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fmb-1832-07-28-01

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Felix Mendelssohn Bartholdy an Marie Cathérine Kiéné in Paris<lb></lb>Berlin, 28. Juli 1832 Sie werden mir zürnen, daß ich so lang geschwiegen habe, eigentlich habe ich Ihnen noch gar keinen ordentlichen Brief geschrieben, denn die beiden aus Calais und London waren nicht so zu nennen. Aber sein Sie Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online (FMB-C) noch nicht ermittelt noch nicht ermittelt Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847) Transkription: FMB-C Edition: FMB-C Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe (FMB-C). Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft. Humboldt-Universität zu Berlin
Am Kupfergraben 5 10117 Berlin Deutschland
http://www.mendelssohn-online.com Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0) Bd. 2, 585

Maschinenlesbare Übertragung der vollständigen Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys (FMB-C)

- - - Privatbesitz - - Abschrift fremder Hand Felix Mendelssohn Bartholdy an Marie Cathérine Kiéné in Paris; Berlin, 28. Juli 1832 Sie werden mir zürnen, daß ich so lang geschwiegen habe, eigentlich habe ich Ihnen noch gar keinen ordentlichen Brief geschrieben, denn die beiden aus Calais und London waren nicht so zu nennen. Aber sein Sie

4 S., Adresse (laut Abschrift).

Unbekannt

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Ab Z. 69 (»sie gern und oft spielen«) nach J. A. Stargardt, Marburg, Katalog 650, Auktion 10. und 11. Mai 1991, Nr. 148 (Teildruck, mit Faksimile der dritten Seite, S. 79). - - - - - - Felix Mendelssohn Bartholdy an Marie Cathérine Kiéné in Paris; Berlin, 28. Juli 1832 sie gern und oft spielen. Sie sind eigentlich für Orgel mit sanften Stimmen, aber da sie sehr schwer sind, so haben die Leute sie 4händig arrangirt; sollte es Adèle jedoch lieber allein spielen, so wären blos die beiden Stimmen primo und Secondo

Ab Z. 69 (»sie gern und oft spielen«) nach J. A. Stargardt, Marburg, Katalog 650, Auktion 10. und 11. Mai 1991, Nr. 148 (Teildruck, mit Faksimile der dritten Seite, S. 79).

Felix Mendelssohn Bartholdy

-

Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C: Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz Hin- und Gegenbriefe Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML-TEI-Basis.

Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy 1809-1847 in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept, Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.

28. Juli 1832 Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)counter-resetMendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847) Berlin Deutschland Kiéné, Marie Catherine (1765-1855) Paris Frankreich deutsch
Mde. Mde. Kiéné. Paris no. 2 rue de Buffault, faub. Montmtre franc.
Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847) Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847) Berlin d. 28sten July 32. Liebe Mde. Kiéné

