein. Er kannte es nicht; wir lasen schnell es durch; er fühlte sich von Einigem ergriffen; er äußerte sich geneigt, den 2ten Theil des Gedichts in Musik zu setzen. Ich ließ den werthen Mann nicht zur Entscheidung über Ja oder Nein gelangen, bevor er Alles reiflichst bedacht und erwogen. „Dazu”, erwiederte er, „werde ich nirgends so ungestörte Muße finden, als jetzt in Teplitz. Geben Sie mir das Buch mit!” Allerdings ließ ichs ihm, und verlangte nur sein Ja oder Nein zu erfahren, sobald er es gefaßt; und entschiede er sich für’s Erste, mir einige Zeit zu Verbesserung meiner Worte zu lassen. So schieden wir. Nach fünf oder sechs Wochen empfange ich durch die Post mein Buch, blos couvertirt, zurück, ohne auch nur eine einzige geschriebene Zeile. (Noch heute hat Hr. Sp. mir keine gesandt. ) Jetzt frage ich Sie, und Ihn, und Jedermann, ob es mir nur möglich sein konnte, anders zu denken, als: Sp. hat aus irgend einem Grunde, den du mit der Zeit ja wohl erfahren wirst, sich für das Nein entschieden und dies dir nicht deutlicher, als handelnd und dann schweigend, erklären wollen. Also dachte ich wirklich; die Sache war mir abgethan und wurde bald vergessen. Inzwischen hatte ich Ihre Compositionen nach und nach gehört, gelesen und wieder gehört. Neugierde trieb mich zuerst zu ihnen und Umstände verwehrten diese Neugierde: Ihr seel. Großvater war einer meiner ersten Führer zu philosophischem Denken gewesen und darum mir auf immer verehrens- und liebenswürdig; Ihre Tante, Friedr. Schlegels Frau, hatte ich persönlich, und auch nahe, in Wien kennen gelernt; Ihre Jugend erfuhr ich pp die ganz besondere, ganz originelle ausgesprochene Tendenz verschiedener Ihrer Compositionen hatte jenes gemeine Interesse zu einem höhern gesteigert; die innere Beschaffenheit derselben fesselte und entzückte mich, und erfüllte mein Inneres mit Hochachtung und lebendiger Zuneigung gegen das, was Sie Gott und was Sie sich selbst zu verdanken haben. Irgend ein persönliches Verhältnis zu Ihnen wünschte ich mir zwar, hoffte aber nicht darauf. Mein öfteres Andenken an Sie in eine Verbindung mit jenem Gedicht zu bringen: davon fiel mir auch nur der Gedanke ein niemals ein. Inzwischen hatte ich drey Jahre hindurch täglich – um nur das Entscheidenste anzuführen – die einzige geliebte Tochter, 31 jährige Wittwe und Mutter von sechs liebenswürdigen Kindern, an Auszehrung hinsterben, unmittelbar darauf, ja im Beginn schon zu derselben Zeit, meine geliebte Frau der Tochter in derselben Krankheit, dann im Todte folgen sehn müssen. Von den Wirkungen dieser Lebenserfahrungen gehört nur eine in diesen Zusammenhang. Ich lernte mich noch viel mehr als sonst an den halten, welchen jenes Gedicht besingt. Das erneuerte Studium der Documente zur Geschichte seiner selbst, der mit ihm verbundenen Personen, und seines Volks in jener über dasselbe entscheidenden Zeit, wurde meine Lieblingsbeschäftigung. Hierdurch wurde in alle dem Vieles mir neu, weiter umgreifend, alles deutlicher, lebendiger, befestigter – und hoffentlich in alle Ewigkeit; ich sahe auch an meinen Entschlafenden und fühlte an mir selbst, was alles Jenes uns Menschen werden könne. So mußte sich nothwendig der Wunsch erzeugen, was in mir lebe und wirke auch Andern wenigstens anzudeuten, damit es – verschmäheten sie es nicht – auch in ihnen lebendig und wirksam werden könnte. Wie das erreichen? Ich bin kein Prediger; ich bin kein Erzieher. Da fiel mir jenes Gedicht, es fielen mir die offenbaren Wirkungen desselben wenn auch in so unvollkommener Gestalt, verbunden mit seiner Musik, wenn auch nur in einzelnen Stücken wirklich gut – es fielen mir diese Merkmale an Kirchengemeinden von drey- bis viertausend Menschen ein. Ich entschloß mich, es mit allen meinen Kräften, nach meinen jetzigen Ansichten, Urtheilen und Gefühlen, in begeisterten und ganz ruhigen Stunden umzuarbeiten. Doch jene Ereignisse und was an sie sich kettete ließen solche Stunden nicht an mich kommen; und wollte ja Niemand zu Erreichung jenes meines Zwecks sich mit mir vereinigen! Es sey; entschloß ich mich. Kommen jemals dergleichen Stunden dir wieder zu, so willst du es vollenden; man soll nach deinem Todte es finden und in deinem Testamente die Verfügung, daß es auf deine Kosten gedruckt und umsonst öffentlich an Alle ausgetheilt werde, die es nur annehmen wollen. Jetzt kamen Sie nach Leipzig und in mein Haus – – Hier habe ich nicht weiter zu erzählen, sondern nur ein Irthum zu berichtigen, der Ihnen aus Mangel an Zeit in Cassel hat beygehen müssen. Sie glauben, das Gedicht, wie Sie es bei Spohr gesehen, sey, verglichen mit dem, in Ihrer Hand, im Wesentlichen dasselbe und nur in Nebendingen verändert. Gerade umgekehrt: im Wesentlichen ist es anders und nur in Nebendingen dasselbe. Wenigstens sind für mich Nebendinge: Plan und Folge des Ganzen, wiefern es historisch ist – unerwähnt, daß diese ja, als in den heiligen Schriften gegeben, nie einer Abänderung unterliegen dürften; Vertheilung der Hauptscenen – mit welchen es übrigens derselbige Fall; und dgl. mehr. Auch die Anlage der Charaktere mußte bleiben. Aber fast Alles, was tiefer liegt, ist in Ihrem Manuscript anders und – warum soll ich nicht selbst sagen, was offen daliegt? – ist weit besser. Vergleichen Sie es nur genau mit dem, was Spohr und Schicht haben. Jetzt endlich zu meiner Meynung und zu meinem Entschluß, die Sie baldigst zu erfahren wünschen! Ich knüpfe, was ich zu sagen habe, unmittelbar an das, was ich so eben gesagt. Jenes Manuscript ist und bleibt Ihr Eigenthum. Sie geben es niemals in eine andere Hand, als in die meinige, im Fall Sie sich von seiner Composition zurückziehen. – Es ist nicht im Geringsten mein Wunsch, unsern werthen Spohr an der Vollendung und Verbreitung seiner Arbeit zu hindern; in dieser Vollendung zu stören. Nicht der entfernteste Zweifel würde mich, auch wenn Sie sich über sein Werk nicht so sehr günstig geäußert hätten, jemals angewandelt haben, ob er auch Etwas liefern werde, das Jedermann, wie Ihnen und mir, Erhebung, edle Richtung, würdige Freude bringen müsse. Aber eben so wenig werde ich Ihnen jemals, außer, wenn Sie es ausdrücklich und beharrlich verlangen, das mir geschenkte Wort zurückgeben. Warum sollten denn auch zwey Meister nicht mit Werken, im Allgemeinen gleichen Inhalts, neben einander auftreten und dann neben einander bestehen können, schrieben doch Händel und Seb. Bach zugleich, fast in demselben Jahre – jener, seinen Messias, dieser, seine große Passion; und stehen sie nicht noch heute fest – beyde? und wie urtheilen wir Alle über sie – über beyde? „Ja; es wußte aber der Eine nicht von der Arbeit des Andern!” Und wäre es denn nicht um so rühmenswürdiger, wenn Sie beyde ihrem Vorhaben treu blieben, obschon der Eine von der Arbeit des Andern weiß? „Ja; Händel und Bach konnten das schon wagen: sie waren, wenigstens Jeder in seinem Umkreise, anerkannte und berühmte Männer!” Sie waren das damals noch nicht; auch in ihrer nähern Umgebung noch nicht! Sie beyde sind jetzt weit mehr anerkannt und gerechter gewürdigt, als jene damals! Überdies kömmt bey Ihnen Beyden dasselbe Günstige hinzu, was bey jenen Beyden hinzu kam: gänzliche Verschiedenheit der Naturanlagen, der Lebensansichten und Lebenserfahrungen, der bürgerlichen Stellung, der Jahre und Vorneigungen, der Gewohnheiten und bisher eingeschlagenen, bisher treu verfolgten Wege – nicht nur als Künstler, sondern auch als Menschen. Sie könnten Beyde nicht anders: Sie müßten sehr verschiedene Werke liefern, wenn Sie auch Beyde ganz den denselben Text bearbeiteten; was ja doch aber keinesweges der Fall ist. – Und was hindert Sie Beyde dann, beym ersten Hervortreten Gang und Lage der Sache aufrichtigst bekannt zu machen, um falschen Voraussetzungen und Mißurtheilen selbst beym gemischten Publicum und seinen Zeitungssprechern zu begegnen? Es würde das selbst Ihnen Beyden und dem ersten Eindruck Ihrer Musik zum Vortheil gereichen; schon darum, weil es die Aufmerksamkeit Aller schärfen müßte. – Zufälliges, was die Natur der Gegenstände an die Hand giebt und was ähnlich hätte werden müssen, wenn Sie von einander nichts gewußt hätten, das können nun Sie, der Spätere, vermeiden; wie z. B., daß Sp. zur Einleitung eine Art Trauermarsch geschrieben hat, und ich Ihnen angerathen habe, einen solchen zu schreiben. (Ich habe mit Spohr weder hierüber, noch über sonst Etwas, die musikalische Behandlungsart betreffend, mündlich oder schriftlich mich ausgelassen. ) Ihre wahrhaft bewundernswürdige Erfindungsgabe wird Ihnen so sicher Auswege im Überfluß darbieten, daß ich mir gar nicht verstatte, dergleichen anzugeben. – Da, so viel ich weiß, in Cassel keine Kirchenmusik stattfindet, so läßt sich voraussetzen, Hr. Spohr werde bey seiner Arbeit zunächst das Concert in’s Auge gefaßt haben: wie nun, wenn Sie bey der Ihrigen zunächst, wie ich gethan, die Kirche in’s Auge faßten? Allerdings wäre das nicht nothwendig und müßte gänzlich, wie Ihrem Genius, so Ihrer Neigung entsprechen: aber nicht Weniges in Ihren größern Werken scheint mir darauf hinzudeuten, Sie könnten leicht meine Absicht theilen. Und Sie wollen ja bey diesem Werke, so wenig als ich, Geld verdienen – – Es war gut, daß ich umwenden mußte. ich wollte noch Vieles hinzusetzen, meine Meynung, Sie müßten Beyde das Gedicht in Musik setzen, weiter zu bestätigen. Aber es wird nicht nöthig seyn und ich muß zu Ende; denn eben bemerke ich, daß es über drey Uhr zu Nacht ist und ich mich in einen wahren Fieberzustand hineingeschrieben habe. Sie mögen daraus abnehmen, wie wichtig dem Vierundsechziger diese Angelegenheit ist. – Jetzt nur noch kürzlich Folgendes. Senden Sie Herrn Kapellmeister Spohr diesen meinen Brief bald zu. Er