gb-1827-12-11-01
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London, 7. und 11. Dezember 1827
Maschinenlesbare Übertragung der vollständigen Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys (FMB-C)
Kursive im Druck wurden als lateinische Schrift, gesperrte Wörter als Unterstreichungen ausgezeichnet.
Carl Klingemann
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Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe (FMB-C): Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz (Hin- und Gegenbriefe) Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML/TEI-Basis.
Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe (FMB-C) ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept / Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept / Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence (FMB-C) Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.
Der Unterzeichnete ging bislang in Westend und der City, Westminster und Southwark, in den Grafschaften Middlesex Surrey u. s. w. mit einer schweren Last der sträflichsten Undankbarkeit umher – aber so, wie Hass zur Liebe gehört, so gehören innere Vorwürfe und Kasteiungen zur Tugend, und ich bin tugendhaft! Man kommt aber leicht in’s Sündigen hinein, wenn unter dem Regiment der schweren Luft der Leib über den Geist befiehlt, wenn man klassisches Mutton, halbgahres Gemüse, preiswürdigen Applepye und dicken Portwein reichlich verzehren muss gegen die schwere Luft – wenn man die schwere Luft in meilenweiten Stationen, tapfer schreitend, wieder verzehren muss gegen die schwere Kost, und endlos schlafen muss, um wieder gehen und vermöge des Gehens wieder essen zu können u. s. w. Und nebenbei habe ich auch ein Amt , dessen ich warten muss, da es nicht auf mich wartet! Und zwischen dieser chaotischen, materiellen Wirklichkeit schwimmen die zierlichen Trümmer meiner geliebten und gelobten Berliner und
„How do you like England?“ das ist die Frage, die mir jede Miss oder Mistress, der ich „introduced“ werde, wie einen Dolch auf die Brust setzt, worauf ich denn jedesmal die Backen voll nehme und mit „Exceedingly well!“ unerschrocken ripostire . Und ich lüge nicht, es ist hier alles in eine Fremdartigkeit (zugleich mit einer unerwarteten Artigkeit für Fremde) getaucht, an der man schon einige Jahre zehren kann – Charakter, Neuheit, Fülle. Freilich haben meine Vorderzähne schon bedeutend an der Aussprache des th gelitten, freilich zähme ich mit Mühe meinen höflichen deutschen Rücken, der es doch hier nicht wissen soll, dass mein Hals eine fashionable Verbeugung macht, freilich arbeite ich wie ein Schwimmer an der Leine im schwerfälligen Eins, Zwei, Drei im Englischen weiter, ohne Witz und Wortspiel, froh, wenn ich nur grade die Hausmannskost des gewöhnlichen Ausdrucks finde, während ich in der lieben Frau Muttersprache, um mit dem vielgereisten
leading articles,
news, Prozessen, Polizeiverhandlungen und mannigfaltigen Skandalen angefüllt! Alles öffentlich, namentlich, persönlich, oft dramatisch, lokal und im Geist des Augenblicks – es ist mir oft, als läse ich ein Stück des
elopementeiner romantischen jungen Miss, oder ein gewagter kühner Einbruch (im Vorbeigehen gesagt, gestohlen wird hier fürchterlich!), oder ein
dreadful accidentvon durchgegangenen Pferden oder umgefallenen Postkutschen, kurz, der Climax meiner Existenz ist gerettet, und derselbe, der als 27jähriger Jüngling unter dicken Bäumen tagtäglich Kaffee trank und seine Freude an unschuldigen Erscheinungen der Natur, wie Raupen und Ameisen, hatte, konnte nicht anders werden, wie er 29 Jahr alt wurde! – Die Türken drohen, die Spanier hängen, die Franzosen opponiren, die Stocks fallen, die Taillen (der Damen) steigen – welche bedenkliche Zeichen der Zeit! Gigot’s sind hier freilich auch durchaus in der Mode, aber was will das sagen? – Meinem Freunde Felix werde ich nächstens über die Cornbill schreiben und über die Cultur des Backenbarts. Es gibt hier enorme! –
Unsere hannöver’sche Colonie
ist aber so übel nicht. – – Wir executiren denCold and stiff and yet majestic on the Shutter there he lies“ sowie
thither! thither!!– Ferner spielen wir
Lingua franca, in der sie sich ausdrücken, nicht übel – als ich kurz nach meiner Ankunft etwas heiser sprach, fragte man mich: „Haben Sie auch schon einen Kalten gefangen?“ und ich übersetzte es mir in’s Englische zurück und verstand es. –
Ich wollte nur, ich wäre weniger kurzsichtig – besonders der Engländerinnen wegen! Sie können keinen Eierkuchen backen und beschäftigen sich meist mit unnützen Dingen, aber sie sehn verzweifelt gut aus. Solch eine peripathetische
Es ist aber unglaublich, wie patriotisch deutsch man hier wird! Das weite Meer, was einen vom festen Lande trennt, macht alles Neue von dort her rührend wichtig und verklärt alles Zurückgelassene dem reichen England zum Trotz. – Berlin kommt mir durchaus vor wie ein Eldorado und
Mit Berichten für die musikalische Zeitung
gehe ich stark um, ich habesehn, wozu der Himmel seinen Segen verleihen möge. Die Fabrikation einer solchen Oper setzt sich folgendermassen buchstäblich zusammen: Einer schreibt das Stück in den neunziger Jahren vorigen Jahrhunderts und ein
the Pirateund hat jetzt die Vogue unter dem Namen
Isidore de Meridaoder
the Devils Creek.
Stagesund ist in ein einer halben Stunde dort. – Diese
Stagessehe ich nie ohne das grösste Behagen, vier prächtige Pferde rollen mit dem grossen Wagen, an dem die Passagiere herumhängen, wie die Wespen um eine süsse Birne, so munter in’s Land hinein, dass mir’s Herz aufgeht, wenn ich an den nächsten Frühling denke, wo sie mich – an einem Tage 80 Meilen weit – auf den ebenen Strassen durch das hellgrüne Hügelland voller Städte, Flecken und
Cottagesnach Schottland hinbringen sollen. Schon um London herum in’s Land hinein ist’s hübsch, lauter Wohnungen und Wiesen ringsum, immer in sanften Hügeln, dann und wann die Themse, einzelne Parks, Felder – und noch schöneres Grün draussen, obgleich das Gras schon einen ungewöhnlich frühen Schnee und Frost ausgehalten hat.
London ist aber zu gross, das habe ich gleich gesagt, doch sie hören nicht darnach und bauen immer weiter, ganz in’s Lächerliche hinein. Die Häuser werden zuletzt noch die Menschen miethen müssen und nicht die Menschen die Häuser, es ist auch gar kein Ende abzusehen und das Ungeheuer mag noch manchen Flecken verschlingen, ehe es satt wird. Se. Majestät unser allergnädigster König bauen auch mannigfaltig, aber nach derselben Theorie, wie der Hofschneider die königlichen Röcke machen muss; der neue Frack wird nämlich einer ganz ähnlichen Figur angepasst, der Schneider muss jede vorkommende Falte herausschneiden und dann wieder zusammennähen. Auf gleiche Weise wird der Regents Park und Regents Street ist aber in der That das Grossartigste, was ich kenne, beinahe noch schöner, als lowspirited . Dass wir in Deutschland am Sonntag Theater haben, können sie hier am wenigsten begreifen, es erscheint ihnen gradezu sündhaft. Es half mir nichts, dass ich einer Miss dagegen argumentirte, indem ich fragte, ob ihr ihr Anzug am Sonntag weniger Vergnügen macht, ob sie mit Appetit ässe oder Thee tränke – es blieb ihr sündhaft. – In einem Stücke haben wir Deutschen es aber besonders gut hier, man denkt sich, dass wir Alle mit einer Querpfeife oder einem Piano zur Welt kommen und das jeder Deutsche a priori voll Musik steckt. Die guten Leute haben einen rührenden Sinn für Musik und den unvergleichlichsten Magen zum Anhören, wie die Sträusse packen sie Kieselsteine und Bonbons nebeneinander. Und lang – lang ist hier alles; ich glaube,
Ich aber wurde blass von der See. Die See ist der recht grosse Durchbruch. Vor einigen Sonntagen sah ich auf einem Diner eine muntere kleine Frau wieder, mit der ich auf dem Dampfschiff herübergekommen war.You looked very miserable,“ sagte sie lachend, „you are quite changed now!“ In der That schaute ich etwas bleichen, wüsten Antlitzes auf’s graue Meer, auf dem Abends der breite Mondschein wie ein unendlicher Seufzer lag – doch war ich nicht seekrank und hatte in meiner gänzlichen Apathie grade noch Klarheit genug zum Träumen. So blieb ich immer auf dem Verdeck, Grog und Schiffszwieback zu meiner einzigen Nahrung! Einige vielgereiste Gesellen spielten um Champagner und hatten nachher die Frechheit, mir ein Glas anzubieten – ich hätt’ es ihnen aus der Hand schlagen mögen! Es war mir aber eine Erinnerung an meine früheren Genüsse verblieben, und ich sah jedesmal mit Neid den dicken norwegischen Consul seinen guten Kaffee auf dem Verdeck schlürfen. Eine Dame nach der andern verschwand, aber die kleine Frau blieb immer oben, mit hellen Augen, las vor, Gott weiss was, oder spielte Schach. – Das waren aber alles nur Episoden, im Uebrigen war alles ruhig, heiter und glatt, die See still und eben, warmer Sonnenschein und milder Wind, nichts von Sturm und Wellen. Die See ist nicht bloss ein grosser Durchbruch, sie ist auch ein grosser Gedankenstrich. Die
Doch ich will den empfindsamen Handwerksgesellen sehen, der nicht höchlich begeistert wird, wenn man das Zeichen zur Abfahrt giebt und der über dem Rauch aus der Dampfröhre nicht den aus seiner Mutter Kaffeetopfe vergisst. Am Abend wurde es vollends prächtig, wir kamen in die offene See, das Schiff ging höher, der bewusste Mond kam und der Himmel hing voller Pauken und Trompeten. Die kleine Frau lachte zwar über meinen schwindelnden Gang, ich fasste aber PostoSmooth water, alle Leiden verschwanden, der innere Mensch wurde wieder konsistent und sah munter umher, vor dem Ausfluss der Themse tanzten Hunderte von Schiffen einen grossartigen Cotillon , von dessen Ordnung ich nicht mehr verstand, als die antecotillonische Mama von einem wirklichen, in dem sie ihre Tochter nach allen Richtungen hingetrieben sieht. Jetzt wurde unsere Fahrt ein Triumphzug, freilich ein umgekehrter, den merry England über uns hielt – der Schiffs-Cotillon wurde in der Themse zur Ecossaise – in langer Reihe zogen sie hinunter und hinauf, Dampfböte figurirten als lustige Gesellen und glitten, mit Passagieren und Musik ausstaffirt, munter vorbei, – die Dörfer, Landhäuser, Flecken und Städte an den Ufern sahen vergnügt zu, bis sie zu immer ansehnlicheren und kompacteren Matronen und aus ihnen zuletzt London selbst wurde – Schiffe, Schiffe und immer Schiffe, Masten ohne Zahl, als wären’s nur soviel Bohnenstangen beim Hack durch die Länge von London, die ich nicht schon zu Schiffe durchzogen hatte, und ich sass endlich am Abend glücklich bei Goltermann’s, die mir ihr Haus zum Absteigequartier angeboten, beneidete den norwegischen Consul nicht fürder um seinen Kaffeegenuss und hörte zufrieden der Diskussion über Trade und das neue Ministerium im besten Englisch zu.
Ueber die verrufene Londoner Theuerung kann ich mich nicht beklagen; als Einzelner lebe ich hier mit 300 Lstr.Gentlemen, take care of your pockets in going in – take care of pickpockets“ – Und ein Jeder sichert seine Habseligkeiten. Ein hiesiges Blatt, der , Gentlemen!
Den 11. Decbr.