Sie werden mir zürnen, daß ich so lang geschwiegen habe, eigentlich habe ich Ihnen noch gar keinen ordentlichen Brief geschrieben, denn die beiden aus Calais und London waren nicht so zu nennen. Aber sein Sie mir darum nicht böse; wenn man nur einen Brief denken könnte; wie viele hätte ich da zu Ihnen geschickt, nun müssen sie aber auch geschrieben werden, und damit will es bei mir nicht fort. Wie täglich ich Ihrer und der Ihrigen denke und wie ich an die Zeit in Ihrem Hause mich jede Stunde erinnern muß, das brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, denn Sie wissen, wie tief ich es empfunden habe. Ich wurde in der Zeit von Eindruck zu Eindruck gerissen, und wenn ich an meine unangenehme Krankheitszeit denken will, so steht mir gleich wieder Ihr liebes Haus vor Augen und läßt mich zu keinem bösen Gedanken kommen, will ich aber nun zu Ihnen hindenken, so ist das wieder schon so lange her, und ich weiß nicht wie Sie in diesem Augenblick leben, ob Sie mir noch freundlich sind, ob Sie alle wohl und gesund weiterleben, und das macht mich ganz ängstlich indem ich nun an Sie schreiben will. Aber hoffentlich ist das Alles beim Alten und ich darf es voraussetzen. Aber doch möchte ich gar zu gerne wissen, wie es in dem Zimmer aussieht, wohin der Brief nun wandern soll, ob die beiden Claviere noch so stehen wie damals und das Schachbret auf dem Flügel, ob Sie Abends noch ihre patience spielen und von Fräulein AdèleBigot de Morogues, Gustavie Adèle (1807-1834) nicht zum Einschlafen gelassen werden, ob Sie die débats denn lesen, und was das kleine Instrument macht, das zwar nicht so stark wie das andre klang, aber doch Frl. AdèlesBigot de Morogues, Gustavie Adèle (1807-1834) und mein Liebling war und bleibt. Gewiß ist das Alles noch ganz so, aber wenn man so weit herumzieht, so viel Verschiedenes sieht, wie ich in den letzten Jahren, da kann man sich es kaum vorstellen, daß ein Leben in einem halben Jahre sich gar nicht verändert habe. Mir war es, als käme ich in einen andern Welttheil, als ich in Dover gelandet war; Alles erschien mir so von Grund aus verschieden, wenn ich mich noch bis Calais immer ziemlich unwohl und unsicher gefühlt hatte, so bekam ich bei der Ueberfahrt auf einmal das himmlische Gefühl der wiederkehrenden Gesundheit, kam in das heitre Land wo der Frühling schon weit vorgeschritten war und die Bäume und Wiesen grün, und mir war so wohl als wenn die ganze Welt da mir gehörte und ich sie genießen sollte – das war ein großer Abstand; und nun von dem bewegten Leben in London zu dem ruhigen hier in einigen Tagen versetzt, wo Alles so unverändert und behaglich fortgeht, als sey ich niemals abwesend gewesen, als lägen nicht zwei solche Jahre dazwischen –. Alles dies läßt mich bis jetzt zu keiner Ruhe kommen und es treibt sich so sonderbar in mir hin und her, wie es wohl noch nie der Fall war. Sobald ich mit meinen Eltern und Schwestern zusammen bin, oder nur mein Zimmer oder den Garten ansehe, dann tauchen mir eine Menge alter Erinnerungen auf, die von meiner weiten Reise gar nichts wissen und die doch so neu und frisch sind daß mir Alles dazwischen nur wie eine Erscheinung ist, von der ich geträumt habe; aber dann wieder wenn ich einen der Namen höre, die mir seitdem so lieb geworden sind, oder an die nächste Vergangenheit denke, dann vertiefe ich mich darin immer mehr und lebe dort, und das will noch durchaus nicht zusammen gehn. D. h. mit einem Wort, ich kann noch nicht wieder zum Arbeiten kommen, weil mich alle die kreuzenden Erinnerungen daran stören, und diese Unruhe macht mich zuweilen etwas verstimmt. Aber ich denke es soll bald damit besser werden, dann werde ich Ihnen auch einen ordentlicheren Brief schreiben können, aber aufschieben will ich es nicht länger, darum müssen Sie mich heut so unstät nehmen, wie ich nun einmal bin und mir nicht böse darum sein – Sie haben mich verwöhnt, und le pauvre enfant kann das noch nicht vergessen.