wird ihn für die Fortsetzung seiner Arbeit beruhigen; und das wünsche ich sehr. Ich grüße ihn von Herzen. – Lassen Sie mich Ihren Entschluß wissen, sobald Sie ihn gefaßt haben. Das wird auch mich beruhigen. Und lassen Neigung, Stimmung und Umstände es zu: so fangen Sie bald an zu arbeiten. Die Arbeit selbst wird Sie zur Arbeit stärken; wird Sie über alle Nebenrücksichten hinaufheben und getroster machen. – Wissen Sie schon, daß unsre liebe Voigt mir Ihre Lieder ohne Text schon so oft hat vorspielen müssen, daß ich sie fast auswendig weiß und doch immer wieder hören will? Wie trägt sie aber auch diese, schon im Grundgedanken originellen Stücke vor! Leider sind meine alten Hände zu schwerfällig geworden, als das ich selbst sie spielen könnte. Ich hätte es wohl auch ehedem nicht gehörig gekonnt; denn Sie haben dem Liebhaber (eben für diese Gattung) doch wohl allzuviel zugemuthet. Leben Sie wohl, und erfreuen Sie mich bald durch Antwort. Rochlitz. Wie weit der musikalische Unsinn noch vor 30 Jahren in Deutschland ging, können sie wundershalben daraus abnehmen, daß der Componist, der doch in diesem seinem Werke einige wahrhaft gute Fugen und auch einige andere beyfallswürdige Chöre geliefert hat, die Arie der Maria, all meines Protestirens ungeachtet, zu einer endlosen Bravour-Arie, voller langen, schon damals längst veralteten Passagen für die Sängerin aufstutzte. Er war, daß es so Rechtens sey, bis an seinen Tod fest überzeugt und ließ deshalb noch im Jahre 1817 oder 18, wo Partitur und Auszug erschienen, selbst ohne die geringste Abkürzung drucken.
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Sie können über das, was Sie in Cassel</incipit> </msItem> </msContents> <physDesc> <p>2 Doppelbl.: S. 1-8 Brieftext.</p> <handDesc hands="1"> <p>Friedrich Rochlitz</p> </handDesc> <accMat> <listBibl> <bibl type="none"></bibl> </listBibl> </accMat> </physDesc> <history> <provenance> <p>Green Books</p> </provenance> </history> </msDesc> </sourceDesc> </fileDesc> <encodingDesc><projectDesc><p>Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C: Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz Hin- und Gegenbriefe Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML-TEI-Basis.</p></projectDesc><editorialDecl><p>Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy 1809-1847 in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept, Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.</p></editorialDecl></encodingDesc> <profileDesc> <creation> <date cert="high" when="1834-12-07" xml:id="date_e9e2b91f-3c58-47bc-bc2a-1659923bfd6f">7. Dezember 1834</date> </creation> <correspDesc> <correspAction type="sent"> <persName key="PSN0114247" resp="author" xml:id="persName_a95d0201-9979-4138-89b9-89e6025241ee">Rochlitz, Johann Friedrich (1769-1842)</persName><note>counter-reset</note><persName key="PSN0114247" resp="writer">Rochlitz, Johann Friedrich (1769–1842)</persName> <placeName type="writing_place" xml:id="placeName_a31b8e8c-6ee7-43d2-9c07-30628843f694"> <settlement key="STM0100116">Leipzig</settlement> <country>Deutschland</country> </placeName> </correspAction> <correspAction type="received"> <persName key="PSN0000001" resp="receiver" xml:id="persName_f00af8ac-4e60-4d5d-8fa5-eafa60b10560">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName> <placeName type="receiving_place" xml:id="placeName_9e8e8cb1-f978-4ba4-9296-b6c6777248dc"> <settlement key="STM0100109">Düsseldorf</settlement> <country>Deutschland</country> </placeName> </correspAction> </correspDesc> <langUsage> <language ident="de">deutsch</language> </langUsage> </profileDesc> <revisionDesc status="draft"> </revisionDesc> </teiHeader> <text type="letter"> <body> <div n="1" type="act_of_writing" xml:id="div_974b7d55-297d-4583-8766-3b5d13ed0cef"> <docAuthor key="PSN0114247" resp="author" style="hidden" xml:id="docAuthor_d945d56c-fb33-4d8c-b0b9-144b8f152a69">Rochlitz, Johann Friedrich (1769–1842)</docAuthor> <docAuthor key="PSN0114247" resp="writer" style="hidden" xml:id="docAuthor_2fc89695-ae0d-4a6e-968b-479c77671aed">Rochlitz, Johann Friedrich (1769–1842)</docAuthor> <dateline rend="right">Leipzig, d. <date cert="high" when="1834-12-07" xml:id="date_4fdea853-0c73-49db-ba8b-86fec9db8b29">7ten Dec. 1834</date>.</dateline> <salute rend="left">Hochgeehrter Herr!</salute> <p style="paragraph_without_indent">Ich beantworte Ihr werthes <title xml:id="title_cb01c295-f2bb-4b63-9cf7-681fe3e907ab">Schreiben vom 1sten <name key="PSN0000001" style="hidden" type="author">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</name> <name key="fmb-1834-12-01-02" style="hidden" type="letter">Felix Mendelssohn Bartholdy an Friedrich Rochlitz in Leipzig; Düsseldorf, 1. Dezember 1834</name> </title> und an demselben Tage, wo ich es empfangen. Es ist mein alter Gebrauch, unangenehme Dinge so bald abzuthun, als irgend möglich.