]> Brief: fmb-1837-10-05-01

fmb-1837-10-05-01

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Felix Mendelssohn Bartholdy an Carl Klingemann in London <lb></lb>Leipzig, 5. Oktober 1837 Liebster Klingemann Am ersten ruhigen Morgen hier soll es meine erste Pflicht sein Dir zu schreiben nachdem ich Mutter unsre glückliche Ankunft hier gemeldet habe. Lieber Klingemann mir ist wieder so glücklich und froh zu Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online (FMB-C) noch nicht ermittelt noch nicht ermittelt Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847) Transkription: FMB-C Edition: FMB-C Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe (FMB-C). Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft. Humboldt-Universität zu Berlin
Am Kupfergraben 5 10117 Berlin Deutschland
http://www.mendelssohn-online.com Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0) Bd. 5, 1725

Maschinenlesbare Übertragung der vollständigen Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys (FMB-C)

Israel Jerusalem IL-J Jerusalem, The National Library of Israel (olim: Jewish National and University Library) Lobbenberg Collection ARC. 4° 1651/XI/18. Autograph Felix Mendelssohn Bartholdy an Carl Klingemann in London; Leipzig, 5. Oktober 1837 Liebster Klingemann Am ersten ruhigen Morgen hier soll es meine erste Pflicht sein Dir zu schreiben nachdem ich Mutter unsre glückliche Ankunft hier gemeldet habe. Lieber Klingemann mir ist wieder so glücklich und froh zu

4 beschr. S.; Adresse, mehrere Poststempel.

Felix Mendelssohn Bartholdy

-

Abschrift, D-B, Musikabteilung, MA Nachl. 7,37,40. Klingemann, Briefwechsel, S. 221-223. Sietz, Leben in Briefen, S. 154-158.

Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C: Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz Hin- und Gegenbriefe Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML-TEI-Basis.

Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy 1809-1847 in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept, Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.

5. Oktober 1837 Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)counter-resetMendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847) Leipzig Deutschland Klingemann, Ernst Georg Carl Christoph Konrad (1798-1862) London Großbritannien deutsch
C. Klingemann Esqure London. 4 Hobart Place, Eaton Square Pimlico.
Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)Leipzig den 5ten October 1837.