Meine große Freude in London war, daß ich jeden Sonntag nach der Kirche in St PaulSt. Paul’s CathedralLondonGroßbritannien die Orgel spielen konnte, so lange ich wollte, ja als die Leute davon hörten und hinkamen um die Bachsche Fuge aus amoll<name key="PSN0109617" style="hidden" type="author">Bach, Johann Sebastian (1685-1750)</name><name key="CRT0107880" style="hidden" type="music">Fuge a-Moll, BWV 543/2</name> zu hören mit dem Schluß der die Pfeiler erschüttert, da boten mir auch andre Organisten in der Woche ihre OrgelnWestminster Abbey LondonGroßbritannienSt. John’s (Waterloo)LondonGroßbritannienSt. John’s (Paddington)LondonGroßbritannien an, da konnte ich denn nach Herzenslust spielen. Dort sind die Orgeln meist sehr gut und so habe ich mich fleißig im Sebastian BachBach, Johann Sebastian (1685-1750) üben können: die amoll Fuge<name key="PSN0109617" style="hidden" type="author">Bach, Johann Sebastian (1685-1750)</name><name key="CRT0107880" style="hidden" type="music">Fuge a-Moll, BWV 543/2</name> und „das alte Jahr“<name key="PSN0109617" style="hidden" type="author">Bach, Johann Sebastian (1685-1750)</name><name key="CRT0107823" style="hidden" type="music">Das alte Jahr vergangen ist BWV 614</name> kamen jedesmal vor ich habe vom Spielen noch nie solch eine Freude gehabt wie an diesen Sonntagen, wenn ich so blos zu meinem Vergnügen und nach meinem Sinn spielen konnte, was mir wohl that. Da wünschte ich mir aber Sie und AdèleBigot de Morogues, Gustavie Adèle (1807-1834) jedesmal herbei, denn ich weiß, wie Sie solche Musik lieben, und weil ich Sie doch eben nicht herbeischaffen konnte, so wollte ich gern die Stücke zu Ihnen schaffen, konnte sie aber nirgends in London bekommen. Doch denke ich mir daß es AdèleBigot de Morogues, Gustavie Adèle (1807-1834) freuen wird, die zwei Lieblingschoräle<name key="PSN0109617" style="hidden" type="author">Bach, Johann Sebastian (1685-1750)</name><name key="CRT0107823" style="hidden" type="music">Das alte Jahr vergangen ist BWV 614</name><name key="PSN0109617" style="hidden" type="author">Bach, Johann Sebastian (1685-1750)</name><name key="CRT0107702" style="hidden" type="music">Schmücke dich, o liebe Seele BWV 654</name> zu haben, die ich noch um 1 2 6 vor Abgang der Post spielte, darum habe ich sie abgeschrieben, und schicke sie hiermit. Es ist die schönste Musik, die ich kenne, und ich hoffe, sie wird sie gern und oft spielen. Sie sind eigentlich für Orgel mit sanften Stimmen, aber da sie sehr schwer sind, so haben die Leute sie 4händig arrangirt; sollte es AdèleBigot de Morogues, Gustavie Adèle (1807-1834) jedoch lieber allein spielen, so wären blos die beiden Stimmen primo und Secondo zusammen zu schreiben, und die Octaven im Baß und Sopran wegzulassen; das Pedal macht dann den Baß. Bei dem zweiten, wo ich C. F. hingeschrieben habe, geht der einfache Choralgesang durch. Es ist nur gar zu Schade, daß ich es Ihnen nicht mit den Flötenstimmen auf der Orgel vorspielen kann; es klingt da gar zu himmlisch. Einer meiner FreundeMarx, Adolph Bernhard (1795-1866) und ich denken jetzt daran eine vollständige Sammlung seiner großen Orgelsachen drucken zu lassen; sobald es erscheint, erlaube ich mir es Ihnen zuzuschicken. – Hier sieht es mit der Musik nicht sehr erfreulich aus; mein alter Lehrer, der Prof. ZelterZelter, Carl Friedrich (1758-1832) ist vor kurzem gestorben und seinem Freunde GoetheGoethe, Johann Wolfgang (seit 1782) von (1749-1832) gefolgt, der war noch der einzige, der öffentlich etwas für große, ernste Werke that, jetzt liegt es sehr im Argen. Doch hoffe ich gegen den Winter wieder einige Sachen von BachBach, Johann Sebastian (1685-1750) und HändelHändel, Georg Friedrich (1685-1759) aufzuführen, und will selbst noch fleißig arbeiten bis dahin. – Robert der Teufel<name key="PSN0113318" style="hidden" type="author">Meyerbeer (vorh. Liebmann Meyer Beer), Giacomo (Jakob) (1791-1864)</name><name key="CRT0109979" style="hidden" type="music">Robert le diable</name> ist auch hier bei uns gewesen, aber wir haben trotz Alle dem noch einen ziemlich guten Magen, wir können noch MozartMozart, Wolfgang Amadeus (1756-1791) und BeethovenBeethoven, Ludwig van (1770-1827) ohne Sauce verdauen, da brauchen wir kein fricassée von Delicatessen aller Art. Diesem Gleichniß sieht AdèleBigot de Morogues, Gustavie Adèle (1807-1834) es nun gewiß wieder an, daß ich ein Deutscher bin, der Morgens früh um 10 Uhr den Leuten „Guten Appetit“ wünscht, aber wer kann aus seiner Natur heraus? Und die meinige ist nun einmal die, alles Gezierte, Affectirte, Gelogne und den ganzen aufgestutzten Teufelskram von Herzen zu verachten. In Paris blüht er freilich sehr und selbst den BeethovenBeethoven, Ludwig van (1770-1827) betrachten sie nur wie so eine Art Cartesianisches Teufelchen, das seltsame Sprünge macht, aber drum bin ich eben auch kein Pariser, sondern halte mich an die Meister, und das wissen Sie, und haben mir deswegen den GoetheGoethe, Johann Wolfgang (seit 1782) von (1749-1832) und SchillerSchiller, Johann Christoph Friedrich (seit 1802) von (1759-1805) auf meinen Schreibtisch gestellt. Wenn ich wieder in meinem Leben nach Paris komme, so geschieht es um zu Ihnen zu kommen, sonst glaube ich würde ich es nie wiedersehen; aber dann miethe ich mir eine Stube in der rue de Buffault und besuche keinen Menschen, als Sie, und lebe wie ich die letzten Tage in Paris gelebt habe, und wie ich immer da hätte leben sollen.