</p> <p>Sie können über das, was Sie in <placeName xml:id="placeName_4b43a382-3d0a-4435-84ef-ed255da8a82c">Cassel<settlement key="STM0100115" style="hidden" type="locality">Kassel</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName> erfahren,<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_9fb9cbe7-f60e-4ae6-afdf-2fee34dc6ce8" xml:lang="de">was Sie in Cassel erfahren – bezieht sich auf Felix Mendelssohn Bartholdys Treffen mit Louis Spohr. Siehe z. B. Brief fmb-1834-11-01-01 Felix Mendelssohn Bartholdy an Franz Hauser in Leipzig, Düsseldorf, 1. November 1834, Z. 57: »und dann machte mich Spohr befangen«.</note> kaum mehr befremdet gwesen seyn, als ich es über die Nachricht davon bin. Es ist nothwendig, daß ich mich umständlich darüber erkläre; und habe ich nur zuvor zu versichern, daß ich seit langen Jahren mit Hrn. Kapellm. <persName xml:id="persName_37a7b2a8-055b-4478-a0f8-2a24bba6252f">Spohr<name key="PSN0115032" style="hidden" type="person">Spohr, Louis (Ludewig) (1784-1859)</name></persName> in gänzlich ungestörtem, zutraulichem Verhältnis gestanden habe, und, so viel mir bekannt, noch heute stehe.</p> <p>Es sind nicht weniger als vier und dreyßig Jahre, daß der damalige Director des hiesigen Concerts, Hr. <persName xml:id="persName_c02b4500-54aa-4590-9f7d-4dcc8b547dee">Schicht<name key="PSN0114538" style="hidden" type="person">Schicht, Johann Gottfried (1753-1823)</name></persName>, zugleich mit den damaligen Vorstehern des Concerts, mich um eine Dichtung zu einem Passionsoratorio dringend ersuchte. Es war nämlich damals noch feststehende Sitte, jeden Palmensonntag ein öffentliches Concert zu geben und in demselben ein Passionsoratorium aufzuführen; dies aber mit möglichster Feyerlichkeit, so daß ohne Ausnahme z. B. Jedem und Jeder der Eingang verweigert wurde; außer in ganz schwarzer Kleidung. <title xml:id="title_53c88a4e-5b64-486e-8db4-56166c2ade36">Grauns <hi n="1" rend="underline">Tod Jesu</hi><name key="PSN0111513" style="hidden" type="author">Graun, Carl Heinrich (?-1759)</name><name key="CRT0108894" style="hidden" type="music">Der Tod Jesu GraunWV B : VII : 2</name></title> und <title xml:id="title_1e03f2f0-e286-4c56-8ddd-8650f1088d79">Haydns <hi n="1" rend="underline">Sieben Worte</hi><name key="PSN0111789" style="hidden" type="author">Haydn, Franz Joseph (1732–1809)</name><name key="CRT0109081" style="hidden" type="music">Die Sieben Worte (Die Worte des Heilands am Kreuze) Hob. XXI : 2</name></title> konnte<del cert="high" rend="strikethrough" xml:id="del_0bf36358-50a4-4160-994c-ba4d662eaecf">,</del> man doch nicht immer geben, und einige neuere Compositionen wollten nicht recht gefallen. Darum wendete man sich an mich, und Schicht, ein an Geist zwar beschränkter Mann, aber vom besten Willen und vieler Geübtheit im Technischen seiner Kunst, sollte mein Gedicht componiren. Ich begriff, daß dies für ein Publicum, wie es eben an jenem Tage sich zu sammlen pflegte, (auch Familienväter des Handwerksstandes, die sonst niemals auch nur den Gedanken hegten, ein Concert zu besuchen,) durchaus dramatisch seyn müsse. So entstand dieses Gedicht;<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_71ad4de6-8d6c-4777-84ed-45daa03fcb02" xml:lang="de">So entstand dieses Gedicht – Es handelt sich um den vom Thomaskantor Johann Gottfried Schicht realisierten Auftrag an Friedrich Rochlitz zur Erstellung des Textes zu einem Passionsoratorium Das Ende des Gerechten.</note> die <title xml:id="title_7fe336b8-53c0-49fc-a158-6166353fee63">Musik ist Schichts<name key="PSN0114538" style="hidden" type="author">Schicht, Johann Gottfried (1753–1823)</name><name key="CRT0110648" style="hidden" type="music">Das Ende des Gerechten</name></title> bestes Werk; es wurde oft, später auch in den Kirchen, und stets mit großem Zulauf, auch keineswegs ohne vollgültige Zeichen der Erbauung unter den Zuhörern, aufgeführt. Wie die Musik ausgefallen ist, können Sie leicht erfahren; denn (viel später) boten Hr. Schicht und Hr. <persName xml:id="persName_7348f523-24c6-40c2-8f9d-cdac78551005">Hofmeister<name key="PSN0112046" style="hidden" type="person">Hofmeister, Johann Friedrich Carl (1782-1864)</name></persName>, Musikalienhändler in Leipzig, sich gegenseitig die Hände, Partitur und Klavierauszug herauszugeben, und dies ohne mir auch nur ein Wort davon zuvor zu sagen, so daß Hr. <persName xml:id="persName_4806962a-be52-4596-8083-e22ccc66bc53">H<name key="PSN0112046" style="hidden" type="person">Hofmeister, Johann Friedrich Carl (1782-1864)</name></persName>. sogar für mein Exemplar des Klavierauszugs den verlangten<seg type="pagebreak"> |2|<pb n="2" type="pagebreak"></pb></seg> Preiß von mir empfangen hat.