Liebster Klingemann Am ersten ruhigen Morgen hier soll es meine erste Pflicht sein Dir zu schreiben nachdem ich MutterMendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Lea Felicia Pauline (1777-1842) unsre glückliche Ankunft hier gemeldet habe. Lieber Klingemann mir ist wieder so glücklich und froh zu Muth, die Tage wie lauter Festtage, und ich möchte Du wüßtest es, sähest es, und genössest mit mir dies frohe Leben. Von Frankfurt aus sollte und wollte ich Dir schreiben, dort traf ich aber erst Mittwoch Nachmittags ein, übermüdet nach 5 Nächten Postwagenreise, ungewiß, ob ich am nächsten Morgen und mithin für das SonntagsConcertGewandhausLeipzigDeutschland hier zeitig genug, abreisen könnte; ich war wie schwindlig und hatte den Kopf verloren, es wäre mir unmöglich gewesen nur 2 Zeilen zusammenzubringen. Am nächsten Morgen aber war ich wieder ausgeruht, frisch und munter genug um die Abreise in ein Paar Stunden zu Stande zu bringen, die Fahrt hieher war glücklich und seelig, CécileMendelssohn Bartholdy, Cécile Sophie Charlotte (1817-1853) so wohl, wie ichs mir nur wünschen durfte, und nun fange ich wieder an zu Athem und zur Ruhe zu kommen. Miserabel war meine Reise nach Frankfurt von Dover an gings los, die See hoch, das Dampfboot weit vom Hafen, wir in einen kleinen Kahn gepreßt, von den Seeleuten geprellt, kamen an Bord schon seekrank an (lach nicht, zwei Schweizer die mit mir waren übertrafen mich noch bei weitem, und das ganze Schiff spie) nach 3 Stunden Skandal sah der Capitain er könne nicht nach Calais kommen, und nach 5 Stunden Fahrt kamen wir in Boulogne ans Land – ich hatte in 24 Stunden nichts gegessen, sondern im Gegentheil, – und ich fluchte mehrmals. Abends um 9 ging die diligence nach Lille ab, und ich mit; und woher kommts denn, daß ich erst diesmal bemerkte daß eine Französische oder Belgische diligence das mordinfamste Wesen ist, das Gott im Zorn erschaffen hat? Die deutschen Eilwägen stehn soviel drüber erhaben, wie eine mail wieder über deutschen Eilwägen. Die gepflasterten Chausséen allein sind schon wenig lieblich, aber damit man sie goutiren kann ist solch eine verfluchte diligence ganz voll wackelnder Glasfenster, die bei jedem unegalen Stein anders klirren, und alle Steine sind unegal. Und dann halten sie still, wenn einer auf der Landstraße einsteigen will, und handeln, und werden nicht einig, und fahren langsam weiter, und rasseln, und die dicken Pferde mit Blumensträußen in den gewickelten Schwänzen, die gar nicht laufen sondern sich winden und wälzen, wie Trampelthiere – so wurde ich langsam von einem Freiheitsbaum zum andern transportirt, denn die Septembertage waren eben gefeiert, in Lüttich war ich Montag Abend, sollte erst Dinstag Abend nach Cöln kommen, nahm Extrapost, war Dinstag früh zum Dampfboot zeitig genug in Cöln (d. h. um 11) und sollte die Nacht durch auf dem Boot fahren, worauf ich mich nicht wenig freute, und um Mittag am Mittwoch in Mainz sein. Schon um 8 Uhr Abends legte ich mich auf die Bank und schlief, und hörte im Schlaf wie wir in Coblenz ankamen und um Mitternacht weiterfuhren; um 2 Uhr wachte ich aber wieder auf, da stand das Schiff fest, und konnte vor Nebel nicht fahren, und der Conducteur sagte sie müßten wenigstens 6 Stunden noch liegen bleiben; es war bei Horchheim, ich ging ans Land, zu Fuß nach Coblenz durch den dicken Nebel, kam Nachts um 3 dort an, nahm Postchaisen, fuhr bis um 10 des andern Morgens durch den dicken Dunst an allen Stellen vorbei an denen wir vor 6 Wochen in der Wärme und im Sonnenschein gehaus’t hatten, und Nachmittags gegen 3 war ich in Frankfurt, traf meine CécileMendelssohn Bartholdy, Cécile Sophie Charlotte (1817-1853) wohl und gesund, mich erwartend, und freilich hatte ich eine starke Anwandlung ein Paar Tage dort zu bleiben, mich wieder ganz aufzufrischen und erst zum 2ten ConcertGewandhausLeipzigDeutschland hier zu sein, indeß siegte das Gewissen, wir reis’ten das schönste Wetter kam dazu um uns die Reise zu verschönen, in Naumburg verfehlten wir zu unserm Verdrusse MühlenfelsMühlenfels, Ludwig von (1793-1861), der nach Halle gereis’t war, und vorgestern hier durchkam und mich wieder verfehlte, Sonntag um 2 kamen wir hier an, Mme. SchunckSchunck, Juliane (Julie) Louise (1789-1862) hat für uns ein PrivatquartierReichels GartenLeipzigDeutschland gemiethet und sehr hübsch ausstaffirt mit meinem Clavier, unsern Möbeln, Gardinen, mit Blumen &c. und hoffentlich werden wir schon in 4 Wochen in unsre WohnungLurgensteins GartenLeipzigDeutschland, die gerade das Nebenhaus ist, einziehen können. Was das nun aber für ein Plaisir ist, die CécileMendelssohn Bartholdy, Cécile Sophie Charlotte (1817-1853) mit dem MädchenHausmädchen von → Felix Mendelssohn Bartholdy und → Cécile Mendelssohn Bartholdy in Leipzig (1837) über die Küche verhandeln zu hören, oder dem Tapezirer und Maurer Aufträge geben, oder Töpfe und Teller einkaufen – und wie einzig wohl mir es ist, Abends zu Haus zu sein, ruhig, glücklich, und gar nicht allein, das müßtest Du eben Alles sehen, lieber Klingemann, sagen läßt es sich nicht, aber es ist gar zu viel Glück für mich, ich weiß nicht wie [ich] dankbar genug dafür sein soll. Gestern Mittag hab ich zum erstenmal bei uns zu Mittag gegessen, so gut hat mir auch das Essen in meinem Leben nicht geschmeckt, ich fraß wie ein Rhinoceros, und CécileMendelssohn Bartholdy, Cécile Sophie Charlotte (1817-1853) nöthigte mich dennoch. Ich kann mir denken, daß Du lachst, aber komm und sieh uns zu und sage dann ob ich nicht allzu glücklich bin, und ob ich Dir das nicht schreiben muß.