Ich kann nicht erwarten, daß Sie selbst einmal Zeit haben möchten, mir einige Zeilen zukommen zu lassen um mir zu sagen wie Sie leben, aber da mein BruderMendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Paul Hermann (1812-1874) jetzt das Glück hat mit Ihnen zusammen zu sein, so tragen Sie dem einen Gruß für mich auf, und lassen Sie mich durch ihnMendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Paul Hermann (1812-1874) wissen, wie es bei Ihnen aussieht, ob Sie alle in dieser bösen Zeit wohl und gesund sind, ob Fräulein AdeleBigot de Morogues, Gustavie Adèle (1807-1834) viel Musik macht und Alles was Sie betrifft. Meine herzlichsten Grüße den Herren BigotBigot de Morogues, Paul (1765-1853) und BaillotBaillot, Pierre Marie François de Sales (1771-1842), und denken Sie freundlich

Ihres treuen Felix Mendelssohn Bartholdy.
            Berlin d. 28sten July 32. Liebe Mde. Kiéné
Sie werden mir zürnen, daß ich so lang geschwiegen habe, eigentlich habe ich Ihnen noch gar keinen ordentlichen Brief geschrieben, denn die beiden aus Calais und London waren nicht so zu nennen. Aber sein Sie mir darum nicht böse; wenn man nur einen Brief denken könnte; wie viele hätte ich da zu Ihnen geschickt, nun müssen sie aber auch geschrieben werden, und damit will es bei mir nicht fort. Wie täglich ich Ihrer und der Ihrigen denke und wie ich an die Zeit in Ihrem Hause mich jede Stunde erinnern muß, das brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, denn Sie wissen, wie tief ich es empfunden habe. Ich wurde in der Zeit von Eindruck zu Eindruck gerissen, und wenn ich an meine unangenehme Krankheitszeit denken will, so steht mir gleich wieder Ihr liebes Haus vor Augen und läßt mich zu keinem bösen Gedanken kommen, will ich aber nun zu Ihnen hindenken, so ist das wieder schon so lange her, und ich weiß nicht wie Sie in diesem Augenblick leben, ob Sie mir noch freundlich sind, ob Sie alle wohl und gesund weiterleben, und das macht mich ganz ängstlich indem ich nun an Sie schreiben will. Aber hoffentlich ist das Alles beim Alten und ich darf es voraussetzen. Aber doch möchte ich gar zu gerne wissen, wie es in dem Zimmer aussieht, wohin der Brief nun wandern soll, ob die beiden Claviere noch so stehen wie damals und das Schachbret auf dem Flügel, ob Sie Abends noch ihre patience spielen und von Fräulein Adèle nicht zum Einschlafen gelassen werden, ob Sie die débats denn lesen, und was das kleine Instrument macht, das zwar nicht so stark wie das andre klang, aber doch Frl. Adèles und mein Liebling war und bleibt. Gewiß ist das Alles noch ganz so, aber wenn man so weit herumzieht, so viel Verschiedenes sieht, wie ich in den letzten Jahren, da kann man sich es kaum vorstellen, daß ein Leben in einem halben Jahre sich gar nicht verändert habe. Mir war es, als käme ich in einen andern Welttheil, als ich in Dover gelandet war; Alles erschien mir so von Grund aus verschieden, wenn ich mich noch bis Calais immer ziemlich unwohl und unsicher gefühlt hatte, so bekam ich bei der Ueberfahrt auf einmal das himmlische Gefühl der wiederkehrenden Gesundheit, kam in das heitre Land wo der Frühling schon weit vorgeschritten war und die Bäume und Wiesen grün, und mir war so wohl als wenn die ganze Welt da mir gehörte und ich sie genießen sollte – das war ein großer Abstand; und nun von dem bewegten Leben in London zu dem ruhigen hier in einigen Tagen versetzt, wo Alles so unverändert und behaglich fortgeht, als sey ich niemals abwesend gewesen, als lägen nicht zwei solche Jahre dazwischen –. Alles dies läßt mich bis jetzt zu keiner Ruhe kommen und es treibt sich so sonderbar in mir hin und her, wie es wohl noch nie der Fall war. Sobald ich mit meinen Eltern und Schwestern zusammen bin, oder nur mein Zimmer oder den Garten ansehe, dann tauchen mir eine Menge alter Erinnerungen auf, die von meiner weiten Reise gar nichts wissen und die doch so neu und frisch sind daß mir Alles dazwischen nur wie eine Erscheinung ist, von der ich geträumt habe; aber dann wieder wenn ich einen der Namen höre, die mir seitdem so lieb geworden sind, oder an die nächste Vergangenheit denke, dann vertiefe ich mich darin immer mehr und lebe dort, und das will noch durchaus nicht zusammen gehn. D. h. mit einem Wort, ich kann noch nicht wieder zum Arbeiten kommen, weil mich alle die kreuzenden Erinnerungen daran stören, und diese Unruhe macht mich zuweilen etwas verstimmt. Aber ich denke es soll bald damit besser werden, dann werde ich Ihnen auch einen ordentlicheren Brief schreiben können, aber aufschieben will ich es nicht länger, darum müssen Sie mich heut so unstät nehmen, wie ich nun einmal bin und mir nicht böse darum sein – Sie haben mich verwöhnt, und le pauvre enfant kann das noch nicht vergessen.