7. Decbr. 1827, London. Verehrtester Herr Stadtrath und verehrteste Frau Stadträthin! Unvergleichliche junge Damen! Trefflichste Squires Felix und Paul! Der Unterzeichnete ging bislang in Westend und der City, Westminster und Southwark, in den Grafschaften Middlesex Surrey u. s. w. mit einer schweren Last der sträflichsten Undankbarkeit umher – aber so, wie Hass zur Liebe gehört, so gehören innere Vorwürfe und Kasteiungen zur Tugend, und ich bin tugendhaft! Man kommt aber leicht in’s Sündigen hinein, wenn unter dem Regiment der schweren Luft der Leib über den Geist befiehlt, wenn man klassisches Mutton, halbgahres Gemüse, preiswürdigen Applepye und dicken Portwein reichlich verzehren muss gegen die schwere Luft – wenn man die schwere Luft in meilenweiten Stationen, tapfer schreitend, wieder verzehren muss gegen die schwere Kost, und endlos schlafen muss, um wieder gehen und vermöge des Gehens wieder essen zu können u. s. w. Und nebenbei habe ich auch ein Amt, dessen ich warten muss, da es nicht auf mich wartet! Und zwischen dieser chaotischen, materiellen Wirklichkeit schwimmen die zierlichen Trümmer meiner geliebten und gelobten Berliner und NiedersächsischenNiedersächischenNiedersächsischen Vergangenheit elegisch umher und verwirren mich armen Menschen noch mehr, – im Hyde-Park liegt mancher Seufzer von mir, über den irgend ein wohlgenährter John Bull gestolpert sein mag. „How do you like England?“ das ist die Frage, die mir jede Miss oder Mistress, der ich „introduced“ werde, wie einen Dolch auf die Brust setzt, worauf ich denn jedesmal die Backen voll nehme und mit „Exceedingly well!“ unerschrocken ripostire. Und ich lüge nicht, es ist hier alles in eine Fremdartigkeit (zugleich mit einer unerwarteten Artigkeit für Fremde) getaucht, an der man schon einige Jahre zehren kann – Charakter, Neuheit, Fülle. Freilich haben meine Vorderzähne schon bedeutend an der Aussprache des th gelitten, freilich zähme ich mit Mühe meinen höflichen deutschen Rücken, der es doch hier nicht wissen soll, dass mein Hals eine fashionable Verbeugung macht, freilich arbeite ich wie ein Schwimmer an der Leine im schwerfälligen Eins, Zwei, Drei im Englischen weiter, ohne Witz und Wortspiel, froh, wenn ich nur grade die Hausmannskost des gewöhnlichen Ausdrucks finde, während ich in der lieben Frau Muttersprache, um mit dem vielgereisten Schelmufsky zu reden, ganz behaglich umherschwimme, – aber der Comfort! Dieser Comfort ist der grösste Philister, den ich kenne: Gegen 10 Uhr steht er auf. Er tritt in sein kleines wohnliches Zimmer, etwa halb so hoch wie das der Gesandtschaftskanzlei in Berlin, aber ganz bequemlich ausstaffirt, im Kamin brennt ein lustiges Kohlenfeuer, das Wasser kocht, der Frühstückstisch ist gedeckt und der nöthige Apparat gehörig aufgepflanzt, – aber das Auge ruht mit besonderem Behagen auf der ellenlangen Zeitung mit leading articles, news, Prozessen, Polizeiverhandlungen und mannigfaltigen Skandalen angefüllt! Alles öffentlich, namentlich, persönlich, oft dramatisch, lokal und im Geist des Augenblicks – es ist mir oft, als läse ich ein Stück des Aristophanes. Die Kohlen knistern, der Kaffee dampft, zwischen jedem Zuge aus der Tasse liegt ein interessantes elopement einer romantischen jungen Miss, oder ein gewagter kühner Einbruch (im Vorbeigehen gesagt, gestohlen wird hier fürchterlich!), oder ein dreadful accident von durchgegangenen Pferden oder umgefallenen Postkutschen, kurz, der Climax meiner Existenz ist gerettet, und derselbe, der als 27jähriger Jüngling unter dicken Bäumen tagtäglich Kaffee trank und seine Freude an unschuldigen Erscheinungen der Natur, wie Raupen und Ameisen, hatte, konnte nicht anders werden, wie er 29 Jahr alt wurde! – Die Türken drohen, die Spanier hängen, die Franzosen opponiren, die Stocks fallen, die Taillen (der Damen) steigen – welche bedenkliche Zeichen der Zeit! Gigot’s sind hier freilich auch durchaus in der Mode, aber was will das sagen? – Meinem Freunde Felix werde ich nächstens über die Cornbill schreiben und über die Cultur des Backenbarts. Es gibt hier enorme! – Unsere hannöver’sche Colonie ist aber so übel nicht. – – Wir executiren den Spohr, ich trommle in der Ouverture den Bass vierhändigerweise mit einer jungen Miss und wir stehen Alle wie die Orgelpfeifen um das Piano herum und singen: „Kalt und starr, doch majestätisch liegt der Rajah auf der Bahre, “ was wir so übersetzt haben: „Cold and stiff and yet majestic on the Shutter there he lies“ sowie das beliebte „dahin, dahin“ ganz glücklich mit thither! thither!! – Ferner spielen wir Trios von Hummel und Beethoven – ich aber nicht Violine, und einige Beethoven’sche Symphonien zu 4 Händen, nebst Whist zu 8 Händen. Bei einigen unsrer Landsleute, die länger hier gewesen sind, ist die Lingua franca, in der sie sich ausdrücken, nicht übel – als ich kurz nach meiner Ankunft etwas heiser sprach, fragte man mich: „Haben Sie auch schon einen Kalten gefangen?“ und ich übersetzte es mir in’s Englische zurück und verstand es. – Ich wollte nur, ich wäre weniger kurzsichtig – besonders der Engländerinnen wegen! Sie können keinen Eierkuchen backen und beschäftigen sich meist mit unnützen Dingen, aber sie sehn verzweifelt gut aus. Solch eine peripathetische Pensionsanstalt, wie sie täglich zu Dutzenden in Regents Park in die freie Luft getrieben werden, kommt mir vor, wie ebensoviel pathetische Peris, Eine noch schöner wie die Andre, paarweis aufmarschirt, die grösseren zusammen und ihrer siegenden Gaben sich wohl bewusst; den Rücken deckt die strenge Aya, die jede Mannsperson als ihren natürlichen Feind anglotzt. Ich hatte mir grösstentheils von Paris her eine ganz falsche Vorstellung von den englischen Damen gemacht, sie waren damals so lange von der übrigen Welt abgeschnitten gewesen, dass sie zu eigenthümlich geworden waren, jetzt sind sie aber kosmopolisirt absolute Grazien. Sogar das Hausmädchen bei Goltermann’s sieht aus wie eine Prinzessin oder Hebe. Lächerlich gelehrt sind sie übrigens, die Damen; bei Moscheles fragte mich eine, ob ich den Kant gelesen hätte, was ich nicht sonderlich bejahen konnte; auf ihre Versicherung, dass sie ihn gelesen, konnte ich ihr bloss mit der bekannten Geschichte von Kant und dem Knopf des Studenten dienen; dagegen war sie verwundert, dass ich den ganzen Walter Scott gelesen hätte. Es ist aber unglaublich, wie patriotisch deutsch man hier wird! Das weite Meer, was einen vom festen Lande trennt, macht alles Neue von dort her rührend wichtig und verklärt alles Zurückgelassene dem reichen England zum Trotz. – Berlin kommt mir durchaus vor wie ein Eldorado und ein Mendelssohn’scher Sonntag wie ein Kapitel aus einem Zauberroman, alle Ironie wird sentimental und die Vorliebe für das Heimische ist so stark, dass wir uns für heute Abend das Wort gegeben haben, zusammen zu kommen, um einmal „besten Bauern“ zu spielen, wobei wir, wenn Goltermann’s meinen Wink verstanden haben, wahrscheinlich deutschen Kartoffelsalat zum Abendessen bekommen. Ich citire, fürcht’ ich, Berlin zu oft und rühme zu Vieles daran, sogar den dortigen Feuerlärm habe ich zu vertheidigen gesucht, weil man der Süssigkeit des Schlafs erst bewusst wird, wenn man nach einer Störung wieder einschläft. – Mit Berichten für die musikalische Zeitung gehe ich stark um, ich habe Oberon gesehen, den Freischütz, werde nächstens in’s Seraglio (Entführung) gehn, und dann noch einige englische Opern sehn, wozu der Himmel seinen Segen verleihen möge. Die Fabrikation einer solchen Oper setzt sich folgendermassen buchstäblich zusammen: Einer schreibt das Stück in den neunziger Jahren vorigen Jahrhunderts und ein Mr. StoraceHorace komponirt es, woraus er seine Musik zusammengebracht, ist fabelhaft und vorhistorisch. Jetzt wird die Oper wieder hervorgesucht und von einem neuen Dichter bearbeitet, ein Herr Cookes oder so schreibt eine neue Ouverture dazu, noch ein Anderer, dessen Namen mir nicht gleich beifällt, macht Gesangstücke mit Ausnahme derer für Braham, die dieser sich allein fabricirt, die Primadonna Mme. Feron chromatischen Andenkens bringt ihren Part aus Italien mit von Mercadante oder einem andern Italiäner, und dann noch ein neapolitanisches Volkslied mit Variationen – was dann noch bleibt, ist von StoraceHoraceStorace beibehalten. Dieses Stück(werk) hiess sonst the Pirate und hat jetzt die Vogue unter dem Namen Isidore de Merida oder the Devils Creek. Dr. St. Dr. H. Dr. St. hat Verwandte in Deptford, eine Familie B., die dort eine Fabrik hat, und hat mich da als – Sänger eingeführt! Man kann in der That nur in einem fremden Lande und wenn man ganz neu ist, so dreist sein, – mir wurde vorher ohne Weiteres die Parthie des Don Juan zugetheilt und ich habe sie gesungen!! – Deptford ist mehr als eine starke deutsche Meile von meinem Westend, und es würde in Deutschland abenteuerlich genug sein, sich dahin zum Thee zu begeben, hier setzt man sich auf eine der vortrefflichen Stages und ist in ein einer halben Stunde dort. – Diese Stages sehe ich nie ohne das grösste Behagen, vier prächtige Pferde rollen mit dem grossen Wagen, an dem die Passagiere herumhängen, wie die Wespen um eine süsse Birne, so munter in’s Land hinein, dass mir’s Herz aufgeht, wenn ich an den nächsten Frühling denke, wo sie mich – an einem Tage 80 Meilen weit – auf den ebenen Strassen durch das hellgrüne Hügelland voller Städte, Flecken und Cottages nach Schottland hinbringen sollen. Schon um London herum in’s Land hinein ist’s hübsch, lauter Wohnungen und Wiesen ringsum, immer in sanften Hügeln, dann und wann die Themse, einzelne Parks, Felder – und noch schöneres Grün draussen, obgleich das Gras schon einen ungewöhnlich frühen Schnee und Frost ausgehalten hat. London ist aber zu gross, das habe ich gleich gesagt, doch sie hören nicht darnach und bauen immer weiter, ganz in’s Lächerliche hinein. Die Häuser werden zuletzt noch die Menschen miethen müssen und nicht die Menschen die Häuser, es ist auch gar kein Ende abzusehen und das Ungeheuer mag noch manchen Flecken verschlingen, ehe es satt wird. Se. Majestät unser allergnädigster König bauen auch mannigfaltig, aber nach derselben Theorie, wie der Hofschneider die königlichen Röcke machen muss; der neue Frack wird nämlich einer ganz ähnlichen Figur angepasst, der Schneider muss jede vorkommende Falte herausschneiden und dann wieder zusammennähen. Auf gleiche Weise wird der neue Palast gebaut; wenn eine Kuppel, oder irgend ein Vorsprung nicht gefällt, werden sie wieder herunter genommen und was anderes dafür hingesetzt. Die Anlage von Regents Park und Regents Street ist aber in der That das Grossartigste, was ich kenne, beinahe noch schöner, als die Linden. Des Beste aber ist die City, es ist ein wahres Vergnügen, sich durch die