Dies soll nur mein Ankunftsbericht sein, meinen Monatsbrief am 15ten schreib ich gleich, wenn ich den Deinigen bekommen habe, wie ich hoffe und wünsche. Sag mir, hast Du an MoriMori, Nicolas (1796-1839) die Praelud. und Fugen<list style="hidden" type="fmb_works_directory" xml:id="title_8hpkyva1-inba-8dpa-ug0m-y3yqzhzdesno"> <item n="1" sortKey="musical_works" style="hidden"></item> <item n="2" sortKey="collective_sources" style="hidden"></item> <item n="3" sortKey="collective_prints" style="hidden"></item></list><name key="PSN0000001" style="hidden" type="author">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</name><name key="PRC0100630" style="hidden">Sechs Präludien und Fugen für Klavier, 1837; enthält MWV U 116 und U 66, U 129 und U 105, U 131 und U 91, U 122 und U 108, U 126 und U 106, U 135 und U 128<idno type="MWV">SD 14</idno><idno type="op">35</idno></name> gegeben? Bitte thue es gleich, wenn Du es vergessen haben solltest. Und wird mir ChappellChappell, William (1809-1888) nach Leipzig schreiben? Hat sich meine Mütze noch gefunden? Hat nicht LockLock, Mr. eine unrechte Times in meinen Koffer gepackt? Die, die ich fand war ja ganz alt, handelte über die Aufführung in Exeter HallExeter HallLondonGroßbritannien, und war sehr bedeutend dümmlich, ist das die, welche mir ClarkeClarke, Charles Cowden (1787-1877) zu meinem Frommen schicken wollte? Und wann werden die Berliner BeneckesBenecke, Victor (1809-1853)Benecke, Emmeline (1813-1877) wieder in Berlin sein? Bitte, beantworte mir alle diese Fragen. Und vom SonntagsConcertGewandhausLeipzigDeutschland habe ich Dir noch nichts erzählt, weil ich in meine und CécilesMendelssohn Bartholdy, Cécile Sophie Charlotte (1817-1853) Haushaltung gerieth, die mich ganz und gar absorbirt, wenn ich davon anfange – nun, das ConcertGewandhausLeipzigDeutschland ging um 6 los, mein Frack war zu der Zeit ausgebürstet genug, das Publikum klatschte als ich kam, wir machten die Jubel-Ouvert.<name key="PSN0115645" style="hidden" type="author">Weber, Carl Maria Friedrich Ernst von (1786-1826)</name><name key="CRT0111248" style="hidden" type="music">Jubel-Ouvertüre E-Dur, op. 59 (WeV M. 6)</name> von Weber gut, und die cmoll Symph. v. Beethoven<name key="PSN0109771" style="hidden" type="author">Beethoven, Ludwig van (1770-1827)</name><name key="CRT0108066" style="hidden" type="music">5. Sinfonie c-Moll, op. 67 (»Schicksal«)</name> mittelmäßig, DavidDavid, Ernst Victor Carl Ferdinand (1810-1873) spielte ein neues Violin Concert<name key="PSN0110564" style="hidden" type="author">David, Ernst Victor Carl Ferdinand (1810-1873)</name><name key="CRT0108525" style="hidden" type="music">Violinkonzert h-Moll (1837)</name> sehr gut, &c &c und allerdings war ich nachher einigermaßen wie gerädert, denn die Posaunen und Pauken wollten sich eifrig beweisen, und machten gräulichen Höllenlärm. Von allem was mir in England begegnet ist, macht die Geschichte mit dem Balgentreter, die in allen deutschen Zeitungen gestanden hat, den meisten Eindruck auf meine Bekanntschaft; mir ist auf Ehre, kein Mensch begegnet, außer SchleinitzSchleinitz, Heinrich Conrad (1802-1881) und DavidDavid, Ernst Victor Carl Ferdinand (1810-1873), der mich nicht zuerst danach gefragt hätte. Einestheils glauben sie, es sei mir ein bischen unangenehm, das ist ein Grund, und anderntheils machen sie dann Bemerkungen über das unmusikalische Land, wo so etwas vorfallen könnte. Wenn die dann wüßten, wie ich in Berlin die Organisten bitten, und bezahlen, und bewirthen mußte, damit ich auf eine Stunde Orgel spielen durfte, und wie 10mal ich während solcher Stunde aufhören mußte, wegen dieses oder jenes Grunds, da sprächen sie wohl anders. Übrigens habe ich mir vorgenommen, diese Zeit hier fleißig Orgel zu studiren, da sie mich doch einmal für einen Orgelspieler halten, damit ichs hintennach auch werde.

Nun möchte ich Dir wohl auch noch einmal sagen: ich danke – aber Du mußt es wissen, weißt Du es nicht, so kann ichs auch nicht genug sagen. Wisse es, wie ich Dir dankbar bin, und komm mal her zu uns, Du Freund. CécileMendelssohn Bartholdy, Cécile Sophie Charlotte (1817-1853) will Dich nächstens selbst einladen (wenn sie es erst könnte, sagt sie) und heut soll ich Dir „ganz viel schöne Grüße“ sagen. Das schließt gut

Auf WiedersehnDein Felix MB
Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)

Und grüß mir Horsley’sHorsley, Familie von → William H.! Sehr! Und schreib mir von ihnen.

Kennst Du das Papier?