Meine große Freude in London war, daß ich jeden Sonntag nach der Kirche in St Paul die Orgel spielen konnte, so lange ich wollte, ja als die Leute davon hörten und hinkamen um die Bachsche Fuge aus amoll zu hören mit dem Schluß der die Pfeiler erschüttert, da boten mir auch andre Organisten in der Woche ihre Orgeln an, da konnte ich denn nach Herzenslust spielen. Dort sind die Orgeln meist sehr gut und so habe ich mich fleißig im Sebastian Bach üben können: die amoll Fuge und „das alte Jahr“ kamen jedesmal vor ich habe vom Spielen noch nie solch eine Freude gehabt wie an diesen Sonntagen, wenn ich so blos zu meinem Vergnügen und nach meinem Sinn spielen konnte, was mir wohl that. Da wünschte ich mir aber Sie und Adèle jedesmal herbei, denn ich weiß, wie Sie solche Musik lieben, und weil ich Sie doch eben nicht herbeischaffen konnte, so wollte ich gern die Stücke zu Ihnen schaffen, konnte sie aber nirgends in London bekommen. Doch denke ich mir daß es Adèle freuen wird, die zwei Lieblingschoräle zu haben, die ich noch um 1 2 6 vor Abgang der Post spielte, darum habe ich sie abgeschrieben, und schicke sie hiermit. Es ist die schönste Musik, die ich kenne, und ich hoffe, sie wird sie gern und oft spielen. Sie sind eigentlich für Orgel mit sanften Stimmen, aber da sie sehr schwer sind, so haben die Leute sie 4händig arrangirt; sollte es Adèle jedoch lieber allein spielen, so wären blos die beiden Stimmen primo und Secondo zusammen zu schreiben, und die Octaven im Baß und Sopran wegzulassen; das Pedal macht dann den Baß. Bei dem zweiten, wo ich C. F. hingeschrieben habe, geht der einfache Choralgesang durch. Es ist nur gar zu Schade, daß ich es Ihnen nicht mit den Flötenstimmen auf der Orgel vorspielen kann; es klingt da gar zu himmlisch. Einer meiner Freunde und ich denken jetzt daran eine vollständige Sammlung seiner großen Orgelsachen drucken zu lassen; sobald es erscheint, erlaube ich mir es Ihnen zuzuschicken. – Hier sieht es mit der Musik nicht sehr erfreulich aus; mein alter Lehrer, der Prof. Zelter ist vor kurzem gestorben und seinem Freunde Goethe gefolgt, der war noch der einzige, der öffentlich etwas für große, ernste Werke that, jetzt liegt es sehr im Argen. Doch hoffe ich gegen den Winter wieder einige Sachen von Bach und Händel aufzuführen, und will selbst noch fleißig arbeiten bis dahin. – Robert der Teufel ist auch hier bei uns gewesen, aber wir haben trotz Alle dem noch einen ziemlich guten Magen, wir können noch Mozart und Beethoven ohne Sauce verdauen, da brauchen wir kein fricassée von Delicatessen aller Art. Diesem Gleichniß sieht Adèle es nun gewiß wieder an, daß ich ein Deutscher bin, der Morgens früh um 10 Uhr den Leuten „Guten Appetit“ wünscht, aber wer kann aus seiner Natur heraus? Und die meinige ist nun einmal die, alles Gezierte, Affectirte, Gelogne und den ganzen aufgestutzten Teufelskram von Herzen zu verachten. In Paris blüht er freilich sehr und selbst den Beethoven betrachten sie nur wie so eine Art Cartesianisches Teufelchen, das seltsame Sprünge macht, aber drum bin ich eben auch kein Pariser, sondern halte mich an die Meister, und das wissen Sie, und haben mir deswegen den Goethe und Schiller auf meinen Schreibtisch gestellt. Wenn ich wieder in meinem Leben nach Paris komme, so geschieht es um zu Ihnen zu kommen, sonst glaube ich würde ich es nie wiedersehen; aber dann miethe ich mir eine Stube in der rue de Buffault und besuche keinen Menschen, als Sie, und lebe wie ich die letzten Tage in Paris gelebt habe, und wie ich immer da hätte leben sollen.