Massen von Wagen, Kohlenträgern, Spitzbuben und anderen ehrlichen Leuten bis zu Birch’s klassischer Mockturtle-Suppe in der Nähe der Bank durchzuarbeiten! Es ist wirklich etwas Dämonisches in dem ungeheuren wüsten Treiben, es ist eine Ordnung da, von der man aber kaum die Gesetze kennt. – Geht man aber an einem Sonntage durch die Strassen, in denen man an den Alltagen buchstäblich sein eigenes Wort nicht hören kann, so erschrickt man fast vor der Stille. So melancholisch man auch die englischen Sonntage auf dem Festlande darstellt, der KontrastKonstrastKontrast ist doch noch grösser, als man es sich dort denkt – die Langeweile schon muss die Kirchen füllen. Ueber der Stadt hängt der unbeschreibliche dicke gelbe Nebel, der auch wohl gar in’s Zimmer zieht, alle Läden sind geschlossen, die Zeitung erscheint nicht, eine klägliche Glocke jammert die andächtige Gemeinde zusammen, die englischen Familien amüsiren sich Mittags und Abends am Sonntag ohne fremde Hülfe ganz auf ihre eigene Hand, selbst in der Lekture wird eine Auswahl getroffen und Theater ist garnicht denkbar. Mich berührt es freilich nicht, wir sind regelmässig in einem der landsmännischen Häuser gut aufgehoben, aber der allgemeine Zustand überkriecht einen doch zu Zeiten unwillkürlich und man bekennt sich lowspirited. Dass wir in Deutschland am Sonntag Theater haben, können sie hier am wenigsten begreifen, es erscheint ihnen gradezu sündhaft. Es half mir nichts, dass ich einer Miss dagegen argumentirte, indem ich fragte, ob ihr ihr Anzug am Sonntag weniger Vergnügen macht, ob sie mit Appetit ässe oder Thee tränke – es blieb ihr sündhaft. – In einem Stücke haben wir Deutschen es aber besonders gut hier, man denkt sich, dass wir Alle mit einer Querpfeife oder einem Piano zur Welt kommen und das jeder Deutsche a priori voll Musik steckt. Die guten Leute haben einen rührenden Sinn für Musik und den unvergleichlichsten Magen zum Anhören, wie die Sträusse packen sie Kieselsteine und Bonbons nebeneinander. Und lang – lang ist hier alles; ich glaube, Beethoven war ein Engländer. Aber die Austern! die sind desto kleiner und zierlicher! Was würde der grosse F. sagen, wenn er aus meinem Fenster nur über die Strasse zu sehen brauchte, um sie appetitlich in einem kleinen hölzernen Gefäss schwimmen zu sehen. Und nicht jene plumpe, fleischige Holsteiner Masse – nein, so zart und elegisch – ordentlich sehnsüchtig sehen sie wie Augen aus dem Wasser heraus, mit wahren Liebesblicken. Und dann der starke, braune, männliche Gesell Porter, in den eigenthümlichen blanken zinnernen Krügen, tapfer schäumend! Der grosse F. würde roth werden vor Vergnügen. Ich aber wurde blass von der See. Die See ist der recht grosse Durchbruch. Vor einigen Sonntagen sah ich auf einem Diner eine muntere kleine Frau wieder, mit der ich auf dem Dampfschiff herübergekommen war. „You looked very miserable, “ sagte sie lachend, „you are quite changed now!“ In der That schaute ich etwas bleichen, wüsten Antlitzes auf’s graue Meer, auf dem Abends der breite Mondschein wie ein unendlicher Seufzer lag – doch war ich nicht seekrank und hatte in meiner gänzlichen Apathie grade noch Klarheit genug zum Träumen. So blieb ich immer auf dem Verdeck, Grog und Schiffszwieback zu meiner einzigen Nahrung! Einige vielgereiste Gesellen spielten um Champagner und hatten nachher die Frechheit, mir ein Glas anzubieten – ich hätt’ es ihnen aus der Hand schlagen mögen! Es war mir aber eine Erinnerung an meine früheren Genüsse verblieben, und ich sah jedesmal mit Neid den dicken norwegischen Consul seinen guten Kaffee auf dem Verdeck schlürfen. Eine Dame nach der andern verschwand, aber die kleine Frau blieb immer oben, mit hellen Augen, las vor, Gott weiss was, oder spielte Schach. – Das waren aber alles nur Episoden, im Uebrigen war alles ruhig, heiter und glatt, die See still und eben, warmer Sonnenschein und milder Wind, nichts von Sturm und Wellen. Die See ist nicht bloss ein grosser Durchbruch, sie ist auch ein grosser Gedankenstrich. Die Elbe gehört schon mit dazu. Wie ich am hellen Morgen des 1. September in Hamburg am Hafen war, als ein Boot den einsamen Passagier mit seinen wenigen Habseligkeiten durch den Schiffslärm und durch die Kommenden, Begleitenden, Abschiednehmenden und Glückrufenden an’s Dampfschiff gebracht hatte, fing der Gedankenstrich an und schnitt die schöne Phrase ab, – der Dampfkessel brauste den Bass zu dem Liede: „Es ritten drei Reiter zum Thore hinaus – ade!“ – – Doch ich will den empfindsamen Handwerksgesellen sehen, der nicht höchlich begeistert wird, wenn man das Zeichen zur Abfahrt giebt und der über dem Rauch aus der Dampfröhre nicht den aus seiner Mutter Kaffeetopfe vergisst. Am Abend wurde es vollends prächtig, wir kamen in die offene See, das Schiff ging höher, der bewusste Mond kam und der Himmel hing voller Pauken und Trompeten. Die kleine Frau lachte zwar über meinen schwindelnden Gang, ich fasste aber Posto in meiner Erhabenheit, die ich bei Lutter und Wegener wenigstens mit 2 Thlr. hätte bezahlen müssen, hier aber ganz umsonst hatte, – die ganze Vergangenheit sank in’s Meer, und ich stieg in das Spinde zu ländlichem Schlaf. Am anderen Tage kam die Apathie, am dritten Morgen aber lag die Küste von Essex vor uns, mit weissen Schlössern, grauen Thürmen und braunen Dörfern. Wir kamen bald in Smooth water, alle Leiden verschwanden, der innere Mensch wurde wieder konsistent und sah munter umher, vor dem Ausfluss der Themse tanzten Hunderte von Schiffen einen grossartigen Cotillon, von dessen Ordnung ich nicht mehr verstand, als die antecotillonische Mama von einem wirklichen, in dem sie ihre Tochter nach allen Richtungen hingetrieben sieht. Jetzt wurde unsere Fahrt ein Triumphzug, freilich ein umgekehrter, den merry England über uns hielt – der Schiffs-Cotillon wurde in der Themse zur Ecossaise – in langer Reihe zogen sie hinunter und hinauf, Dampfböte figurirten als lustige Gesellen und glitten, mit Passagieren und Musik ausstaffirt, munter vorbei, – die Dörfer, Landhäuser, Flecken und Städte an den Ufern sahen vergnügt zu, bis sie zu immer ansehnlicheren und kompacteren Matronen und aus ihnen zuletzt London selbst wurde – Schiffe, Schiffe und immer Schiffe, Masten ohne Zahl, als wären’s nur soviel Bohnenstangen beim Pächter Baumann auf der Meierei. Um 3 Uhr landeten wir am alten Tower, nach abgemachten Pass- und Acciseweitläuftigkeiten fuhr mich ein hurtiger Hack durch die Länge von London, die ich nicht schon zu Schiffe durchzogen hatte, und ich sass endlich am Abend glücklich bei Goltermann’s, die mir ihr Haus zum Absteigequartier angeboten, beneidete den norwegischen Consul nicht fürder um seinen Kaffeegenuss und hörte zufrieden der Diskussion über Trade und das neue Ministerium im besten Englisch zu. Ueber die verrufene Londoner Theuerung kann ich mich nicht beklagen; als Einzelner lebe ich hier mit 300 Lstr. sehr bequem, aber die Familien haben’s schlimmer, das nöthige Haus und die Dienstboten erfordern das Doppelte. Ich bin also zu einer ewigen Jugend verdammt, trotz der Berliner Vorhersagungen wird aus meiner Einförmigkeit so bald keine Zweiförmigkeit und ich gewinne Wetten. Einstweilen haben die neuen Umgebungen manches Stück Jugend wieder zu Tage gefördert, so findet das hiesige Theater einen neuen Menschen an mir, namentlich habe ich englische Lustspiele mit dem grössten Behagen gesehen. Ich mag aber noch nicht entscheiden, ob die Schauspieler wirklich so eigenthümlich und natürlich sind, wie sie mir zum grossen Theil erscheinen oder ob Vieles daran eben der Neuheit und Fremdartigkeit zuzuschreiben ist. Die Spieler, die mir bis jetzt als ganz vortrefflich vorkommen, würden eine ordentliche Liste bilden. Auch das Publikum scheint mir theilnehmender, es lässt sich in einer gewissen kritischen Unschuld durch kräftig vorgebrachte Tiraden zum Klatschen bewegen und lacht bei Spässen herzhaft. An den Theatereingängen aber, ehe die Thüren aufgemacht werden, rufen Polizeileute: „Gentlemen, take care of your pockets in going in – take care of pickpockets, Gentlemen!“ – Und ein Jeder sichert seine Habseligkeiten. Ein hiesiges Blatt, der Herold, gibt die Zahl der Spitzbuben beiderlei Geschlechts auf 80-100, 000 an. Den 11. Decbr. So wenig als Rom in einem Tage gebaut wurde, ist mein Brief am vorigen Posttag fertig geworden, die rauhe Hand der Dienstpflicht griff dazwischen. Gestern am zehnten habe ich Ihnen, verehrtester Herr Mendelssohn, in Gedanken alles mögliche Glück gewünscht und hin und her gerathen, ob all das niedliche junge Volk Ihnen zu Ehren tanzte, pfiff, agirte oder wie es sonst vermummt war – ich werde es hoffentlich bald erfahren. Ich habe die grösste Sehnsucht nach dortigen Neuigkeiten, mich interessirt Alles, selbst das Strassenpflaster und die litterarische Mittwochgesellschaft. Sollten Sie, bester Herr Mendelssohn, sich nicht augenblicklich aufgelegt fühlen, mir zu schreiben, so befehlen Sie es wenigstens strenge einem Ihrer hoffnungsvollen Kinder – etwa dem ältesten Sohne – alles so ausführlich wie möglich im rechten Chronikenstyle. – –
<TEI xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xmlns:xsi="http://www.w3.org/2001/XMLSchema-instance" xsi:schemaLocation="http://www.tei-c.org/ns/1.0 ../../../fmbc_framework/xsd/fmb-c.xsd" xml:id="gb-1827-12-11-01" xml:space="default"> <teiHeader xml:lang="de"> <fileDesc> <titleStmt> <title key="gb-1827-12-11-01" xml:id="title_6fb742a3-5d58-47f5-8ac1-1d64186a15fe">Carl Klingemann an Abraham Mendelssohn Bartholdy, Lea Mendelssohn Bartholdy, Fanny Mendelssohn Bartholdy, Rebecka Mendelssohn Bartholdy, Felix Mendelssohn Bartholdy und Paul Mendelssohn Bartholdy in Berlin <lb></lb> London, 7. und 11. Dezember 1827</title> <title level="s" type="incipit" xml:id="title_8843cc01-1a2e-4f15-9e56-888e812d8be8">Der Unterzeichnete ging bislang in Westend und der City, Westminster und Southwark, in den Grafschaften Middlesex Surrey u. s. w. mit einer schweren Last der sträflichsten Undankbarkeit umher – aber so, wie Hass zur Liebe</title> <title level="s" type="sub" xml:id="title_28c57d3d-edc0-4ada-8d96-eb2111087919">Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online (FMB-C)</title> <title key="unknown" type="precursor" xml:id="title_3b14fc35-be5f-4843-81cd-eac035d65398">unbekannt</title> <title key="fmb-1828-02-05-01" type="successor" xml:id="title_2a2c272c-8d55-4f35-9d53-6f318abe5b18">Felix Mendelssohn Bartholdy an Carl Klingemann in London; Berlin, 5. Februar 1828</title> <author key="PSN0112434">Klingemann, Ernst Georg Carl Christoph Konrad (1798-1862)</author> <respStmt> <resp resp="writer"></resp> <persName key="PSN0112434" resp="writer">Klingemann, Ernst Georg Carl Christoph Konrad (1798-1862)</persName> </respStmt> <respStmt resp="transcription"> <resp resp="transcription">Transkription: </resp> <name resp="transcription"> </name> </respStmt> <respStmt resp="edition"><resp resp="edition">Edition: </resp><name resp="edition"> FMB-</name></respStmt> </titleStmt> <publicationStmt> <publisher>Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe (FMB-C). Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft. Humboldt-Universität zu Berlin</publisher> <address> <street>Am Kupfergraben 5</street> <placeName xml:id="placeName_b5996ff6-6bcc-4bec-bb39-11f26e45362c"> <settlement>10117 Berlin</settlement> <country>Deutschland</country> </placeName> </address> <idno type="URI">http://www.mendelssohn-online.com</idno> <availability> <licence target="http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/">Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0)</licence> </availability> </publicationStmt> <seriesStmt> <p>Maschinenlesbare Übertragung der vollständigen Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys (FMB-C)</p> </seriesStmt> <sourceDesc source="edition_template_printout"> <bibl type="printed_letter">Hensel, Familie Mendelssohn 1879, Bd. 1, S. 168-179 (Teildruck).</bibl> <msDesc> <msIdentifier> <country>-</country> <settlement>-</settlement> <institution key="RISM">-</institution> <repository>-</repository> <collection>-</collection> <idno type="signatur">-</idno> </msIdentifier> <msContents> <msItem> <title key="gb-1827-12-11-01" type="letter" xml:id="title_54f59409-bb56-437c-9875-627284fedf89">Carl Klingemann an Abraham Mendelssohn Bartholdy, Lea Mendelssohn Bartholdy, Fanny Mendelssohn Bartholdy, Rebecka Mendelssohn Bartholdy, Felix Mendelssohn Bartholdy und Paul Mendelssohn Bartholdy in Berlin; London, 7. und 11. Dezember 1827</title> <incipit>Der Unterzeichnete ging bislang in Westend und der City, Westminster und Southwark, in den Grafschaften Middlesex Surrey u. s. w. mit einer schweren Last der sträflichsten Undankbarkeit umher – aber so, wie Hass zur Liebe gehört, so gehören innere Vorwürfe und Kasteiungen zur Tugend, und ich bin tugendhaft</incipit> </msItem> </msContents> <physDesc><p>Kursive im Druck wurden als lateinische Schrift, gesperrte Wörter als Unterstreichungen ausgezeichnet.</p><handDesc hands="1"><p>Carl Klingemann</p></handDesc><accMat><listBibl><bibl type="none"></bibl></listBibl></accMat></physDesc> <history> <provenance> <p>-</p> </provenance> </history> </msDesc> </sourceDesc> </fileDesc> <encodingDesc> <projectDesc> <p>Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe (FMB-C): Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz (Hin- und Gegenbriefe) Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML/TEI-Basis.</p> </projectDesc> <editorialDecl> <p>Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe (FMB-C) ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept / Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept / Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence (FMB-C) Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.</p> </editorialDecl> </encodingDesc> <profileDesc> <creation> <date cert="high" when="1827-12-07" xml:id="date_39e869f8-6988-4c4a-9461-ff5de12d48d7">7.</date> und <date cert="high" when="1827-12-11" xml:id="date_bff08e61-42a0-4f1d-b3a2-3f6831130830">11. Dezember 1827</date> </creation> <correspDesc> <correspAction type="sent"> <persName key="PSN0112434" resp="author" xml:id="persName_0bf3fe0f-f881-45aa-b38a-4e1b0c3636b2">Klingemann, Ernst Georg Carl Christoph Konrad (1798-1862)</persName> <note>counter-reset</note><persName key="PSN0112434" resp="writer">Klingemann, Ernst Georg Carl Christoph Konrad (1798-1862)</persName> <placeName type="writing_place" xml:id="placeName_5f99fbfa-c4c4-49ba-8963-fe0b221e48a3"> <settlement key="STM0100126">London</settlement> <country>Großbritannien</country> </placeName> </correspAction> <correspAction type="received"> <persName key="PSN0113247" resp="receiver" xml:id="persName_45149d0c-3421-40fd-bfa8-67e819ea0307">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Abraham Ernst (bis 1822: Abraham Moses) (1776-1835)</persName> <persName key="PSN0113260" resp="receiver" xml:id="persName_d67b02e6-2412-4885-acc4-c94dcf6d66c9">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Lea Felicia Pauline (1777-1842)</persName> <persName key="PSN0117586" resp="receiver" xml:id="persName_600f5b32-34a6-4a13-bf0b-857163281a44">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Rebecka Henriette (1811-1858)</persName> <persName key="PSN0000001" resp="receiver" xml:id="persName_61664fa1-661d-43f2-ab05-9006acf03eaa">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName> <persName key="PSN0113263" resp="receiver" xml:id="persName_8019a116-45ee-457d-8d12-325960731b22">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Paul Hermann (1812-1874)</persName> <placeName type="receiving_place" xml:id="placeName_0f27085f-6fde-49bc-a3a9-49a055371df6"> <settlement key="STM0100101">Berlin</settlement> <country>Deutschland</country> </placeName> </correspAction> </correspDesc> <langUsage> <language ident="de">deutsch</language> </langUsage> </profileDesc> <revisionDesc status="draft"> </revisionDesc> </teiHeader> <text type="letter"> <body> <div n="1" type="act_of_writing" xml:id="div_30e2bdad-191b-4b1e-9a88-55c2877b42ff"> <docAuthor key="PSN0112434" resp="author" style="hidden">Klingemann, Ernst Georg Carl Christoph Konrad (1798-1862)</docAuthor> <docAuthor key="PSN0112434" resp="writer" style="hidden">Klingemann, Ernst Georg Carl Christoph Konrad (1798-1862)</docAuthor> <dateline rend="right"><date cert="high" when="1827-12-07" xml:id="date_40f0b07b-48e1-4c3a-9b7e-7d3d47e46546">7. Decbr. 1827</date>, London.</dateline> <salute rend="left">Verehrtester Herr Stadtrath und verehrteste Frau Stadträthin!</salute> <salute rend="left">Unvergleichliche junge Damen!</salute> <salute rend="left">Trefflichste Squires Felix und Paul!</salute> <p style="paragraph_without_indent">Der Unterzeichnete ging bislang in Westend und der City, Westminster und Southwark, in den Grafschaften Middlesex Surrey u. s. w. mit einer schweren Last der sträflichsten Undankbarkeit umher – aber so, wie Hass zur Liebe gehört, so gehören innere Vorwürfe und Kasteiungen zur Tugend, und ich bin tugendhaft! Man kommt aber leicht in’s Sündigen hinein, wenn unter dem Regiment der schweren Luft der Leib über den Geist befiehlt, wenn man klassisches <hi rend="latintype">Mutton</hi>,<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_cdcd9839-8033-4a12-9e27-e2663762c0f0" xml:lang="en">Mutton – engl., Hammelfleisch.</note> halbgahres Gemüse, preiswürdigen <hi rend="latintype">Applepye</hi><note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_81170af0-576c-4541-b83b-4fb72d435353" xml:lang="en">Applepye – engl. apple pei, gedeckter Apfelkuchen.</note> und dicken Portwein reichlich verzehren muss gegen die schwere Luft – wenn man die schwere Luft in meilenweiten Stationen, tapfer schreitend, wieder verzehren muss gegen die schwere Kost, und endlos schlafen muss, um wieder gehen und vermöge des Gehens wieder essen zu können u. s. w. Und nebenbei habe ich auch ein Amt<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_73d0dd10-b717-4638-9b53-6f3c140c3958" xml:lang="de">ein Amt – Carl Klingemann war seit Herbst 1827 Kanzlist an der Königlich-deutschen Kanzlei in London.</note>, dessen ich warten muss, da es nicht auf mich wartet! Und zwischen dieser chaotischen, materiellen Wirklichkeit schwimmen die zierlichen Trümmer meiner geliebten und gelobten Berliner und <choice source="non-autograph_edition template" xml:id="choice_e1209eca-0437-4340-acf6-aba331111dea"><reg>Niedersächsischen</reg><orig source="Vorlage">Niedersächischen</orig></choice> Vergangenheit<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_d671dd6f-d156-46a6-9473-a6bd7bbcbf26" xml:lang="de">meiner geliebten und gelobten Berliner und Niedersächsischen Vergangenheit – Nachdem er seine Jugend in Limmer bei Hannover (Niedersachsen) verbracht hatte, war Klingemann nach einem Aufenthalt in Paris (1816-1818) in den Jahren 1818 bis 1827 an der Königlich Hannoverschen Gesandtschaft in Berlin tätig gewesen.</note> elegisch umher und verwirren mich armen Menschen noch mehr, – im Hyde-Park liegt mancher Seufzer von mir, über den irgend ein wohlgenährter John Bull<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_62485ef7-7f8c-4325-bd67-a760f4866b4a" xml:lang="de">John Bull – eine Personifikation Großbritanniens. Die fiktive Figur wurde seit dem 18. Jahrhundert in englischen Karikaturen häufig verwendet.</note> gestolpert sein mag.</p> <p>„<hi rend="latintype">How do you like England?</hi>“ das ist die Frage, die mir jede Miss oder Mistress, der ich „introduced“ werde, wie einen Dolch auf die Brust setzt, worauf ich denn jedesmal die Backen voll nehme und mit „<hi rend="latintype">Exceedingly well!</hi>“ unerschrocken ripostire<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_99f0faa3-d465-4dbc-b400-cadec02bfe24" xml:lang="de">ripostire – von frz. riposter, einen Gegenstoß führen, hier: eine schnelle treffende Antwort geben.</note>. Und ich lüge nicht, es ist hier alles in eine Fremdartigkeit (zugleich mit einer unerwarteten Artigkeit für Fremde) getaucht, an der man schon einige Jahre zehren kann – Charakter, Neuheit, Fülle. Freilich haben meine Vorderzähne schon bedeutend an der Aussprache des th gelitten, freilich zähme ich mit Mühe meinen höflichen deutschen Rücken, der es doch hier nicht wissen soll, dass mein Hals eine fashionable Verbeugung macht, freilich arbeite ich wie ein Schwimmer an der Leine im schwerfälligen Eins, Zwei, Drei im Englischen weiter, ohne Witz und Wortspiel, froh, wenn ich nur grade die Hausmannskost des gewöhnlichen Ausdrucks finde, während ich in der lieben Frau Muttersprache, um mit dem vielgereisten <title xml:id="title_206acad6-285f-4c96-a9a6-d822b2afa5b4">Schelmufsky<name key="PSN0117946" style="hidden" type="author">Reuter, Christian (1665-?)</name><name key="CRT0111623" style="hidden" type="literature">Schelmuffsky. Curiose und Sehr gefährliche Reißebeschreibung zu Wasser und Land</name></title><note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_00d9a2e5-8d73-417a-8b1a-20ad3bd5face" xml:lang="de">dem vielgereisten Schelmufsky – Anspielung auf Christian Reuters satirischen Schelmenroman Schelmuffsky. Curiose und Sehr gefährliche Reißebeschreibung zu Wasser und Land, Bd. 1, Schelmenrode [i. e. St. Malo] 1696, Bd. 2, Padua 1697.