            Leipzig den 5ten October 1837. Liebster Klingemann Am ersten ruhigen Morgen hier soll es meine erste Pflicht sein Dir zu schreiben nachdem ich Mutter unsre glückliche Ankunft hier gemeldet habe. Lieber Klingemann mir ist wieder so glücklich und froh zu Muth, die Tage wie lauter Festtage, und ich möchte Du wüßtest es, sähest es, und genössest mit mir dies frohe Leben. Von Frankfurt aus sollte und wollte ich Dir schreiben, dort traf ich aber erst Mittwoch Nachmittags ein, übermüdet nach 5 Nächten Postwagenreise, ungewiß, ob ich am nächsten Morgen und mithin für das SonntagsConcert hier zeitig genug, abreisen könnte; ich war wie schwindlig und hatte den Kopf verloren, es wäre mir unmöglich gewesen nur 2 Zeilen zusammenzubringen. Am nächsten Morgen aber war ich wieder ausgeruht, frisch und munter genug um die Abreise in ein Paar Stunden zu Stande zu bringen, die Fahrt hieher war glücklich und seelig, Cécile so wohl, wie ichs mir nur wünschen durfte, und nun fange ich wieder an zu Athem und zur Ruhe zu kommen. Miserabel war meine Reise nach Frankfurt von Dover an gings los, die See hoch, das Dampfboot weit vom Hafen, wir in einen kleinen Kahn gepreßt, von den Seeleuten geprellt, kamen an Bord schon seekrank an (lach nicht, zwei Schweizer die mit mir waren übertrafen mich noch bei weitem, und das ganze Schiff spie) nach 3 Stunden Skandal sah der Capitain er könne nicht nach Calais kommen, und nach 5 Stunden Fahrt kamen wir in Boulogne ans Land – ich hatte in 24 Stunden nichts gegessen, sondern im Gegentheil, – und ich fluchte mehrmals. Abends um 9 ging die diligence nach Lille ab, und ich mit; und woher kommts denn, daß ich erst diesmal bemerkte daß eine Französische oder Belgische diligence das mordinfamste Wesen ist, das Gott im Zorn erschaffen hat? Die deutschen Eilwägen stehn soviel drüber erhaben, wie eine mail wieder über deutschen Eilwägen. Die gepflasterten Chausséen allein sind schon wenig lieblich, aber damit man sie goutiren kann ist solch eine verfluchte diligence ganz voll wackelnder Glasfenster, die bei jedem unegalen Stein anders klirren, und alle Steine sind unegal. Und dann halten sie still, wenn einer auf der Landstraße einsteigen will, und handeln, und werden nicht einig, und fahren langsam weiter, und rasseln, und die dicken Pferde mit Blumensträußen in den gewickelten Schwänzen, die gar nicht laufen sondern sich winden und wälzen, wie Trampelthiere – so wurde ich langsam von einem Freiheitsbaum zum andern transportirt, denn die Septembertage waren eben gefeiert, in Lüttich war ich Montag Abend, sollte erst Dinstag Abend nach Cöln kommen, nahm Extrapost, war Dinstag früh zum Dampfboot zeitig genug in Cöln (d. h. um 11) und sollte die Nacht durch auf dem Boot fahren, worauf ich mich nicht wenig freute, und um Mittag am Mittwoch in Mainz sein. Schon um 8 Uhr Abends legte ich mich auf die Bank und schlief, und hörte im Schlaf wie wir in Coblenz ankamen und um Mitternacht weiterfuhren; um 2 Uhr wachte ich aber wieder auf, da stand das Schiff fest, und konnte vor Nebel nicht fahren, und der Conducteur sagte sie müßten wenigstens 6 Stunden noch liegen bleiben; es war bei Horchheim, ich ging ans Land, zu Fuß nach Coblenz durch den dicken Nebel, kam Nachts um 3 dort an, nahm Postchaisen, fuhr bis um 10 des andern Morgens durch den dicken Dunst an allen Stellen vorbei an denen wir vor 6 Wochen in der Wärme und im Sonnenschein gehaus’t hatten, und Nachmittags gegen 3 war ich in Frankfurt, traf meine Cécile wohl und gesund, mich erwartend, und freilich hatte ich eine starke Anwandlung ein Paar Tage dort zu bleiben, mich wieder ganz aufzufrischen und erst zum 2ten Concert hier zu sein, indeß siegte das Gewissen, wir reis’ten das schönste Wetter kam dazu um uns die Reise zu verschönen, in Naumburg verfehlten wir zu unserm Verdrusse Mühlenfels, der nach Halle gereis’t war, und vorgestern hier durchkam und mich wieder verfehlte, Sonntag um 2 kamen wir hier an, Mme. Schunck hat für uns ein Privatquartier gemiethet und sehr hübsch ausstaffirt mit meinem Clavier, unsern Möbeln, Gardinen, mit Blumen &c. und hoffentlich werden wir schon in 4 Wochen in unsre Wohnung, die gerade das Nebenhaus ist, einziehen können. Was das nun aber für ein Plaisir ist, die Cécile mit dem Mädchen über die Küche verhandeln zu hören, oder dem Tapezirer und Maurer Aufträge geben, oder Töpfe und Teller einkaufen – und wie einzig wohl mir es ist, Abends zu Haus zu sein, ruhig, glücklich, und gar nicht allein, das müßtest Du eben Alles sehen, lieber Klingemann, sagen läßt es sich nicht, aber es ist gar zu viel Glück für mich, ich weiß nicht wie ich dankbar genug dafür sein soll. Gestern Mittag hab ich zum erstenmal bei uns zu Mittag gegessen, so gut hat mir auch das Essen in meinem Leben nicht geschmeckt, ich fraß wie ein Rhinoceros, und Cécile nöthigte mich dennoch. Ich kann mir denken, daß Du lachst, aber komm und sieh uns zu und sage dann ob ich nicht allzu glücklich bin, und ob ich Dir das nicht schreiben muß.