Ich kann nicht erwarten, daß Sie selbst einmal Zeit haben möchten, mir einige Zeilen zukommen zu lassen um mir zu sagen wie Sie leben, aber da mein Bruder jetzt das Glück hat mit Ihnen zusammen zu sein, so tragen Sie dem einen Gruß für mich auf, und lassen Sie mich durch ihn wissen, wie es bei Ihnen aussieht, ob Sie alle in dieser bösen Zeit wohl und gesund sind, ob Fräulein Adele viel Musik macht und Alles was Sie betrifft. Meine herzlichsten Grüße den Herren Bigot und Baillot, und denken Sie freundlich
Ihres treuen Felix Mendelssohn Bartholdy.          
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Mai 1991, Nr. 148 (Teildruck, mit Faksimile der dritten Seite, S. 79). </p> <handDesc hands="1"> <p>Felix Mendelssohn Bartholdy</p> </handDesc> <accMat> <listBibl> <bibl type="none"></bibl> </listBibl></accMat> </physDesc> <history> <provenance> <p>-</p> </provenance> </history> </msDesc> </sourceDesc> </fileDesc> <encodingDesc><projectDesc><p>Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C: Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz Hin- und Gegenbriefe Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML-TEI-Basis.</p></projectDesc><editorialDecl><p>Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy 1809-1847 in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept,  Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.</p></editorialDecl></encodingDesc> <profileDesc> <creation> <date cert="high" when="1832-07-28" xml:id="date_1b30a3d8-d778-44bf-b5a3-695f8ad25938">28. Juli 1832</date></creation> <correspDesc> <correspAction type="sent"> <persName key="PSN0000001" resp="author" xml:id="persName_5e626546-816a-4c15-bb63-49ebdd41db8a">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName><note>counter-reset</note><persName key="PSN0000001" resp="writer">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName> <placeName type="writing_place" xml:id="placeName_2ce31fe6-8b8c-4ac1-ab31-e26a55b4c99b"> <settlement key="STM0100101">Berlin</settlement> <country>Deutschland</country></placeName> </correspAction> <correspAction type="received"> <persName key="PSN0112372" resp="receiver" xml:id="persName_29b9320a-ce4a-4fb9-b86e-5d055d30d3f7">Kiéné, Marie Catherine (1765-1855)</persName> <placeName type="receiving_place" xml:id="placeName_684c583e-5720-42a8-a9c5-0c94795443c2"> <settlement key="STM0100105">Paris</settlement> <country>Frankreich</country></placeName> </correspAction> </correspDesc> <langUsage> <language ident="de">deutsch</language> </langUsage> </profileDesc> <revisionDesc status="draft">  </revisionDesc> </teiHeader> <text type="letter"> <body> <div type="address" xml:id="div_de0c5da5-3285-4e4e-b3c9-a5e039528af7"> <head> <address> <addrLine>Mde.</addrLine> <addrLine>Mde. Kiéné.</addrLine> <addrLine>Paris</addrLine> <addrLine>no. 2 rue de Buffault, faub. Montmtre</addrLine> <addrLine>franc.</addrLine> </address> </head> </div> <div n="1" type="act_of_writing" xml:id="div_81f2bfdf-2790-4979-b810-4a0c337c247f"> <docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <dateline rend="right">Berlin d. <date cert="high" when="1832-07-28" xml:id="date_258156d7-e3d5-40ee-8693-46d8f2ea798a">28<hi rend="superscript">sten</hi> July 32</date>.</dateline> <salute rend="left">Liebe Mde. Kiéné</salute> <p style="paragraph_without_indent">Sie werden mir zürnen, daß ich so lang geschwiegen habe, eigentlich habe ich Ihnen noch gar keinen ordentlichen Brief geschrieben, denn die beiden aus Calais und London waren nicht so zu nennen. Aber sein Sie mir darum nicht böse; wenn man nur einen Brief denken könnte; wie viele hätte ich da zu Ihnen geschickt, nun müssen sie aber auch geschrieben werden, und damit will es bei mir nicht fort. Wie täglich ich Ihrer und der Ihrigen denke und wie ich an die Zeit in Ihrem Hause mich jede Stunde erinnern muß, das brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, denn Sie wissen, wie tief ich es empfunden habe. Ich wurde in der Zeit von Eindruck zu Eindruck gerissen, und wenn ich an meine unangenehme Krankheitszeit denken will, so steht mir gleich wieder