<ref target="#fn1" type="Footnotes_reference" xml:id="fnr1">*</ref> Die wunderlichen Leute hatten gefürchtet: erschiene das Werk gedruckt und ich hätte dies vorher erfahren, so würde ich Anspruch auf einiges Honorar machen: mir aber war es um ganz Anderes zu thun, als um Honorar; nämlich um Verbesserung meiner jugendlichen Arbeit. Indessen – die Sache war geschehen; ich ließ sie (wie gar manche andere Unbilden, die ich in verwandten Fällen von Verlegern und Componisten – und zum Theil sehr, auch mit Recht berühmten – im langen Leben zu ertragen bekommen) – ich sage: ich ließ die Sache stillschweigend auf sich beruhn. – Im Jahre 1820 fing ich nun an, meine frühern Arbeiten verschiedenen Inhalts und verschiedener Form zu sammlen und im folgenden Jahre nun drucken zu lassen. („<title xml:id="title_6f998424-8d43-4e55-8f35-aa31dcd91e76">Auswahl aus R.s frühern Schriften P. Züllichau, b. Darnmann; sechs Bände<name key="PSN0114247" style="hidden" type="author">Rochlitz, Johann Friedrich (1769–1842)</name><name key="CRT0112477" style="hidden" type="literature">Auswahl des Besten aus Friedrich Rochlitz’ sämmtlichen Schriften</name></title>.) Auch jenes Oratorium,<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_00d4addb-fcc4-4895-a98c-88f4476cd7e9" xml:lang="de">Jenes Oratorium – Johann Gottfried Schichts Oratorium Das Ende des Gerechten mit Libretto von Friedrich Rochlitz.</note> wie sehr mangelhaft ich nun es fand, schien mir doch der Aufnahme nicht ganz unwerth. Ich nahm es auf; und da es hier in <placeName xml:id="placeName_e2d74086-7798-4015-ad40-382f06fdf463">Leipzig<settlement key="STM0100116" style="hidden" type="locality">Leipzig</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName> (so zu sagen) als örtlich in den Kirchen feststand, auch der Klavierauszug in nicht wenigen, zum Theil mir selbst bekannten, achtbaren Familien zur Privaterbauung gäng und gäbe war: so glaubte ich (leider!) nur Weniges und auf Einzelnheiten Gerichtetes ändern zu dürfen.</p> <p>Dies Alles mußte ich voraussenden, nicht nur um vor Ihnen gerechtfertigt zu seyn, sondern auch um fortfahren zu können, wie ich nun thue.</p> <p>Im Sommer 1831 oder 32 (ganz bestimmt erinnere ich mich nicht) reisete Herr Kapellmeister <persName xml:id="persName_1ddf15cc-0e2c-45eb-857e-7b270aa52c4c">Spohr<name key="PSN0115032" style="hidden" type="person">Spohr, Louis (Ludewig) (1784-1859)</name></persName> mit seiner Gemalin nach <placeName xml:id="placeName_36ff63e4-7614-4db1-b798-a62df9005ee7">Teplitz<settlement key="STM0103875" style="hidden" type="locality">Teplitz</settlement><country style="hidden">Böhmen</country></placeName> über <placeName xml:id="placeName_c652ab4a-49dc-487d-b95d-7691ac8bbba8">Leipzig<settlement key="STM0100116" style="hidden" type="locality">Leipzig</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName> und besuchte mich. Ich freuete mich seiner und wir unterhielten uns mit Zutraun, so wie immer. Er hatte nicht lange vorher sein <title xml:id="title_297f3734-7559-4186-a2c4-0c06c791bc90">Oratorium: „Die letzten Dinge”<name key="PSN0115032" style="hidden" type="author">Spohr, Louis (Ludewig) (1784–1859)</name><name key="CRT0110926" style="hidden" type="music">Die letzten Dinge WoO 61</name></title> wozu ich ihm die Worte der heiligen Schriften alten und neuen Testaments gewählt und zusammengestellt; das Werk war in Leipzig öffentlich zu Gehör gekommen und, doch nur theilweise, mit gerechtem, d. h. innigem Beyfall aufgenommen worden. Dies „theilweise” hatte offenbar seinen Hauptgrund in dem, (doch nothwendiger Weise,) wie im Inhalt, so in Feyerlichkeit und<seg type="pagebreak"> |3|<pb n="3" type="pagebreak"></pb></seg> Erhabenheit einander zu ähnlichen meisten Stücken. Wir sprachen auch hierüber aufrichtig, und wurden bald eins: ein Oratorium, besonders wenn es zunächst für’s Concert bestimmt sey, müsse, und heut zu Tage noch unerläßlicher, etwas von dramatischer Form haben. Als Hr. <persName xml:id="persName_c7e00aa5-fafc-480d-862b-6d2a22817b26">Sp<name key="PSN0115032" style="hidden" type="person">Spohr, Louis (Ludewig) (1784-1859)</name></persName>. mich seiner Überzeugung fand, richtete er die Bitte um solch ein Gedicht an mich. Ich, schon damals von fortwährenden häuslichen Leiden darniedergebeugt, hatte mir ernstlich vorgenommen, gar nichts mehr für das Publicum zu schreiben. Ich gestand das, und lehnte darum des hochgeachteten Mannes Gesuch ab. Er suchte vergebens mich abwendig zu machen, und da er vor jedem andern ein Passionsoratorium sich wünschte: so fiel mir plötzlich jenes frühere ein. Er kannte es nicht; wir lasen schnell es durch; er fühlte sich von Einigem ergriffen; er äußerte sich geneigt, den 2ten Theil des Gedichts in Musik zu setzen. Ich ließ den werthen Mann nicht zur Entscheidung über Ja oder Nein gelangen, bevor er Alles reiflichst bedacht und erwogen. „Dazu”, erwiederte er, „werde ich nirgends so ungestörte Muße finden, als jetzt in Teplitz. Geben Sie