Dies soll nur mein Ankunftsbericht sein, meinen Monatsbrief am 15ten schreib ich gleich, wenn ich den Deinigen bekommen habe, wie ich hoffe und wünsche. Sag mir, hast Du an Mori die Praelud. und Fugen gegeben? Bitte thue es gleich, wenn Du es vergessen haben solltest. Und wird mir Chappell nach Leipzig schreiben? Hat sich meine Mütze noch gefunden? Hat nicht Lock eine unrechte Times in meinen Koffer gepackt? Die, die ich fand war ja ganz alt, handelte über die Aufführung in Exeter Hall, und war sehr bedeutend dümmlich, ist das die, welche mir Clarke zu meinem Frommen schicken wollte? Und wann werden die Berliner Beneckes wieder in Berlin sein? Bitte, beantworte mir alle diese Fragen. Und vom SonntagsConcert habe ich Dir noch nichts erzählt, weil ich in meine und Céciles Haushaltung gerieth, die mich ganz und gar absorbirt, wenn ich davon anfange – nun, das Concert ging um 6 los, mein Frack war zu der Zeit ausgebürstet genug, das Publikum klatschte als ich kam, wir machten die Jubel-Ouvert. von Weber gut, und die cmoll Symph. v. Beethoven mittelmäßig, David spielte ein neues Violin Concert sehr gut, &c &c und allerdings war ich nachher einigermaßen wie gerädert, denn die Posaunen und Pauken wollten sich eifrig beweisen, und machten gräulichen Höllenlärm. Von allem was mir in England begegnet ist, macht die Geschichte mit dem Balgentreter, die in allen deutschen Zeitungen gestanden hat, den meisten Eindruck auf meine Bekanntschaft; mir ist auf Ehre, kein Mensch begegnet, außer Schleinitz und David, der mich nicht zuerst danach gefragt hätte. Einestheils glauben sie, es sei mir ein bischen unangenehm, das ist ein Grund, und anderntheils machen sie dann Bemerkungen über das unmusikalische Land, wo so etwas vorfallen könnte. Wenn die dann wüßten, wie ich in Berlin die Organisten bitten, und bezahlen, und bewirthen mußte, damit ich auf eine Stunde Orgel spielen durfte, und wie 10mal ich während solcher Stunde aufhören mußte, wegen dieses oder jenes Grunds, da sprächen sie wohl anders. Übrigens habe ich mir vorgenommen, diese Zeit hier fleißig Orgel zu studiren, da sie mich doch einmal für einen Orgelspieler halten, damit ichs hintennach auch werde.
Nun möchte ich Dir wohl auch noch einmal sagen: ich danke – aber Du mußt es wissen, weißt Du es nicht, so kann ichs auch nicht genug sagen. Wisse es, wie ich Dir dankbar bin, und komm mal her zu uns, Du Freund. Cécile will Dich nächstens selbst einladen (wenn sie es erst könnte, sagt sie) und heut soll ich Dir „ganz viel schöne Grüße“ sagen. Das schließt gut
Auf WiedersehnDein Felix MB
Und grüß mir Horsley’s! Sehr! Und schreib mir von ihnen.
Kennst Du das Papier?          
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Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept,  Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.</p></editorialDecl></encodingDesc> <profileDesc> <creation> <date cert="high" when="1837-10-05" xml:id="date_ff58d881-d614-464c-9524-f89c289c1e2b">5. Oktober 1837</date></creation> <correspDesc> <correspAction type="sent"> <persName key="PSN0000001" resp="author" xml:id="persName_a756b994-e91d-4bf0-995e-10ace4463cf4">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName><note>counter-reset</note><persName key="PSN0000001" resp="writer">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName> <placeName type="writing_place" xml:id="placeName_b90799aa-80b2-48e9-a87b-f6f40360a492"> <settlement key="STM0100116">Leipzig</settlement> <country>Deutschland</country></placeName></correspAction> <correspAction type="received"> <persName key="PSN0112434" resp="receiver" xml:id="persName_47bb6f4a-e4c3-4837-b37c-2c4264e5ce69">Klingemann, Ernst Georg Carl Christoph Konrad (1798-1862)</persName> <placeName type="receiving_place" xml:id="placeName_d47d4f15-a160-4e88-a9b0-bdb80d3134d0"> <settlement key="STM0100126">London</settlement> <country>Großbritannien</country> </placeName></correspAction> </correspDesc> <langUsage> <language ident="de">deutsch</language> </langUsage> </profileDesc> <revisionDesc status="draft">  </revisionDesc> </teiHeader> <text type="letter"> <body> <div type="address" xml:id="div_90884169-8ebe-4848-9cdf-6d4ca1f7f8c4"> <head> <address> <addrLine>C. Klingemann</addrLine> <addrLine>Esqure</addrLine> <addrLine>London.</addrLine> <addrLine>4 Hobart Place, Eaton Square</addrLine> <addrLine>Pimlico.</addrLine> </address> </head> </div> <div n="1" type="act_of_writing" xml:id="div_f5ec8ec3-9c3a-4143-9bc1-2149ad0a8cbf"><docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor><docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor><dateline rend="right">Leipzig den <date cert="high" when="1837-10-05" xml:id="date_177b08d7-df42-4e50-a7e1-aa5e96c3bc2d">5<hi rend="superscript">ten</hi> October 1837</date>.