Ihr liebes Haus vor Augen und läßt mich zu keinem bösen Gedanken kommen, will ich aber nun zu Ihnen hindenken, so ist das wieder schon so lange her, und ich weiß nicht wie Sie in diesem Augenblick leben, ob Sie mir noch freundlich sind, ob Sie alle wohl und gesund weiterleben, und das macht mich ganz ängstlich indem ich nun an Sie schreiben will. Aber hoffentlich ist das Alles beim Alten und ich darf es voraussetzen. Aber doch möchte ich gar zu gerne wissen, wie es in dem Zimmer aussieht, wohin der Brief nun wandern soll, ob die beiden Claviere noch so stehen wie damals und das Schachbret auf dem Flügel, ob Sie Abends noch ihre patience spielen und von <persName xml:id="persName_826a4580-6413-47f7-9a4c-e2c6d1c3ca99">Fräulein Adèle<name key="PSN0109944" style="hidden">Bigot de Morogues, Gustavie Adèle (1807-1834)</name></persName> nicht zum Einschlafen gelassen werden, ob Sie die débats denn lesen, und was das kleine Instrument macht, das zwar nicht so stark wie das andre klang, aber doch <persName xml:id="persName_a4a9a8d8-16a5-46e1-b1a9-3a30dd45ab94">Frl. Adèles<name key="PSN0109944" style="hidden">Bigot de Morogues, Gustavie Adèle (1807-1834)</name></persName> und mein Liebling war und bleibt. Gewiß ist das Alles noch ganz so, aber wenn man so weit herumzieht, so viel Verschiedenes sieht, wie ich in den letzten Jahren, da kann man sich es kaum vorstellen, daß ein Leben in einem halben Jahre sich gar nicht verändert habe. Mir war es, als käme ich in einen andern Welttheil, als ich in Dover gelandet war; Alles erschien mir so von Grund aus verschieden, wenn ich mich noch bis Calais immer ziemlich unwohl und unsicher gefühlt hatte, so bekam ich bei der Ueberfahrt auf einmal das himmlische Gefühl der wiederkehrenden Gesundheit, kam in das heitre Land wo der Frühling schon weit vorgeschritten war und die Bäume und Wiesen grün, und mir war so wohl als wenn die ganze Welt da mir gehörte und ich sie genießen sollte – das war ein großer Abstand; und nun von dem bewegten Leben in London zu dem ruhigen hier in einigen Tagen versetzt, wo Alles so unverändert und behaglich fortgeht, als sey ich niemals abwesend gewesen, als lägen nicht zwei solche Jahre dazwischen –. Alles dies läßt mich bis jetzt zu keiner Ruhe kommen und es treibt sich so sonderbar in mir hin und her, wie es wohl noch nie der Fall war. Sobald ich mit meinen Eltern und Schwestern zusammen bin, oder nur mein Zimmer oder den Garten ansehe, dann tauchen mir eine Menge alter Erinnerungen auf, die von meiner weiten Reise gar nichts wissen und die doch so neu und frisch sind daß mir Alles dazwischen nur wie eine Erscheinung ist, von der ich geträumt habe; aber dann wieder wenn ich einen der Namen höre, die mir seitdem so lieb geworden sind, oder an die nächste Vergangenheit denke, dann vertiefe ich mich darin immer mehr und lebe dort, und das will noch durchaus nicht zusammen gehn. D. h. mit einem Wort, ich kann noch nicht wieder zum <hi rend="underline">Arbeiten</hi> kommen, weil mich alle die kreuzenden Erinnerungen daran stören, und diese Unruhe macht mich zuweilen etwas verstimmt. Aber ich denke es soll bald damit besser werden, dann werde ich Ihnen auch einen ordentlicheren Brief schreiben können, aber aufschieben will ich es nicht länger, darum müssen Sie mich heut so unstät nehmen, wie ich nun einmal bin und mir nicht böse darum sein – Sie haben mich verwöhnt, und le pauvre enfant kann das noch nicht vergessen.</p> <p>Meine große Freude in London war, daß ich jeden Sonntag nach der Kirche in S<hi rend="superscript">t</hi> <placeName xml:id="placeName_d889be44-2b11-436e-8230-b540eb68552d">Paul<name key="SGH0100307" style="hidden" subtype="" type="sight">St. Paul’s Cathedral</name><settlement key="STM0100126" style="hidden" type="">London</settlement><country style="hidden">Großbritannien</country></placeName> die Orgel spielen konnte, so lange ich wollte, ja als die Leute davon hörten und hinkamen um die <title xml:id="title_0cc33ae8-f2cc-470d-95e6-0ff1602481e1">Bachsche Fuge aus amoll<name key="PSN0109617" style="hidden" type="author">Bach, Johann Sebastian (1685-1750)</name><name