</note> zu reden, ganz behaglich umherschwimme, – aber der Comfort! Dieser Comfort ist der grösste Philister, den ich kenne: Gegen 10 Uhr steht er auf. Er tritt in sein kleines wohnliches Zimmer, etwa halb so hoch wie das der Gesandtschaftskanzlei in Berlin<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_7289228a-4677-46b5-abbe-8c2fc4077d4e" xml:lang="de">das der Gesandtschaftskanzlei in Berlin – Carl Klingemann hatte in der seit 1825 im Haus der Mendelssohns (Leipziger Straße 3) in Berlin befindlichen Königlich-Hannoverschen Gesandtschaft gearbeitet und vermutlich auch seit 1825 dort ein Zimmer bewohnt. Siehe Brief gb-1825-04-30-01 Fanny Mendelssohn Bartholdy, Rebecka Mendelssohn Bartholdy, Carl Klingemann, Lea Mendelssohn Bartholdy und Johann Ludwig Casper an Felix Mendelssohn Bartholdy und Abraham Mendelssohn Bartholdy in Paris, Berlin, 29. und 30. April 1825, Z.: »Klingem. unser Miethsmann«. Michael Cullen verwies darauf, dass abweichend davon Klingemanns Wohnadresse der Jahre 1826 und 1827 in den Berliner Wohnungsanzeigern mit »Dorotheenstraße 13« abgegeben wird (Cullen, Leipziger Straße Drei, S. 76, Anm. 187).</note>, aber ganz bequemlich ausstaffirt, im Kamin brennt ein lustiges Kohlenfeuer, das Wasser kocht, der Frühstückstisch ist gedeckt und der nöthige Apparat gehörig aufgepflanzt, – aber das Auge ruht mit besonderem Behagen auf der ellenlangen <title xml:id="title_9d18b696-fb22-496f-8dbd-b158737eca83">Zeitung<name key="PSN0120522" style="hidden" type="author">Walter, John d. J. (1776-1847)</name><name key="CRT0113201" style="hidden" type="periodical">The Times</name></title><note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_f94bba3e-7945-4081-9005-f14950860b70" xml:lang="de">der ellenlangen Zeitung – die in London seit 1785 erscheinende Tageszeitung The Times (bis 1788 unter dem Titel The Daily Universal Register).</note> mit <hi rend="latintype">leading articles</hi>, <hi rend="latintype">news</hi>, Prozessen, Polizeiverhandlungen und mannigfaltigen Skandalen angefüllt! Alles öffentlich, namentlich, persönlich, oft dramatisch, lokal und im Geist des Augenblicks – es ist mir oft, als läse ich ein Stück des <persName xml:id="persName_98c35e28-b9b2-4ae2-81df-fbc1723a22b7">Aristophanes<name key="PSN0109523" style="hidden" type="person">Aristophanes (um 445 v. Chr.-um 385 v. Chr.)</name></persName>. Die Kohlen knistern, der Kaffee dampft, zwischen jedem Zuge aus der Tasse liegt ein interessantes <hi rend="latintype">elopement</hi><note resp="FMBC" style="hidden" type="translation" xml:id="note_3368cf2b-2e08-4fe0-a89d-46564f46fbef" xml:lang="en">elopement – engl., Durchbrennen, Weglaufen.</note> einer romantischen jungen Miss, oder ein gewagter kühner Einbruch (im Vorbeigehen gesagt, gestohlen wird hier fürchterlich!), oder ein <hi rend="latintype">dreadful accident</hi> von durchgegangenen Pferden oder umgefallenen Postkutschen, kurz, der Climax meiner Existenz ist gerettet, und derselbe, der als 27jähriger Jüngling unter dicken Bäumen tagtäglich Kaffee trank und seine Freude an unschuldigen Erscheinungen der Natur, wie Raupen und Ameisen, hatte, konnte nicht anders werden, wie er 29 Jahr alt wurde!<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_ef2b5142-ed5c-44ca-896b-d320050916d3" xml:lang="de">wie er 29 Jahr alt wurde – Carl Klingemann hatte seinen 29. Geburtstag am 2. Dezember 1827 begangen.</note> – Die Türken drohen, die Spanier hängen, die Franzosen opponiren, die Stocks<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_6e8287a8-4e68-4484-b517-30155e35f2b8" xml:lang="en">Stocks – engl., Aktien, Wertpapiere.</note> fallen, die Taillen<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_179ad0e5-46c3-4657-b2fa-dfc4c856bab0" xml:lang="fr ">Taillen – frz., Steuern; von tailler, schneiden, teilen.</note> (der Damen) steigen – welche bedenkliche Zeichen der Zeit! Gigot’s<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_93a9a23c-ad37-4031-8e03-e96cabb9fa70" xml:lang="de">Gigot’s – keulenförmige Ärmel; von der Schulter bis zum Oberarm sehr weit und vom Ellenbogen bis zum Ellenbogen eng geschnitten.</note> sind hier freilich auch durchaus in der Mode, aber was will das sagen? – Meinem Freunde Felix werde ich nächstens über die Cornbill<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_3928aa64-031c-4c37-9634-8054725cc6bd" xml:lang="en">die Cornbill – 1815 wurden mit den »Corn-Laws« (»Korngesetzen«) Getreideschutzzölle in England eingeführt, die die Korneinfuhr aus dem Ausland unter 80 shilling pro Quarter verboten. Bei höheren Preisen bestand Zollfreiheit. Siehe dazu ausführlich die Parlamentsberichte .</note> schreiben und über die Cultur des Backenbarts. Es gibt hier enorme! –</p> <p>Unsere hannöver’sche Colonie<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_2d02c294-78a6-4bfa-905e-94bedc9dc77f" xml:lang="de">Unsere hannöver’sche Colonie – Gemeint ist die Königlich-deutsche Kanzlei in London.</note> ist aber so übel nicht. – – Wir executiren den <title xml:id="title_e0d0edd5-8a99-4fc6-ba56-11f35a749c49">Spohr<name key="PSN0115032" style="hidden" type="author">Spohr, Louis (Ludewig) (1784–1859)</name><name key="CRT0110920" style="hidden" type="music">Jessonda WoO 53</name></title>, ich trommle in der Ouverture den Bass vierhändigerweise mit einer jungen Miss und wir stehen Alle wie die Orgelpfeifen um das Piano herum und singen: „Kalt und starr, doch majestätisch liegt der Rajah auf der Bahre,“<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_2af4c38e-647b-48ec-8469-b4a832de4e5d" xml:lang="de">„Kalt und starr, doch majestätisch liegt der Rajah auf der Bahre,“ – Eingangschor (Chor der Braminen und Bajaderen) aus Louis Spohrs Oper Jessonda WoO 53.</note> was wir so übersetzt haben: „<hi rend="latintype">Cold and stiff and yet majestic on the Shutter there he lies</hi>“ sowie <title xml:id="title_0bd5e939-8e07-440a-b53f-e7a11326a8ca">das beliebte „dahin, dahin“<name key="PSN0115032" style="hidden" type="author">Spohr, Louis (Ludewig) (1784–1859)</name><name key="CRT0111624" style="hidden" type="music">Mignons Lied op. 37/1</name></title><note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_ad243742-60d7-46e7-8fb3-65bffbb5228f" xml:lang="de">das beliebte „dahin, dahin“ – Mignons Lied op. 37/1 von Louis Spohr; die zitierte Stelle ist im sechsten Vers enthalten.</note> ganz glücklich mit <hi rend="latintype">thither! thither!!</hi> – Ferner spielen wir <title xml:id="title_35ebd73d-1a6d-454f-b41e-b6e162a4f2e5">Trios von Hummel<name key="PSN0112147" style="hidden" type="author">Hummel, Johann Nepomuk (1778–1837)</name><name key="CRT0111618" style="hidden" type="music">Trios</name></title> und Beethoven – ich aber nicht Violine,<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_1df6404e-9505-472b-8026-544553855e0a" xml:lang="de">ich aber nicht Violine – Carl Klingemann hatte in Berlin seit 1825 Violinstunden bei Eduard Rietz genommen. Siehe Brief gb-1825-04-30-01 Fanny Mendelssohn Bartholdy, Rebecka Mendelssohn Bartholdy, Carl Klingemann, Lea Mendelssohn Bartholdy und Johann Ludwig Casper an Felix Mendelssohn Bartholdy und Abraham Mendelssohn Bartholdy in Paris, Berlin, 29. und 30. April 1825, Z.: »der große Geiger Klingem. unser Miethsmann«.</note> und einige <title xml:id="title_b51b04bd-6ead-4915-b569-18981f621fe7">Beethoven’sche Symphonien<name key="PSN0109771" style="hidden" type="author">Beethoven, Ludwig van (1770–1827)</name><name key="CRT0108061" style="hidden" type="music">Sinfonien</name></title> zu 4 Händen, nebst Whist<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_3afdc85a-7f17-4e55-b9b0-9294e23dab01" xml:lang="en">Whist – ein Kartenspiel.</note> zu 8 Händen. Bei einigen unsrer Landsleute, die länger hier gewesen sind, ist die <hi rend="latintype">Lingua franca</hi>,<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_7c792915-deaa-408c-be5f-d04e9bda92f5" xml:lang="it ">Lingua franca – ital., Verkehrssprache.</note> in der sie sich ausdrücken, nicht übel – als ich kurz nach meiner Ankunft etwas heiser sprach, fragte man mich: „Haben Sie auch schon einen Kalten gefangen?“<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_18c7e358-f68e-4daa-a038-5abb71fbb594" xml:lang="de">einen Kalten gefangen – Wortspiel mit engl. to catch a cold, sich erkälten.</note> und ich übersetzte es mir in’s Englische zurück und verstand es. –</p> <p>Ich wollte nur, ich wäre weniger kurzsichtig – besonders der Engländerinnen wegen! Sie können keinen Eierkuchen backen und beschäftigen sich meist mit unnützen Dingen, aber sie sehn verzweifelt gut aus. Solch eine peripathetische<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_5c4b6943-8c17-4185-b1e6-95b69e935c56" xml:lang="de">peripathetische – von altgriech. Peripatos (περίπατος), Wandelgang; Teil der Schule in Athen, an der Aristoteles lehrte.</note> Pensionsanstalt, wie sie täglich zu Dutzenden in Regents Park in die freie Luft getrieben werden, kommt mir vor, wie ebensoviel pathetische Peris,<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_d2aa38e4-ce4a-4b01-91e9-5b601a29c1b4" xml:lang="de">Peris – in der altpersischen Mythologie Zauberinnen von großer Schönheit und Anmut.</note> Eine noch schöner wie die Andre, paarweis aufmarschirt, die grösseren zusammen und ihrer siegenden Gaben sich wohl bewusst; den Rücken deckt die strenge Aya,<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_4ae2a180-d322-46c7-bdae-0ace60ad2259" xml:lang="de">die strenge Aya – Aja, Figur in Johann Carl August Musäus’ Märchen Richilde, Erstdruck 1782; Druck: Johann Carl August Musäus, Volksmährchen der Deutschen, hrsg. von Christoph Martin Wieland, Bd. 1, Kaschau 1826, S. 99-149.</note> die jede Mannsperson als ihren natürlichen Feind anglotzt. Ich hatte mir grösstentheils von Paris her eine ganz falsche Vorstellung von den englischen Damen gemacht, sie waren damals so lange von der übrigen Welt abgeschnitten gewesen, dass sie zu eigenthümlich geworden waren, jetzt sind sie aber kosmopolisirt absolute Grazien. Sogar das Hausmädchen bei <persName xml:id="persName_8a92db78-17d7-42aa-8111-aeaf0f6d0a69">Goltermann’s<name key="PSN0111463" style="hidden" type="person">Goltermann, Johann Heinrich Gerhard (1759-1836)</name></persName><note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_f0c49d7a-b2bf-41f4-8e1f-d31b2b2138b8" xml:lang="de">Goltermann’s – Johann Heinrich Gerhard Goltermann war Carl Klingemanns Vorgesetzter in der Königlich-deutschen Kanzlei in London.</note> sieht aus wie eine Prinzessin oder Hebe<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_1704838a-a935-4337-b16b-235528d4b97c" xml:lang="de">Hebe – in der griechischen Mythologie die Göttin der Jugend und Mundschenk der Götter, Tochter des Zeus und der Hera.