mir das Buch mit!” Allerdings ließ ichs ihm, und verlangte nur sein Ja oder Nein zu erfahren, sobald er es gefaßt; und entschiede er sich für’s Erste, mir einige Zeit zu Verbesserung meiner Worte zu lassen. So schieden wir. Nach fünf oder sechs Wochen empfange ich durch die Post mein Buch, blos couvertirt, zurück, ohne auch nur eine einzige geschriebene Zeile. (Noch heute hat Hr. Sp. mir keine gesandt.) Jetzt frage ich Sie, und Ihn, und Jedermann, ob es mir nur <hi n="1" rend="underline">möglich</hi> sein konnte, anders zu denken, als: Sp. hat aus irgend einem Grunde, den du mit der Zeit ja wohl erfahren wirst, sich für das Nein entschieden und dies dir nicht deutlicher, als handelnd und dann schweigend, erklären wollen. Also dachte ich wirklich; die Sache war mir abgethan und wurde bald vergessen.</p> <p>Inzwischen hatte ich Ihre Compositionen nach und nach gehört, gelesen und wieder gehört. Neugierde trieb mich zuerst zu ihnen und Umstände verwehrten diese Neugierde: Ihr seel. <persName xml:id="persName_8e9519cf-f582-4607-a274-3a80258478b3">Großvater<name key="PSN0113232" style="hidden" type="person">Mendelssohn (vorh. Dessau), Moses (1729-1786)</name></persName> war einer meiner ersten Führer zu philosophischem Denken gewesen und darum mir auf immer verehrens- und liebenswürdig; Ihre<seg type="pagebreak"> |4|<pb n="4" type="pagebreak"></pb></seg> Tante, <persName xml:id="persName_bfed6087-e6b4-4b89-9700-2570cf8cbd6f">Friedr. Schlegels<name key="PSN0114563" style="hidden" type="person">Schlegel, Karl Wilhelm Friedrich (seit 1815) von (1772-1829)</name></persName> <persName xml:id="persName_cf4e5530-5db3-46df-8fbc-4ad452d5ff69">Frau<name key="PSN0114561" style="hidden" type="person">Schlegel, gesch. Veit, Dorothea Friederike (bis 1815 Brendel) (seit 1815) von (1764-1839)</name></persName>, hatte ich persönlich, und auch nahe, in <placeName xml:id="placeName_e98a9632-a22e-497b-a2ae-e2a7b3a6a9ee">Wien<settlement key="STM0100145" style="hidden" type="locality">Wien</settlement><country style="hidden">Österreich</country></placeName> kennen gelernt; Ihre Jugend erfuhr ich <hi rend="latintype">pp</hi> die ganz besondere, ganz originelle <gap quantity="1" reason="covering" unit="words"></gap> ausgesprochene Tendenz verschiedener Ihrer Compositionen hatte jenes gemeine Interesse zu einem höhern gesteigert; die innere Beschaffenheit derselben fesselte und entzückte mich, und erfüllte mein Inneres mit Hochachtung und lebendiger Zuneigung gegen das, was Sie Gott und was Sie sich selbst zu verdanken haben. Irgend ein persönliches Verhältnis zu Ihnen wünschte ich mir zwar, hoffte aber nicht darauf. Mein öfteres Andenken an Sie in eine Verbindung mit jenem Gedicht zu bringen: davon fiel mir auch nur der Gedanke <del cert="high" rend="strikethrough" xml:id="del_7e9fc5b7-bf30-4a6d-bdb7-d5e9f3e81d07">ein</del> niemals ein.</p> <p>Inzwischen hatte ich drey Jahre hindurch täglich – um nur das Entscheidenste anzuführen – die einzige geliebte Tochter, 31 jährige Wittwe und Mutter von sechs liebenswürdigen Kindern, an Auszehrung hinsterben, unmittelbar darauf, ja im Beginn schon zu derselben Zeit, meine geliebte Frau der Tochter in derselben Krankheit, dann im Todte folgen sehn müssen. Von den Wirkungen dieser Lebenserfahrungen gehört nur eine in diesen Zusammenhang. Ich lernte mich noch viel mehr als sonst an den halten, welchen jenes Gedicht besingt. Das erneuerte Studium der Documente zur Geschichte seiner selbst, der mit ihm verbundenen Personen, und seines Volks in jener über dasselbe entscheidenden Zeit, wurde meine Lieblingsbeschäftigung. Hierdurch wurde in alle dem Vieles mir neu, weiter umgreifend, alles deutlicher, lebendiger, befestigter – und hoffentlich in alle Ewigkeit; ich sahe auch an meinen Entschlafenden und fühlte an mir selbst, was alles Jenes uns Menschen werden könne. So mußte sich nothwendig der Wunsch erzeugen, was in mir lebe und wirke auch Andern wenigstens anzudeuten, damit es – verschmäheten sie es nicht – auch in ihnen lebendig und wirksam werden könnte. Wie das erreichen? Ich bin kein Prediger; ich bin kein Erzieher.</p> <p>Da fiel mir jenes Gedicht, es fielen mir die offenbaren Wirkungen desselben wenn auch in so unvollkommener Gestalt, verbunden mit seiner Musik, wenn<seg type="pagebreak"> |5|<pb n="5" type="pagebreak"></pb></seg> auch nur in einzelnen Stücken wirklich gut – es fielen mir diese Merkmale an Kirchengemeinden von drey- bis viertausend Menschen ein. Ich entschloß mich, es mit allen meinen Kräften, nach meinen jetzigen Ansichten, Urtheilen und Gefühlen, in begeisterten und ganz ruhigen Stunden umzuarbeiten. Doch jene Ereignisse und was an sie sich kettete ließen solche Stunden nicht an mich kommen; und wollte ja Niemand zu Erreichung jenes meines Zwecks sich mit mir vereinigen! Es sey; entschloß ich mich. Kommen jemals