</dateline><p style="paragraph_without_indent"><seg type="salute">Liebster Klingemann</seg> Am ersten ruhigen Morgen hier soll es meine erste Pflicht sein Dir zu schreiben nachdem ich <persName xml:id="persName_95983465-6f2c-47c9-825c-a0c737a63713">Mutter<name key="PSN0113260" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Lea Felicia Pauline (1777-1842)</name></persName> unsre glückliche Ankunft hier gemeldet habe. Lieber Klingemann mir ist wieder so glücklich und froh zu Muth, die Tage wie lauter Festtage, und ich möchte Du wüßtest es, sähest es, und genössest mit mir dies frohe Leben. Von Frankfurt aus sollte und wollte ich Dir schreiben, dort traf ich aber erst Mittwoch Nachmittags ein, übermüdet nach 5 Nächten Postwagenreise, ungewiß, ob ich am nächsten Morgen und mithin für das <placeName xml:id="placeName_2e47113f-6c2e-4035-bc1c-fb30e6dc65fd">SonntagsConcert<name key="NST0100117" style="hidden" subtype="" type="institution">Gewandhaus</name><settlement key="STM0100116" style="hidden" type="">Leipzig</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName> hier zeitig genug, abreisen könnte; ich war wie schwindlig und hatte den Kopf verloren, es wäre mir unmöglich gewesen nur 2 Zeilen zusammenzubringen. Am nächsten Morgen aber war ich wieder ausgeruht, frisch und munter genug um die Abreise in ein Paar Stunden zu Stande zu bringen, die Fahrt hieher war glücklich und seelig, <persName xml:id="persName_dbe26ce1-3b10-4e90-8ce0-83b0d69d16f1">Cécile<name key="PSN0113252" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy, Cécile Sophie Charlotte (1817-1853)</name></persName> so wohl, wie ichs mir nur wünschen durfte, und nun fange ich wieder an zu Athem und zur Ruhe zu kommen. Miserabel war meine Reise nach Frankfurt von Dover an gings los, die See hoch, das Dampfboot weit vom Hafen, wir in einen kleinen Kahn gepreßt, von den Seeleuten geprellt, kamen an Bord schon seekrank an (lach nicht, zwei Schweizer die mit mir waren übertrafen mich noch bei weitem, und das ganze Schiff spie) nach 3 Stunden Skandal sah der Capitain er könne nicht nach Calais kommen, und nach 5 Stunden Fahrt kamen wir in Boulogne ans Land – ich hatte in 24 Stunden nichts gegessen, sondern im Gegentheil, – und ich fluchte mehrmals. Abends um 9 ging die diligence nach Lille ab, und ich mit; und woher kommts denn, daß ich erst diesmal bemerkte daß eine Französische oder Belgische diligence das mordinfamste Wesen ist, das Gott im Zorn erschaffen hat? Die deutschen Eilwägen stehn soviel drüber erhaben, wie eine mail wieder über deutschen Eilwägen. Die gepflasterten Chausséen allein sind schon wenig lieblich, aber damit man sie goutiren kann ist solch eine verfluchte diligence ganz voll wackelnder Glasfenster, die bei jedem unegalen Stein anders klirren, und alle Steine sind unegal. Und dann halten sie still, wenn einer auf der Landstraße einsteigen will, und handeln, und werden nicht einig, und fahren langsam weiter, und rasseln, und die dicken Pferde mit Blumensträußen in den gewickelten Schwänzen, die gar nicht laufen sondern sich winden und wälzen, wie Trampelthiere – so wurde ich langsam von einem Freiheitsbaum zum andern transportirt, denn die Septembertage waren eben gefeiert, in Lüttich war ich Montag Abend, sollte erst Dinstag Abend nach Cöln kommen, nahm Extrapost, war Dinstag früh zum Dampfboot zeitig genug in Cöln (d. h. um 11) und sollte die Nacht durch auf dem Boot fahren, worauf ich mich nicht wenig freute, und um Mittag am Mittwoch in Mainz sein. Schon um 8 Uhr Abends legte ich mich auf die Bank und schlief, und hörte im Schlaf wie wir in Coblenz ankamen und um Mitternacht weiterfuhren; um 2 Uhr wachte ich aber wieder auf, da stand das Schiff fest, und konnte vor Nebel nicht fahren, und der Conducteur sagte sie müßten wenigstens 6 Stunden noch liegen bleiben; es war bei Horchheim, ich ging ans Land, zu Fuß nach Coblenz durch den dicken Nebel, kam Nachts um 3 dort an, nahm Postchaisen, fuhr bis um 10 des andern Morgens durch den dicken Dunst an allen Stellen vorbei an denen wir vor 6 Wochen in der Wärme und im Sonnenschein gehaus’t hatten, und Nachmittags gegen 3 war ich in Frankfurt, traf <persName xml:id="persName_ae85a7c8-f1ba-43be-89bb-b0e28e363dbd">meine Cécile<name key="PSN0113252" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy, Cécile Sophie Charlotte (1817-1853)</name></persName> wohl und gesund, mich erwartend, und freilich hatte ich eine starke Anwandlung ein Paar Tage dort zu bleiben, mich wieder ganz aufzufrischen und erst zum 2<hi rend="superscript">ten</hi> <placeName xml:id="placeName_00c45b29-9bea-4934-a067-80f4d285bfbc">Concert<name key="NST0100117" style="hidden" subtype="" type="institution">Gewandhaus</name><settlement key="STM0100116" style="hidden" type="">Leipzig</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName> hier zu sein, indeß siegte das Gewissen, wir reis’ten das schönste Wetter kam dazu um uns die Reise zu verschönen, in Naumburg verfehlten wir zu unserm Verdrusse <persName xml:id="persName_b6b517f9-1ad4-43e5-9bef-9e3da3c0ece6">Mühlenfels<name key="PSN0113471" style="hidden">Mühlenfels, Ludwig