</note>. Lächerlich gelehrt sind sie übrigens, die Damen; bei <persName xml:id="persName_d77d7af3-da2e-4fb4-81d3-a45c4fda654a">Moscheles<name key="PSN0113441" style="hidden" type="person">Moscheles, Ignaz (Isack) (1794-1870)</name></persName> fragte mich eine, ob ich den Kant gelesen hätte, was ich nicht sonderlich bejahen konnte; auf ihre Versicherung, dass sie ihn gelesen, konnte ich ihr bloss mit der bekannten Geschichte von <persName xml:id="persName_b78fe3be-4c13-4505-817f-9faaf5dadc87">Kant<name key="PSN0112309" style="hidden" type="person">Kant, Immanuel (1724-1804)</name></persName> und dem Knopf des Studenten<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_9cabe8dd-201b-4fe7-962e-517865556879" xml:lang="de">der bekannten Geschichte von Kant und dem Knopf des Studenten – siehe dazu Immanuel Kant in Rede und Gespräch, hrsg. und eingeleitet von Rudolf Malter (Philosophische Bibliothek, Bd. 329), Hamburg 1990, S. 509: »Um seine Aufmerksamkeit zu fixiren, pflegte er [Immanuel Kant] gewöhnlich seinen Blick auf denjenigen aus den Zuhörern zu richten, der ihm gerade gegenüber saß. Dieß war eine Zeitlang ein junger Mann, welchem ein Knopf an seinem Rocke fehlte, und der diesem Mangel aus Nachläßigkeit nicht abhalf. Kant blickte mit unverwandten Auge auf ihn, und auf die Stelle an seinem Rocke hin, wo der Knopf fehlte und blieb so ungestört. Kurz darauf ließ sich der Student einen neuen Knopf annähen, und erschien wieder an seinem gewöhnlichen Platze. Jetzt war der Professor während der ganzen Stunde zerstreut, verlohr öfter den Faden seines Vortrags, und in seinen Beweisgründen herrschte kein Zusammenhang. Nach geendigter Vorlesung ließ er den Studenten zu sich kommen, und sagte zu ihm: er habe seit geraumer Zeit bemerkt, daß ihm ein Knopf an seinem Rocke fehle. Der junge Mann fiel ihm hier in die Rede, und bat um Verzeihung, daß er so lange nachläßig genug gewesen sey, sich den Knopf nicht wieder annähen zu lassen. Nein, nein, erwiederte Kant, das meine ich nicht; ich wünschte vielmehr, daß sie den Knopf wieder wegnehmen ließen; denn er stört mich.«</note> dienen; dagegen war sie verwundert, dass ich den ganzen <persName xml:id="persName_dff4377b-d1e1-40f0-b3bb-5f076d5fd024">Walter Scott<name key="PSN0114821" style="hidden" type="person">Scott, (seit 1820) Sir Walter (1771-1832)</name></persName> gelesen hätte.</p> <p>Es ist aber unglaublich, wie patriotisch deutsch man hier wird! Das weite Meer, was einen vom festen Lande trennt, macht alles Neue von dort her rührend wichtig und verklärt alles Zurückgelassene dem reichen England zum Trotz. – Berlin kommt mir durchaus vor wie ein Eldorado und <placeName xml:id="placeName_17aeec16-b851-438f-8313-c49b4f53ba6a">ein Mendelssohn’scher Sonntag<name key="NST0100215" style="hidden" subtype="" type="institution">Sonntagsmusiken der Familie Mendelssohn Bartholdy</name><settlement key="STM0100101" style="hidden" type="locality">Berlin</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName><note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_72adb82f-d83f-4125-a3f4-85f98bfbbd40" xml:lang="de">ein Mendelssohn’scher Sonntag – die Sonntagsmusiken der Familie Mendelssohn Bartholdy, die seit dem Herbst 1821 zunächst im Haus der Großmutter Bella Salomon auf der Neuen Promenade und seit 1825 in der Leipziger Straße 3 stattfanden. Siehe dazu Klein, Fanny Hensels Sonntagsmusiken, sowie Die Musikveranstaltungen bei den Mendelssohns – Ein ›musikalischer Salon‹? Die Referate des Symposions am 2. September 2006 in Leipzig, hrsg. von Hans-Günter Klein, Leipzig 2006. </note> wie ein Kapitel aus einem Zauberroman, alle Ironie wird sentimental und die Vorliebe für das Heimische ist so stark, dass wir uns für heute Abend das Wort gegeben haben, zusammen zu kommen, um einmal „besten Bauern“<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_976dbf86-18fc-4689-95b7-07fd76b46f17" xml:lang="de">„besten Bauern“ – Das Kartenspiel Schafkopf ist auch unter dem Namen »Bauernspiel« bekannt.</note> zu spielen, wobei wir, wenn Goltermann’s meinen Wink verstanden haben, wahrscheinlich deutschen Kartoffelsalat zum Abendessen bekommen. Ich citire, fürcht’ ich, Berlin zu oft und rühme zu Vieles daran, sogar den dortigen Feuerlärm habe ich zu vertheidigen gesucht, weil man der Süssigkeit des Schlafs erst bewusst wird, wenn man nach einer Störung wieder einschläft. –</p> <p>Mit Berichten für die musikalische Zeitung<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_1ba06bb7-4828-45ff-ad3c-47d96ef1c3b4" xml:lang="de">Berichten für die musikalische Zeitung – Klingemann schrieb in den Jahren 1827 und 1828 eine Reihe von Berichten über das Londoner Musikleben für die von Adolph Bernhard Marx herausgegebene Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung. Darunter waren Besprechungen der Aufführungen von Carl Maria von Webers Opern Oberon, or the Elf King’s Oath WeV C. 10 (BAMZ 5, Nr. 21, 21. Mai 1828, S. 166 f.) und Der Freischütz op. 77 (BAMZ 5, Nr. 17, 23. April 1828, S. 137 f.) sowie der Aufführung von Wolfgang Amadeus Mozarts Entführung aus dem Serail KV 384 (BAMZ 5, Nr. 18, 30. April 1828, S. 144 f.).</note> gehe ich stark um, ich habe <title xml:id="title_ffa7374a-2c04-4fbe-9703-76bd7554b044">Oberon<name key="PSN0115645" style="hidden" type="author">Weber, Carl Maria Friedrich Ernst von (1786–1826)</name><name key="CRT0111259" style="hidden" type="music">Oberon, or the Elf King’s Oath WeV C. 10</name></title> gesehen, den Freischütz, werde nächstens in’s <title xml:id="title_815d72e7-ef0d-4689-9cd0-d99c1fed209e">Seraglio (Entführung)<name key="PSN0113466" style="hidden" type="author">Mozart, Wolfgang Amadeus (1756–1791)</name><name key="CRT0110090" style="hidden" type="music">Die Entführung aus dem Serail KV 384</name></title><note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_2f0dc077-4969-4b6e-8d01-b76faf001678" xml:lang="de">Seraglio (Entführung) – Wolfgang Amadeus Mozarts Die Entführung aus dem Serail KV 384 wurde 1827 am Londoner Royal Opera House Covent Garden in der Bearbeitung von William Fisher Peach Dimond unter dem Titel »The Seraglio« gespielt. Die erste Vorstellung fand am 24. November 1827 statt. Siehe das gedruckte Programmheft .</note> gehn, und dann noch einige englische Opern <hi n="1" rend="underline">sehn</hi>, wozu der Himmel seinen Segen verleihen möge. Die Fabrikation einer solchen Oper setzt sich folgendermassen buchstäblich zusammen: Einer schreibt das Stück in den neunziger Jahren vorigen Jahrhunderts und ein <persName xml:id="persName_fbd40263-0bc5-4c34-8a83-5ddccc8f98dc">Mr. <choice source="non-autograph_edition template" xml:id="choice_8a18632b-2556-4ccf-a281-474f35d8b53f"><reg>Storace</reg><orig source="Vorlage">Horace</orig></choice><name key="PSN0118375" style="hidden" type="person">Storace, Stephen John Seymour (?-1796)</name></persName> komponirt es, woraus er seine Musik zusammengebracht, ist fabelhaft und vorhistorisch. Jetzt wird die Oper wieder hervorgesucht und von einem neuen Dichter bearbeitet, ein <persName xml:id="persName_94c88368-556b-4062-80a4-ebd12b6b77f7">Herr Cookes<name key="PSN0116441" style="hidden" type="person">Cooke, Thomas Simpson (1782-1848)</name></persName> oder so schreibt eine neue Ouverture dazu, noch ein Anderer, dessen Namen mir nicht gleich beifällt, macht Gesangstücke mit Ausnahme derer für <persName xml:id="persName_78c196bf-204e-4a37-88ff-0fb79abac57e">Braham<name key="PSN0110071" style="hidden" type="person">Braham, John (eigtl. John Abraham) (1774-1856)</name></persName>, die dieser sich allein fabricirt, die Primadonna <persName xml:id="persName_6184d0e8-46db-469a-9e68-ba9c70b1f2eb">Mme. Feron<name key="PSN0116692" style="hidden" type="person">Féron, Elizabeth (1797-1853)</name></persName> chromatischen Andenkens bringt ihren Part aus Italien mit von <persName xml:id="persName_ed1702ac-c39b-471e-a7cd-7a1004e5af75">Mercadante<name key="PSN0113273" style="hidden" type="person">Mercadante, Giuseppe Saverio Raffaele (1795-1870)</name></persName> oder einem andern Italiäner, und dann noch ein neapolitanisches Volkslied mit Variationen – was dann noch bleibt, ist von <choice source="non-autograph_edition template" xml:id="choice_68e8cb52-b2b0-47ac-ac8f-fb32edfb8eec"><reg>Storace</reg><orig source="Vorlage">Horace</orig></choice> beibehalten. Dieses Stück(werk) hiess sonst <hi rend="latintype">the Pirate</hi> und hat jetzt die Vogue unter dem Namen <title xml:id="title_397c29d8-8ed8-414c-b4d5-b83e86cc67dd"><hi rend="latintype">Isidore de Merida</hi> oder <hi rend="latintype">the Devils Creek</hi>.<name key="PSN0118375" style="hidden" type="author">Storace, Stephen John Seymour (?-1796)</name><name key="CRT0111619" style="hidden" type="music">Isidore de Merida or The Devil’s Creek</name></title><note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_45e1ec94-a5ef-48b4-be8a-a8479f1adfc8" xml:lang="de">Isidore de Merida oder the Devils Creek – Stephen Storaces Oper Isidore de Merida or The Devil’s Creek stand am 29. November 1827 im Londoner Drury Lane Theatre auf dem Programm. William Fisher Peach Dimond hatte dafür das Libretto von James Cobb zu Storaces älterer Oper The Pirates (UA 1792) neu bearbeitet. Klingemann schrieb eine Rezension über das Stück für die Berliner Allgemeine Musikalische Zeitung (BAMZ 5, Nr. 20, 14. Mai 1828, S. 160-162).</note></p> <p><choice source="non-autograph_edition template" xml:id="choice_cac8a0f4-7586-4f24-b936-7b4d2975e645"><reg>Dr. St.</reg><orig source="Vorlage">Dr. H.</orig></choice> hat Verwandte in <placeName xml:id="placeName_b95b9585-6ee8-4c11-8878-ddf530c87178">Deptford<settlement key="STM0103299" style="hidden" type="locality">Deptford</settlement><country style="hidden">Großbritannien</country></placeName>, <persName xml:id="persName_f8f9c5d7-299e-4d01-ad3d-e433ff73783f">eine Familie B.<name key="PSN0109818" style="hidden" type="person">Benecke, Familie von → Friedrich Wilhelm B.</name></persName>, die dort eine Fabrik hat, und hat mich da als – Sänger eingeführt! Man kann in der That nur in einem fremden Lande und wenn man ganz neu ist, so dreist sein, – mir wurde vorher ohne Weiteres die Parthie des <title xml:id="title_96143199-c418-451a-93b9-df5cc9545f83">Don Juan<name key="PSN0113466" style="hidden" type="author">Mozart, Wolfgang Amadeus (1756–1791)</name><name key="CRT0110089" style="hidden" type="music">Don Giovanni KV 527</name></title><note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_ad7c2372-128c-4131-98fc-fc0c7d2648ec" xml:lang="de">die Parthie des Don Juan – Titelpartie in Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Don Giovanni KV 527.</note> zugetheilt und ich habe sie gesungen!! – Deptford ist mehr als eine starke deutsche Meile<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_215fd941-b2ef-4f5f-94c4-e038e6e29ab1" xml:lang="de">eine starke deutsche Meile – Eine deutsche Meile entsprach 7532,5 Metern.