dergleichen Stunden dir wieder zu, so willst du es vollenden; man soll nach deinem Todte es finden und in deinem Testamente die Verfügung, daß es auf deine Kosten gedruckt und umsonst öffentlich an Alle ausgetheilt werde, die es nur annehmen wollen. Jetzt kamen Sie nach Leipzig und in mein Haus – –</p> <p>Hier habe ich nicht weiter zu erzählen, sondern nur ein Irthum zu berichtigen, der Ihnen aus Mangel an Zeit in Cassel hat beygehen müssen. Sie glauben, das Gedicht, wie Sie es bei Spohr gesehen, sey, verglichen mit dem, in Ihrer Hand, im Wesentlichen dasselbe und nur in Nebendingen verändert. Gerade umgekehrt: im Wesentlichen ist es anders und nur in Nebendingen dasselbe. Wenigstens sind <hi n="1" rend="underline">für</hi> <hi n="1" rend="underline">mich</hi> Nebendinge: Plan und Folge des Ganzen, wiefern es historisch ist – unerwähnt, daß diese ja, als in den heiligen Schriften gegeben, nie einer Abänderung unterliegen dürften; Vertheilung der Hauptscenen – mit welchen es übrigens derselbige Fall; und dgl. mehr. Auch die <hi n="1" rend="underline">Anlage</hi> der Charaktere mußte bleiben. Aber fast Alles, was tiefer liegt, ist in Ihrem Manuscript anders und – warum soll ich nicht selbst sagen, was offen daliegt? – ist weit besser. Vergleichen Sie es nur genau mit dem, was Spohr und Schicht haben.</p> <p>Jetzt endlich zu meiner Meynung und zu meinem Entschluß, die Sie baldigst zu erfahren wünschen! Ich knüpfe, was ich zu sagen habe, unmittelbar<seg type="pagebreak"> |6|<pb n="6" type="pagebreak"></pb></seg> an das, was ich so eben gesagt.</p> <p>Jenes Manuscript ist und bleibt Ihr Eigenthum. Sie geben es niemals in eine andere Hand, als in die meinige, im Fall Sie sich von seiner Composition zurückziehen. – Es ist nicht im Geringsten mein Wunsch, unsern werthen Spohr an der Vollendung und Verbreitung seiner Arbeit zu hindern; in dieser Vollendung zu stören. Nicht der entfernteste Zweifel würde mich, auch wenn Sie sich über sein Werk nicht so sehr günstig geäußert hätten, jemals angewandelt haben, ob er auch Etwas liefern werde, das Jedermann, wie Ihnen und mir, Erhebung, edle Richtung, würdige Freude bringen müsse. </p> <p>Aber eben so wenig werde ich Ihnen jemals, außer, wenn Sie es ausdrücklich und beharrlich verlangen, das mir geschenkte Wort zurückgeben. Warum sollten denn auch zwey Meister nicht mit Werken, im Allgemeinen gleichen Inhalts, neben einander auftreten und dann neben einander bestehen können, schrieben doch <persName xml:id="persName_15a7a64b-3c15-4523-9e15-8f8f280c7b14">Händel<name key="PSN0111693" style="hidden" type="person">Händel, Georg Friedrich (1685-1759)</name></persName> und <persName xml:id="persName_a0f701e3-8e22-4240-9dba-83a25aa7f2dd">Seb. Bach<name key="PSN0109617" style="hidden" type="person">Bach, Johann Sebastian (1685-1750)</name></persName> zugleich, fast in demselben Jahre – jener, seinen <hi n="1" rend="underline"><title xml:id="title_7d10ad77-04fa-4e17-8a47-f553456a7896">Messias<name key="PSN0111693" style="hidden" type="author">Händel, Georg Friedrich (1685–1759)</name><name key="CRT0108996" style="hidden" type="music">Messiah HWV 56</name></title></hi>, dieser, seine <title xml:id="title_6d2f3c62-2f56-4ca3-8ac0-18753863c689">große Passion<name key="PSN0109617" style="hidden" type="author">Bach, Johann Sebastian (1685–1750)</name><name key="CRT0107794" style="hidden" type="music">Matthäus-Passion BWV 244</name></title>; und stehen sie nicht noch heute fest – beyde? und wie urtheilen wir Alle über sie – über beyde? „Ja; es wußte aber der Eine nicht von der Arbeit des Andern!” Und wäre es denn nicht um so rühmenswürdiger, wenn Sie beyde ihrem Vorhaben treu blieben, obschon der Eine von der Arbeit des Andern weiß? „Ja; Händel und Bach konnten das schon wagen: sie waren, wenigstens Jeder in seinem Umkreise, anerkannte und berühmte Männer!” Sie waren das damals noch nicht; auch in ihrer nähern Umgebung noch nicht! Sie beyde sind jetzt weit mehr anerkannt und gerechter gewürdigt, als jene damals! Überdies kömmt bey Ihnen Beyden dasselbe Günstige hinzu, was bey jenen Beyden hinzu kam:<seg type="pagebreak"> |7|<pb n="7" type="pagebreak"></pb></seg> gänzliche Verschiedenheit der Naturanlagen, der Lebensansichten und Lebenserfahrungen, der bürgerlichen Stellung, der Jahre und Vorneigungen, der Gewohnheiten und bisher eingeschlagenen, bisher treu verfolgten Wege – nicht nur als Künstler, sondern auch als Menschen. Sie <hi n="1" rend="underline">könnten</hi> Beyde nicht anders: Sie <hi n="1" rend="underline">müßten</hi> sehr verschiedene Werke liefern, wenn Sie auch Beyde ganz den denselben Text bearbeiteten; was ja doch aber keinesweges der Fall ist. – Und was hindert Sie Beyde dann, beym ersten Hervortreten Gang und Lage der Sache aufrichtigst bekannt zu machen, um falschen Voraussetzungen und Mißurtheilen