von (1793-1861)</name></persName>, der nach Halle gereis’t war, und vorgestern hier durchkam und mich wieder verfehlte, Sonntag um 2 kamen wir hier an, <persName xml:id="persName_5be3e1ac-a31a-4ea8-be3a-e9bb6a5f9c54">Mme. Schunck<name key="PSN0114769" style="hidden">Schunck, Juliane (Julie) Louise (1789-1862)</name></persName> hat für uns ein <placeName xml:id="placeName_78ae8d8b-623a-4376-bdae-a96ffe1788c8">Privatquartier<name key="NST0100310" style="hidden" subtype="" type="institution">Reichels Garten</name><settlement key="STM0100116" style="hidden" type="">Leipzig</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName> gemiethet und sehr hübsch ausstaffirt mit meinem Clavier, unsern Möbeln, Gardinen, mit Blumen &amp;c. und hoffentlich werden wir schon in 4 Wochen in unsre <placeName xml:id="placeName_a674bb12-3564-465f-a557-8cbc0c777fb9">Wohnung<name key="NST0100540" style="hidden" subtype="" type="institution">Lurgensteins Garten</name><settlement key="STM0100116" style="hidden" type="">Leipzig</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName>, die gerade das Nebenhaus ist, einziehen können. Was das nun aber für ein Plaisir ist, die <persName xml:id="persName_a69f0ab0-7b15-460e-848d-2b9dff34daac">Cécile<name key="PSN0113252" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy, Cécile Sophie Charlotte (1817-1853)</name></persName> mit dem <persName xml:id="persName_f03d741e-323e-44d2-ae2d-607dc9b79721">Mädchen<name key="PSN0111779" style="hidden">Hausmädchen von → Felix Mendelssohn Bartholdy und → Cécile Mendelssohn Bartholdy in Leipzig (1837)</name></persName> über die Küche verhandeln zu hören, oder dem Tapezirer und Maurer Aufträge geben, oder Töpfe und Teller einkaufen – und wie einzig wohl mir es ist, Abends zu Haus zu sein, ruhig, glücklich, und gar nicht allein, das müßtest Du eben Alles sehen, lieber Klingemann, sagen läßt es sich nicht, aber es ist gar zu viel Glück für mich, ich weiß nicht wie [ich] dankbar genug dafür sein soll. Gestern Mittag hab ich zum erstenmal bei uns zu Mittag gegessen, so gut hat mir auch das Essen in meinem Leben nicht geschmeckt, ich fraß wie ein Rhinoceros, und <persName xml:id="persName_8f904c6b-85d9-4217-ad8a-a3376b3e44c0">Cécile<name key="PSN0113252" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy, Cécile Sophie Charlotte (1817-1853)</name></persName> nöthigte mich dennoch. Ich kann mir denken, daß Du lachst, aber komm und sieh uns zu und sage dann ob ich nicht allzu glücklich bin, und ob ich Dir das nicht schreiben muß.</p><p>Dies soll nur mein Ankunftsbericht sein, meinen Monatsbrief am 15<hi rend="superscript">ten</hi> schreib ich gleich, wenn ich den Deinigen bekommen habe, wie ich hoffe und wünsche. Sag mir, hast Du an <persName xml:id="persName_82e65489-20cf-4173-b5ff-525351fe5cf9">Mori<name key="PSN0113424" style="hidden">Mori, Nicolas (1796-1839)</name></persName> die <title xml:id="title_72d5d6b5-13a0-448e-afe8-a1ddbd9eb4d5">Praelud. und Fugen<list style="hidden" type="fmb_works_directory" xml:id="title_8hpkyva1-inba-8dpa-ug0m-y3yqzhzdesno"> <item n="1" sortKey="musical_works" style="hidden"></item> <item n="2" sortKey="collective_sources" style="hidden"></item> <item n="3" sortKey="collective_prints" style="hidden"></item></list><name key="PSN0000001" style="hidden" type="author">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</name><name key="PRC0100630" style="hidden">Sechs Präludien und Fugen für Klavier, 1837; enthält MWV U 116 und U 66, U 129 und U 105, U 131 und U 91, U 122 und U 108, U 126 und U 106, U 135 und U 128<idno type="MWV">SD 14</idno><idno type="op">35</idno></name></title> gegeben? Bitte thue es gleich, wenn Du es vergessen haben solltest. Und wird mir <persName xml:id="persName_5e489c71-2bdf-4d08-afac-55c33ab890e0">Chappell<name key="PSN0110351" style="hidden">Chappell, William (1809-1888)</name></persName> nach Leipzig schreiben? Hat sich meine Mütze noch gefunden? Hat nicht <persName xml:id="persName_155237a7-03b2-4acd-b14a-4ee63fa9d096">Lock<name key="PSN0112904" style="hidden">Lock, Mr.</name></persName> eine unrechte <hi rend="underline">Times</hi> in meinen Koffer gepackt? Die, die ich fand war ja ganz alt, handelte über die Aufführung in <placeName xml:id="placeName_ccdb7ad3-5437-48a7-b4b0-6060cc9a9a0c">Exeter Hall<name key="SGH0100543" style="hidden" subtype="" type="sight">Exeter Hall</name><settlement key="STM0100126" style="hidden" type="">London</settlement><country style="hidden">Großbritannien</country></placeName>, und war sehr bedeutend dümmlich, ist das die, welche mir <persName xml:id="persName_b5db6898-3f3e-422c-823f-5e1516f2a3cd">Clarke<name key="PSN0110401" style="hidden">Clarke, Charles Cowden (1787-1877)</name></persName> zu meinem Frommen schicken wollte? Und wann werden die Berliner <persName xml:id="persName_c3e93b92-91b3-495b-b6c1-fc2af5fcfe0d">Beneckes<name key="PSN0109835" style="hidden">Benecke, Victor (1809-1853)</name><name key="PSN0109823" style="hidden">Benecke, Emmeline (1813-1877)</name></persName> wieder in Berlin sein? Bitte, beantworte mir alle diese Fragen. Und vom <placeName xml:id="placeName_a4c0887b-536e-4217-8d18-a28accc25dc6">SonntagsConcert<name key="NST0100117" style="hidden" subtype="" type="institution">Gewandhaus</name><settlement key="STM0100116" style="hidden" type="">Leipzig</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName> habe ich Dir noch nichts erzählt, weil ich in meine und <persName xml:id="persName_5246c032-76b5-401b-8623-3d823a2d61ff">Céciles<name key="PSN0113252" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy, Cécile Sophie Charlotte (1817-1853)</name></persName> Haushaltung gerieth, die mich ganz und gar absorbirt, wenn ich davon anfange – nun, das <placeName xml:id="placeName_94c9abc6-5c82-4769-95ee-03ace308c150">Concert<name key="NST0100117" style="hidden" subtype="" type="institution">Gewandhaus</name><settlement key="STM0100116" style="hidden" type="">Leipzig</settlement><country style="hidden">Deutschland</country></placeName> ging um 6 los, mein Frack war zu der Zeit ausgebürstet genug, das Publikum klatschte als ich kam, wir machten die <title xml:id="title_fd297d07-abd3-43a8-a3ee-752fac0c173e">Jubel-Ouvert.<name key="PSN0115645" style="hidden" type="author">Weber, Carl Maria Friedrich Ernst von (1786-1826)</name><name key="CRT0111248" style="hidden" type="music">Jubel-Ouvertüre E-Dur, op. 59 (WeV M. 6)</name></title> von Weber gut, und <title xml:id="title_9e2335d8-6cd7-4dfd-9d44-7db35db0c442">die cmoll Symph. v. Beethoven<name key="PSN0109771" style="hidden" type="author">Beethoven, Ludwig van (1770-1827)</name><name key="CRT0108066" style="hidden" type="music">5. Sinfonie c-Moll, op. 67 (»Schicksal«)</name></title> mittelmäßig, <persName xml:id="persName_e4271e2c-1ab5-4e86-b9af-acd76e4cfd43">David<name key="PSN0110564" style="hidden">David, Ernst Victor Carl Ferdinand (1810-1873)</name></persName> spielte <title xml:id="title_e160de86-500f-4f17-a244-b611fdd55f5d">ein neues Violin Concert<name key="PSN0110564" style="hidden" type="author">David, Ernst Victor Carl Ferdinand (1810-1873)</name><name key="CRT0108525" style="hidden" type="music">Violinkonzert h-Moll (1837)</name></title> sehr gut, &amp;c &amp;c und allerdings war ich nachher einigermaßen wie gerädert, denn die Posaunen und Pauken wollten sich eifrig beweisen, und machten gräulichen Höllenlärm. Von allem was mir in England begegnet ist, macht die Geschichte mit dem Balgentreter, die in allen deutschen Zeitungen gestanden hat, den meisten Eindruck auf meine Bekanntschaft; mir ist auf Ehre, <hi rend="underline">kein Mensch</hi> begegnet, außer <persName xml:id="persName_d728d98d-b305-4d11-b35a-6776683062c4">Schleinitz<name key="PSN0114567" style="hidden">Schleinitz, Heinrich Conrad (1802-1881)</name></persName> und <persName xml:id="persName_727688d5-2bd3-4e86-befa-0213118a2875">David<name key="PSN0110564" style="hidden">David, Ernst Victor Carl Ferdinand (1810-1873)</name></persName>, der mich nicht zuerst danach gefragt hätte. Einestheils glauben sie, es sei mir ein bischen unangenehm, das ist ein Grund, und anderntheils machen sie dann Bemerkungen über das unmusikalische Land, wo so etwas vorfallen könnte. Wenn die dann wüßten, wie ich in Berlin die Organisten bitten, und bezahlen, und bewirthen mußte, damit ich auf eine Stunde Orgel spielen durfte, und wie <hi rend="underline">10mal</hi> ich während solcher Stunde aufhören mußte, wegen dieses oder jenes Grunds, da sprächen sie wohl anders. Übrigens habe ich mir vorgenommen, diese Zeit hier fleißig Orgel zu studiren, da sie mich doch einmal für einen Orgelspieler halten, damit ichs hintennach auch werde.</p><p>Nun möchte ich Dir wohl auch noch einmal sagen: ich danke – aber Du mußt es wissen, weißt Du es nicht, so kann ichs auch nicht genug sagen. Wisse es, wie ich Dir dankbar bin, und komm mal her zu uns, Du Freund. <persName xml:id="persName_c52c74ee-7609-44ca-bb7b-15fea3b2ab69">Cécile<name key="PSN0113252" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy, Cécile Sophie Charlotte (1817-1853)</name></persName> will Dich nächstens selbst einladen (wenn sie es erst könnte, sagt sie) und heut soll ich Dir „ganz viel schöne Grüße“ sagen. Das schließt gut</p><closer rend="left" xml:id="closer_700d27f4-b724-4e88-8e8d-a1ffc54b7bc3">Auf Wiedersehn</closer><signed rend="right">Dein Felix MB</signed></div><div n="2" type="act_of_writing" xml:id="div_20e633f3-9ea8-45e3-9a98-5d80d4ccc36f"><docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor><docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor><p style="paragraph_without_indent">Und grüß mir <persName xml:id="persName_6637574d-38cb-430a-b081-a0c8c8d486a7">Horsley’s<name key="PSN0112100" style="hidden">Horsley, Familie von → William H.</name></persName>! Sehr! Und schreib mir von ihnen.</p><p>Kennst Du das Papier?</p></div></body> </text></TEI>