</note> von meinem Westend, und es würde in Deutschland abenteuerlich genug sein, sich dahin zum Thee zu begeben, hier setzt man sich auf eine der vortrefflichen <hi rend="latintype">Stages</hi><note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_19762928-3ab9-4a59-b5bb-368a80aa5cc6" xml:lang="en">Stages – engl. stagecoach, Postkutsche.</note> und ist in ein einer halben Stunde dort. – Diese <hi rend="latintype">Stages</hi> sehe ich nie ohne das grösste Behagen, vier prächtige Pferde rollen mit dem grossen Wagen, an dem die Passagiere herumhängen, wie die Wespen um eine süsse Birne, so munter in’s Land hinein, dass mir’s Herz aufgeht, wenn ich an den nächsten Frühling denke, wo sie mich – an einem Tage 80 Meilen<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_da91d167-97f4-4c93-bcc2-f8cb010d52e0" xml:lang="de">80 Meilen – Eine englische Meile entspricht 1609,30 Metern; demnach 128,744 km; sollten deutsche Meilen gemeint sein, sind es 602,60 km. </note> weit – auf den ebenen Strassen durch das hellgrüne Hügelland voller Städte, Flecken und <hi rend="latintype">Cottages</hi> nach Schottland hinbringen sollen. Schon um London herum in’s Land hinein ist’s hübsch, lauter Wohnungen und Wiesen ringsum, immer in sanften Hügeln, dann und wann die Themse, einzelne Parks, Felder – und noch schöneres Grün draussen, obgleich das Gras schon einen ungewöhnlich frühen Schnee und Frost ausgehalten hat.</p> <p>London ist aber zu gross, das habe ich gleich gesagt, doch sie hören nicht darnach und bauen immer weiter, ganz in’s Lächerliche hinein. Die Häuser werden zuletzt noch die Menschen miethen müssen und nicht die Menschen die Häuser, es ist auch gar kein Ende abzusehen und das Ungeheuer mag noch manchen Flecken verschlingen, ehe es satt wird. Se. Majestät unser allergnädigster König bauen auch mannigfaltig, aber nach derselben Theorie, wie der Hofschneider die königlichen Röcke machen muss; der neue Frack wird nämlich einer ganz ähnlichen Figur angepasst, der Schneider muss jede vorkommende Falte herausschneiden und dann wieder zusammennähen. Auf gleiche Weise wird der <placeName xml:id="placeName_d9e76c08-0be2-43e5-8335-3d337583583b">neue Palast<name key="SGH0103292" style="hidden" subtype="" type="sight">Buckingham Palace</name><settlement key="STM0100126" style="hidden" type="locality">London</settlement><country style="hidden">Großbritannien</country></placeName><note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_e63de2c7-8652-4ece-9614-3f25314e61bf" xml:lang="de">der neue Palast – John Nash baute 1826 das Buckingham House in einen königlichen Palast, den Buckingham Palace, um. Das Gebäude wurde 1837 mit dem Regierungsantritt von Königin Victoria I. von Großbritannien und Irland zur offiziellen Hauptresidenz der britischen Monarchie.</note> gebaut; wenn eine Kuppel, oder irgend ein Vorsprung nicht gefällt, werden sie wieder herunter genommen und was anderes dafür hingesetzt. Die Anlage von <hi rend="latintype">Regents Park</hi> und <hi rend="latintype">Regents Street</hi><note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_7ce4f1cd-fa5c-4f06-b321-93383dc89923" xml:lang="de">Die Anlage von Regents Park und Regents Street – Zwischen 1812 und 1828 gestaltete John Nash den großzügig angelegten Regent’s Park in London als einen der königlichen Parks sowie die umliegenden Straßen, so auch die Regent Street.</note> ist aber in der That das Grossartigste, was ich kenne, beinahe noch schöner, als <placeName xml:id="placeName_873faba5-7b4f-465e-9bd4-1a2934b1cf93">die Linden<name key="SGH0100365" style="hidden" subtype="" type="sight">Unter den Linden</name><settlement key="STM0100101" style="hidden" type="locality">Berlin</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName>. Des Beste aber ist die City, es ist ein wahres Vergnügen, sich durch die Massen von Wagen, Kohlenträgern, Spitzbuben und anderen ehrlichen Leuten bis zu <persName xml:id="persName_8ec40683-2520-4927-8eb1-885af2fdab95">Birch’s<name key="PSN0119050" style="hidden" type="person">Messrs. Birch, Hersteller von Mockturtle-Suppe</name></persName> klassischer Mockturtle-Suppe<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_c5a72944-e137-4370-bcd9-59758e52e66a" xml:lang="en">Mockturtle-Suppe – engl., falsche Schildkrötensuppe.</note> in der Nähe der Bank durchzuarbeiten! Es ist wirklich etwas Dämonisches in dem ungeheuren wüsten Treiben, es ist eine Ordnung da, von der man aber kaum die Gesetze kennt. – Geht man aber an einem Sonntage durch die Strassen, in denen man an den Alltagen buchstäblich sein eigenes Wort nicht hören kann, so erschrickt man fast vor der Stille. So melancholisch man auch die englischen Sonntage auf dem Festlande darstellt, der <choice source="non-autograph_edition template" xml:id="choice_712884b6-a5aa-4b3f-8f96-68c81a4fbd25"><reg>Kontrast</reg><orig source="Vorlage">Konstrast</orig></choice> ist doch noch grösser, als man es sich dort denkt – die Langeweile schon muss die Kirchen füllen. Ueber der Stadt hängt der unbeschreibliche dicke gelbe Nebel, der auch wohl gar in’s Zimmer zieht, alle Läden sind geschlossen, die Zeitung erscheint nicht, eine klägliche Glocke jammert die andächtige Gemeinde zusammen, die englischen Familien amüsiren sich Mittags und Abends am Sonntag ohne fremde Hülfe<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_525c351c-0c13-4d66-be01-fda25217352f" xml:lang="de">die englischen Familien amüsiren sich Mittags und Abends am Sonntag ohne fremde Hülfe – Aufgrund seiner puritanischen Tradition waren in England sonntags Theater- und Unterhaltungsdarbietungen in öffentlichen und privaten Spielstätten verboten.</note> ganz auf ihre eigene Hand, selbst in der Lekture wird eine Auswahl getroffen und Theater ist garnicht denkbar. Mich berührt es freilich nicht, wir sind regelmässig in einem der landsmännischen Häuser gut aufgehoben, aber der allgemeine Zustand überkriecht einen doch zu Zeiten unwillkürlich und man bekennt sich <hi rend="latintype">lowspirited</hi><note resp="FMBC" style="hidden" type="translation" xml:id="note_57f0d841-dcd2-4d33-a4c4-49f796e35eaa" xml:lang="en">lowspirited – engl., niedergeschlagen, gedrückt.</note>. Dass wir in Deutschland am Sonntag Theater haben, können sie hier am wenigsten begreifen, es erscheint ihnen gradezu sündhaft. Es half mir nichts, dass ich einer Miss dagegen argumentirte, indem ich fragte, ob ihr ihr Anzug am Sonntag weniger Vergnügen macht, ob sie mit Appetit ässe oder Thee tränke – es blieb ihr sündhaft. – In <hi n="1" rend="underline">einem</hi> Stücke haben wir Deutschen es aber besonders gut hier, man denkt sich, dass wir Alle mit einer Querpfeife oder einem Piano zur Welt kommen und das jeder Deutsche <hi rend="latintype">a priori</hi> voll Musik steckt. Die guten Leute haben einen rührenden Sinn für Musik und den unvergleichlichsten Magen zum Anhören, wie die Sträusse packen sie Kieselsteine und Bonbons nebeneinander. Und lang – lang ist hier alles; ich glaube, <persName xml:id="persName_8bb767a9-2725-412f-ac0b-0e5ed5f13234">Beethoven<name key="PSN0109771" style="hidden" type="person">Beethoven, Ludwig van (1770-1827)</name></persName> war ein Engländer. Aber die Austern! die sind desto kleiner und zierlicher! Was würde der grosse F. sagen, wenn er aus meinem Fenster nur über die Strasse zu sehen brauchte, um sie appetitlich in einem kleinen hölzernen Gefäss schwimmen zu sehen. Und nicht jene plumpe, fleischige Holsteiner Masse – nein, so zart und elegisch – ordentlich sehnsüchtig sehen sie wie Augen aus dem Wasser heraus, mit wahren Liebesblicken. Und dann der starke, braune, männliche Gesell Porter<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_dcf091ac-4213-4b74-b51f-558dc8f59e4d" xml:lang="en">Porter – dunkles englisches Bier.</note>, in den eigenthümlichen blanken zinnernen Krügen, tapfer schäumend! <persName xml:id="persName_54eae0e7-b16f-4a0e-9ccf-685aad3c3032">Der grosse F.<name key="PSN0000001" style="hidden" type="person">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</name></persName> würde roth werden vor Vergnügen.</p> <p>Ich aber wurde blass von der See. Die See ist der recht grosse Durchbruch. Vor einigen Sonntagen sah ich auf einem Diner eine muntere kleine Frau wieder, mit der ich auf dem Dampfschiff herübergekommen war.<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_26e0f9b4-b1cb-47c0-990a-d61083256412" xml:lang="de">auf dem Dampfschiff herübergekommen war – Klingemann startete seine Überfahrt nach England am 1. September 1827 in Hamburg.</note> „<hi rend="latintype">You looked very miserable</hi>,“ sagte sie lachend, „<hi rend="latintype">you are quite changed now!</hi>“ In der That schaute ich etwas bleichen, wüsten Antlitzes auf’s graue Meer, auf dem Abends der breite Mondschein wie ein unendlicher Seufzer lag – doch war ich nicht seekrank und hatte in meiner gänzlichen Apathie grade noch Klarheit genug zum Träumen. So blieb ich immer auf dem Verdeck, Grog und Schiffszwieback zu meiner einzigen Nahrung! Einige vielgereiste Gesellen spielten um Champagner und hatten nachher die Frechheit, mir ein Glas anzubieten – ich hätt’ es ihnen aus der Hand schlagen mögen! Es war mir aber eine Erinnerung an meine früheren Genüsse verblieben, und ich sah jedesmal mit Neid den dicken norwegischen Consul seinen guten Kaffee auf dem Verdeck schlürfen. Eine Dame nach der andern verschwand, aber die kleine Frau blieb immer oben, mit hellen Augen, las vor, Gott weiss was, oder spielte Schach. – Das waren aber alles nur Episoden, im Uebrigen war alles ruhig, heiter und glatt, die See still und eben, warmer Sonnenschein und milder Wind, nichts von Sturm und Wellen. Die See ist nicht bloss ein grosser Durchbruch, sie ist auch ein grosser Gedankenstrich. Die <placeName xml:id="placeName_f4d78549-cc8c-410f-9f30-c22f124067b9">Elbe<settlement key="STM0105483" style="hidden" type="landscape_form">Elbe</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName> gehört schon mit dazu. Wie ich <date cert="medium" when="1827-09-01">am hellen Morgen des 1. September</date> in <placeName xml:id="placeName_2cf3f75f-c785-4c63-8907-23625c54d296">Hamburg<settlement key="STM0100127" style="hidden" type="locality">Hamburg</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName> am Hafen war, als ein Boot den einsamen Passagier mit seinen wenigen Habseligkeiten durch den Schiffslärm und durch die Kommenden, Begleitenden, Abschiednehmenden und Glückrufenden an’s Dampfschiff gebracht hatte, fing der Gedankenstrich an und schnitt die schöne Phrase ab, – der Dampfkessel brauste den Bass zu dem Liede: <title xml:id="title_3d75d280-d1d6-40c2-9a6e-3c69e8682bee"><title xml:id="title_eecb2137-c044-434e-9d24-0886bae1c2c7">„Es ritten drei Reiter zum Thore hinaus – ade!