selbst beym gemischten Publicum und seinen Zeitungssprechern zu begegnen? Es würde das selbst Ihnen Beyden und dem ersten Eindruck Ihrer Musik zum Vortheil gereichen; schon darum, weil es die Aufmerksamkeit Aller schärfen müßte. – Zufälliges, was die Natur der Gegenstände an die Hand giebt und was ähnlich hätte werden müssen, wenn Sie von einander nichts gewußt hätten, das können nun Sie, der Spätere, vermeiden; wie z. B., daß Sp. zur Einleitung eine Art Trauermarsch geschrieben hat, und ich Ihnen angerathen habe, einen solchen zu schreiben. (Ich habe mit Spohr weder hierüber, noch über sonst Etwas, die musikalische Behandlungsart betreffend, mündlich oder schriftlich mich ausgelassen.) Ihre wahrhaft bewundernswürdige Erfindungsgabe wird Ihnen so sicher Auswege im Überfluß darbieten, daß ich mir gar nicht verstatte, dergleichen anzugeben. – Da, so viel ich weiß, in Cassel keine Kirchenmusik stattfindet, so läßt sich voraussetzen, Hr. Spohr werde bey seiner Arbeit zunächst das Concert in’s Auge gefaßt haben: wie nun, wenn Sie bey der Ihrigen zunächst, wie ich gethan, die Kirche in’s Auge faßten? Allerdings wäre das nicht nothwendig und müßte gänzlich, wie Ihrem Genius, so Ihrer Neigung entsprechen: aber nicht Weniges in Ihren größern Werken scheint mir darauf hinzudeuten, Sie könnten leicht meine Absicht theilen. Und Sie wollen ja bey diesem Werke, so wenig als ich, Geld verdienen – – </p> <p><seg type="pagebreak">|8|<pb n="8" type="pagebreak"></pb></seg> Es war gut, daß ich umwenden mußte. ich wollte noch Vieles hinzusetzen, meine Meynung, Sie müßten Beyde das Gedicht in Musik setzen, weiter zu bestätigen. Aber es wird nicht nöthig seyn und ich muß zu Ende; denn eben bemerke ich, daß es über drey Uhr zu Nacht ist und ich mich in einen wahren Fieberzustand hineingeschrieben habe. Sie mögen daraus abnehmen, wie wichtig dem Vierundsechziger diese Angelegenheit ist. – Jetzt nur noch kürzlich Folgendes.</p> <p>Senden Sie Herrn Kapellmeister <persName xml:id="persName_bf8eb450-e989-4370-b58b-1f1fc1dceddf">Spohr<name key="PSN0115032" style="hidden" type="person">Spohr, Louis (Ludewig) (1784-1859)</name></persName> diesen meinen Brief bald zu. Er wird ihn für die Fortsetzung seiner Arbeit beruhigen; und das wünsche ich sehr. Ich grüße ihn von Herzen. – Lassen Sie mich Ihren Entschluß wissen, sobald Sie ihn gefaßt haben. Das wird auch mich beruhigen. Und lassen Neigung, Stimmung und Umstände es zu: so fangen Sie bald an zu arbeiten. Die Arbeit selbst wird Sie zur Arbeit stärken; wird Sie über alle Nebenrücksichten hinaufheben und getroster machen. – Wissen Sie schon, daß unsre liebe <persName xml:id="persName_50037c3a-ba62-44b5-b73b-701cd3796b8f">Voigt<name key="PSN0115544" style="hidden" type="person">Voigt, Henriette (1808-1839)</name></persName> mir <title xml:id="title_86330de9-c3b4-4a41-a253-2b31983f2581">Ihre Lieder ohne Text<list style="hidden" type="fmb_works_directory" xml:id="title_xrnzkli5-8bus-3yua-1uz8-ifg2uwcvgprd"> <item n="1" sortKey="musical_works" style="hidden"></item> <item n="2" sortKey="unidentified_and_unspecified_works" style="hidden"></item></list><name key="PSN0000001" style="hidden" type="author">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</name><name key="PRC0100968" style="hidden">Lieder ohne Worte<idno type="MWV"></idno><idno type="op"></idno></name></title> schon so oft hat vorspielen müssen, daß ich sie fast auswendig weiß und doch immer wieder hören will? Wie trägt sie aber auch diese, schon im Grundgedanken originellen Stücke vor! Leider sind meine alten Hände zu schwerfällig geworden, als das ich selbst sie spielen könnte. Ich hätte es wohl auch ehedem nicht gehörig gekonnt; denn Sie haben dem Liebhaber (eben für diese Gattung) doch wohl allzuviel zugemuthet.</p> <closer rend="left">Leben Sie wohl, und erfreuen Sie mich bald durch Antwort.</closer> <signed rend="right">Rochlitz.</signed> </div> <div type="footnotes_area" xml:id="div_1ce8d135-7cd5-4f6e-bac2-be84db3a9124"> <note n="*" subtype="author" target="fnr1" type="footnote" xml:id="fn1"><seg type="pagebreak"> |2|<pb n="2" type="pagebreak"></pb></seg> Wie weit der musikalische Unsinn noch vor 30 Jahren in Deutschland ging, können sie wundershalben daraus abnehmen, daß der Componist, der doch in diesem seinem Werke einige wahrhaft gute Fugen und auch einige andere beyfallswürdige Chöre geliefert hat, die Arie der Maria, all meines Protestirens ungeachtet, zu einer endlosen <hi n="1" rend="underline">Bravour</hi>-Arie, voller langen, schon damals längst veralteten Passagen für die Sängerin aufstutzte. Er war, daß es so Rechtens sey, bis an seinen Tod fest überzeugt und ließ deshalb noch im Jahre 1817 oder 18, wo Partitur und Auszug erschienen, <hi n="1" rend="underline">selbst</hi> ohne die geringste Abkürzung drucken. </note> </div> </body> </text></TEI>