“<name key="PSN0109533" style="hidden" type="author">Arnim, Karl Joachim (Achim) Friedrich Ludwig von (1781-1831)</name><name key="PSN0110119" style="hidden" type="author">Brentano, Clemens Maria Wenzeslaus (1778-1842)</name><name key="CRT0107648" style="hidden" type="literature">Des Knaben Wunderhorn</name><name key="PSN0109533" style="hidden" type="author">Arnim, Karl Joachim (Achim) Friedrich Ludwig von (1781-1831)</name><name key="CRT0111627" style="hidden" type="literature">Drei Reiter am Thor (»Es ritten drei Reiter zum Thor hinaus, Ade!«)</name></title><name key="PSN0110119" style="hidden" type="author">Brentano, Clemens Maria Wenzeslaus (1778-1842)</name><name key="CRT0111628" style="hidden" type="literature">Drei Reiter am Thor (»Es ritten drei Reiter zum Thor hinaus, Ade!«)</name></title> – –</p> <p>Doch ich will den empfindsamen Handwerksgesellen sehen, der nicht höchlich begeistert wird, wenn man das Zeichen zur Abfahrt giebt und der über dem Rauch aus der Dampfröhre nicht den aus seiner Mutter Kaffeetopfe vergisst. Am Abend wurde es vollends prächtig, wir kamen in die offene See, das Schiff ging höher, der bewusste Mond kam und der Himmel hing voller Pauken und Trompeten. Die kleine Frau lachte zwar über meinen schwindelnden Gang, ich fasste aber Posto<note resp="FMBC" style="hidden" type="translation" xml:id="note_161e2795-e2b3-4075-8694-b6f886dd4aa7" xml:lang="it ">Posto – ital., Stellung, Platz.</note> in meiner Erhabenheit, die ich bei <persName xml:id="persName_fc38220d-cb9c-450d-aee9-2c5e90d162b9">Lutter und Wegener<name key="PSN0117461" style="hidden" type="person">Lutter & Wegener, Weinlokal und -handlung in Berlin</name></persName><note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_3aec1c78-a99d-4372-bf9e-7453a65b1890" xml:lang="de">Lutter und Wegener – das berühmte Weinlokal Lutter & Wegener in der Charlottenstraße 49 in Berlin. Hier verkehrten vor allem Schauspieler, Musiker, Literaten, Künstler und Intellektuelle.</note> wenigstens mit 2 Thlr. hätte bezahlen müssen, hier aber ganz umsonst hatte, – die ganze Vergangenheit sank in’s Meer, und ich stieg in das Spinde zu ländlichem Schlaf. Am anderen Tage kam die Apathie, am dritten Morgen aber lag die Küste von Essex vor uns, mit weissen Schlössern, grauen Thürmen und braunen Dörfern. Wir kamen bald in <hi rend="latintype">Smooth water</hi>, alle Leiden verschwanden, der innere Mensch wurde wieder konsistent und sah munter umher, vor dem Ausfluss der Themse tanzten Hunderte von Schiffen einen grossartigen Cotillon<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_4cfb61ed-2322-47ed-9cdd-a92dfebd8d58" xml:lang="fr ">Cotillon – französischer Gesellschaftstanz für zwei mal vier Paare.</note>, von dessen Ordnung ich nicht mehr verstand, als die antecotillonische Mama von einem wirklichen, in dem sie ihre Tochter nach allen Richtungen hingetrieben sieht. Jetzt wurde unsere Fahrt ein Triumphzug, freilich ein umgekehrter, den <hi rend="latintype">merry England</hi> über uns hielt – der Schiffs-Cotillon wurde in der Themse zur Ecossaise<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_76e9cf18-d0be-43db-a697-f64002df6ba4" xml:lang="fr ">Ecossaise – alter schottischer Volkstanz (Rundtanz), er genoss Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts große Popularität in England und Frankreich.</note> – in langer Reihe zogen sie hinunter und hinauf, Dampfböte figurirten als lustige Gesellen und glitten, mit Passagieren und Musik ausstaffirt, munter vorbei, – die Dörfer, Landhäuser, Flecken und Städte an den Ufern sahen vergnügt zu, bis sie zu immer ansehnlicheren und kompacteren Matronen und aus ihnen zuletzt London selbst wurde – Schiffe, Schiffe und immer Schiffe, Masten ohne Zahl, als wären’s nur soviel Bohnenstangen beim <persName xml:id="persName_4d5eeee7-a3e8-412d-9ae1-6221bdeec92b">Pächter Baumann<name key="PSN0116133" style="hidden" type="person">Baumann, Herr</name></persName> auf der Meierei.<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_0c8dbb24-55e7-4fa7-8624-a20b7e82bbd5" xml:lang="de">Pächter Baumann auf der Meierei – Ein Herr Baumann hatte die an das Grundstück der Mendelssohns in der Leipziger Straße 3 angrenzende Meierei gepachtet. Lea Mendelssohn Bartholdy beschrieb das Gelände als »Meierei, wo ein Pachter mit 12 Kühen sein Wesen treibt und uns frische Milch und Butter liefert« (Brief an Henriette von Pereira-Arnstein in Wien, Berlin, 10. August 1825. D-B, Musikabteilung, MA Nachl. 15,35. Druck: Dinglinger / Elvers, Ewig die deine, S. 146-150, das Zitat S, 147).</note> Um 3 Uhr landeten wir am <placeName xml:id="placeName_a20c573b-56b3-4d83-8243-157c97b2f6f9">alten Tower<name key="SGH0100486" style="hidden" subtype="" type="sight">Tower</name><settlement key="STM0100126" style="hidden" type="locality">London</settlement><country style="hidden">Großbritannien</country></placeName><note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_67097dfb-1b71-40aa-b761-90088193188e" xml:lang="de">alten Tower – Das entlang der Themse gelegene ehemalige Staatsgefängnis ist seit 1603 Museum und beherbergt einen Teil der britischen Kronjuwelen.</note>, nach abgemachten Pass- und Acciseweitläuftigkeiten<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_4083ad8e-fef1-463f-8bfb-9f12a211511d" xml:lang="de">Acciseweitläuftigkeiten – Accise: frz., Verbrauchssteuer, Zoll.</note> fuhr mich ein hurtiger <hi rend="latintype">Hack</hi><note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_1dd190ff-2c8a-4c80-b441-1f7acc349a6d" xml:lang="en">Hack – engl. hackney, Droschke.</note> durch die Länge von London, die ich nicht schon zu Schiffe durchzogen hatte, und ich sass endlich am Abend glücklich bei Goltermann’s, die mir ihr Haus zum Absteigequartier angeboten, beneidete den norwegischen Consul nicht fürder um seinen Kaffeegenuss und hörte zufrieden der Diskussion über <hi rend="latintype">Trade</hi> und das neue Ministerium im besten Englisch zu.</p> <p>Ueber die verrufene Londoner Theuerung kann ich mich nicht beklagen; als Einzelner lebe ich hier mit 300 Lstr.<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_66974ac7-77ab-400a-9036-80f3b1109ce1" xml:lang="en">Lstr. – Livre Sterling, Pfund Sterling.</note> sehr bequem, aber die Familien haben’s schlimmer, das nöthige Haus und die Dienstboten erfordern das Doppelte. Ich bin also zu einer ewigen Jugend verdammt, trotz der Berliner Vorhersagungen wird aus meiner Einförmigkeit so bald keine Zweiförmigkeit und ich gewinne Wetten. Einstweilen haben die neuen Umgebungen manches Stück Jugend wieder zu Tage gefördert, so findet das hiesige Theater einen neuen Menschen an mir, namentlich habe ich englische Lustspiele mit dem grössten Behagen gesehen. Ich mag aber noch nicht entscheiden, ob die Schauspieler wirklich so eigenthümlich und natürlich sind, wie sie mir zum grossen Theil erscheinen oder ob Vieles daran eben der Neuheit und Fremdartigkeit zuzuschreiben ist. Die Spieler, die mir bis jetzt als ganz vortrefflich vorkommen, würden eine ordentliche Liste bilden. Auch das Publikum scheint mir theilnehmender, es lässt sich in einer gewissen kritischen Unschuld durch kräftig vorgebrachte Tiraden zum Klatschen bewegen und lacht bei Spässen herzhaft. An den Theatereingängen aber, ehe die Thüren aufgemacht werden, rufen Polizeileute: „<hi rend="latintype">Gentlemen, take care of your pockets in going in – take care of pickpockets<note resp="FMBC" style="hidden" type="word_description" xml:id="note_f316c3d3-3967-42de-9517-259191724850" xml:lang="en">pickpockets – engl., Taschendiebe.</note>, Gentlemen!</hi>“ – Und ein Jeder sichert seine Habseligkeiten. Ein hiesiges Blatt, der <title xml:id="title_b0960da5-0990-44f8-958e-08b37beb0064">Herold<name key="PSN0120558" style="hidden" type="author">Chalmers, Alexander (1859-1834)</name><name key="CRT0113266" style="hidden" type="periodical">The Morning Herald</name></title>,<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_8d98a07c-fa7c-43c7-bf17-4227e743815e" xml:lang="de">der Herold – die englische Tageszeitung The Morning Herald, London 1780-1869.</note> gibt die Zahl der Spitzbuben beiderlei Geschlechts auf 80-100,000 an.</p> </div> <div n="2" type="act_of_writing" xml:id="div_64bbeb68-a189-4e07-b599-0aaa44a33954"> <docAuthor key="PSN0112434" resp="author" style="hidden">Klingemann, Ernst Georg Carl Christoph Konrad (1798-1862)</docAuthor> <docAuthor key="PSN0112434" resp="writer" style="hidden">Klingemann, Ernst Georg Carl Christoph Konrad (1798-1862)</docAuthor> <p style="paragraph_without_indent"><seg type="dateline"><hi n="1" rend="underline">Den <date cert="high" when="1827-12-11" xml:id="date_4df90c13-e375-4bdd-9dcb-b27024383623">11. Decbr.</date></hi></seg> So wenig als <placeName xml:id="placeName_ecf869c2-72b3-4442-ad57-75da1a3c641e">Rom<settlement key="STM0100177" style="hidden" type="locality">Rom</settlement><country style="hidden">Italien</country></placeName> in einem Tage gebaut wurde, ist mein Brief am vorigen Posttag fertig geworden, die rauhe Hand der Dienstpflicht griff dazwischen. <date cert="high" when="1827-12-10">Gestern am zehnten</date> habe ich Ihnen, verehrtester Herr Mendelssohn, in Gedanken alles mögliche Glück gewünscht<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_5bb77355-2afe-423e-8f90-ac1fdc7e6f0f" xml:lang="de">Gestern am zehnten … alles mögliche Glück gewünscht – Der 10. Dezember war der Geburtstag von Abraham Mendelssohn Bartholdy, die Familie feierte den Jubilar üblicherweise am 11. Dezember.</note> und hin und her gerathen, ob all das niedliche junge Volk Ihnen zu Ehren tanzte, pfiff, agirte oder wie es sonst vermummt war – ich werde es hoffentlich bald erfahren. Ich habe die grösste Sehnsucht nach dortigen Neuigkeiten, mich interessirt Alles, selbst das Strassenpflaster und die litterarische Mittwochgesellschaft.<note resp="FMBC" style="hidden" type="single_place_comment" xml:id="note_4b370481-7488-474b-99e4-0ad6dba22244" xml:lang="de">die litterarische Mittwochgesellschaft – Die musisch-literarisch orientierte Mittwochsgesellschaft wurde am 3. November 1824 von Julius Hitzig gegründet. Die Gesellschaft traf sich zumeist in Lokalen, sie bestand bis 1856. Dort verkehrten Literaten wie Joseph von Eichendorff, Adelbert von Chamisso, Friedrich de la Motte-Fouqué, Karl August Varnhagen von Ense, Achim von Arnim, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Leberecht Immermann.</note> <seg type="closer">Sollten Sie, bester Herr Mendelssohn, sich nicht augenblicklich aufgelegt fühlen, mir zu schreiben, so befehlen Sie es wenigstens strenge einem Ihrer hoffnungsvollen Kinder – etwa dem ältesten Sohne – alles so ausführlich wie möglich im rechten Chronikenstyle. – – </seg></p> </div> </body></text></TEI>