key="CRT0107880" style="hidden" type="music">Fuge a-Moll, BWV 543/2</name></title> zu hören mit dem Schluß der die Pfeiler erschüttert, da boten mir auch andre Organisten in der Woche <placeName xml:id="placeName_3a4d46cf-d8aa-480e-a2fc-932fcd2cb7dd">ihre Orgeln<name key="SGH0102801" style="hidden" subtype="" type="sight">Westminster Abbey </name><settlement key="STM0100126" style="hidden" type="">London</settlement><country style="hidden">Großbritannien</country><name key="SGH0103158" style="hidden" subtype="" type="sight">St. John’s (Waterloo)</name><settlement key="STM0100126" style="hidden" type="">London</settlement><country style="hidden">Großbritannien</country><name key="SGH0103159" style="hidden" subtype="" type="sight">St. John’s (Paddington)</name><settlement key="STM0100126" style="hidden" type="">London</settlement><country style="hidden">Großbritannien</country></placeName> an, da konnte ich denn nach Herzenslust spielen. Dort sind die Orgeln meist sehr gut und so habe ich mich fleißig im <persName xml:id="persName_27a397a0-4022-48b9-9824-da7b1e38b075">Sebastian Bach<name key="PSN0109617" style="hidden">Bach, Johann Sebastian (1685-1750)</name></persName> üben können: die <title xml:id="title_f52116f9-60bf-4c23-ac03-47d9259141d9">amoll Fuge<name key="PSN0109617" style="hidden" type="author">Bach, Johann Sebastian (1685-1750)</name><name key="CRT0107880" style="hidden" type="music">Fuge a-Moll, BWV 543/2</name></title> und <title xml:id="title_6af0e994-01db-47e8-9d1c-0743e8e78a6d">„das alte Jahr“<name key="PSN0109617" style="hidden" type="author">Bach, Johann Sebastian (1685-1750)</name><name key="CRT0107823" style="hidden" type="music">Das alte Jahr vergangen ist BWV 614</name></title> kamen jedesmal vor ich habe vom Spielen noch nie solch eine Freude gehabt wie an diesen Sonntagen, wenn ich so blos zu meinem Vergnügen und nach meinem Sinn spielen konnte, was mir wohl that. Da wünschte ich mir aber Sie und <persName xml:id="persName_02803563-5aa9-4a66-9830-b22acb4d3962">Adèle<name key="PSN0109944" style="hidden">Bigot de Morogues, Gustavie Adèle (1807-1834)</name></persName> jedesmal herbei, denn ich weiß, wie Sie solche Musik lieben, und weil ich Sie doch eben nicht herbeischaffen konnte, so wollte ich gern die Stücke zu Ihnen schaffen, konnte sie aber nirgends in London bekommen. Doch denke ich mir daß es <persName xml:id="persName_b82067cb-ce60-418f-9955-b6e9c1881e19">Adèle<name key="PSN0109944" style="hidden">Bigot de Morogues, Gustavie Adèle (1807-1834)</name></persName> freuen wird, die <title xml:id="title_91f42acc-e375-402d-b103-69bf661b3007">zwei Lieblingschoräle<name key="PSN0109617" style="hidden" type="author">Bach, Johann Sebastian (1685-1750)</name><name key="CRT0107823" style="hidden" type="music">Das alte Jahr vergangen ist BWV 614</name><name key="PSN0109617" style="hidden" type="author">Bach, Johann Sebastian (1685-1750)</name><name key="CRT0107702" style="hidden" type="music">Schmücke dich, o liebe Seele BWV 654</name></title> zu haben, die ich noch um <formula rend="fraction_slash"> <hi rend="supslash">1</hi> <hi rend="barslash"></hi> <hi rend="subslash">2</hi> </formula> 6 vor Abgang der Post spielte, darum habe ich sie abgeschrieben, und schicke sie hiermit. Es ist die schönste Musik, die ich kenne, und ich hoffe, sie wird sie gern und oft spielen. Sie sind eigentlich für Orgel mit sanften Stimmen, aber da sie sehr schwer sind, so haben die Leute sie 4händig arrangirt; sollte es <persName xml:id="persName_1b35b185-efaa-4153-acb0-1c047e2a9f8d">Adèle<name key="PSN0109944" style="hidden">Bigot de Morogues, Gustavie Adèle (1807-1834)</name></persName> jedoch lieber allein spielen, so wären blos die beiden Stimmen primo und Secondo zusammen zu schreiben, und die Octaven im Baß und Sopran wegzulassen; das Pedal macht dann den Baß. Bei dem zweiten, wo ich C. F. hingeschrieben habe, geht der einfache Choralgesang durch. Es ist nur gar zu Schade, daß ich es Ihnen nicht mit den Flötenstimmen auf der Orgel vorspielen kann; es klingt da gar zu himmlisch. <persName xml:id="persName_86b0bf7d-4474-4c8d-958f-80aeb57f38f6">Einer meiner Freunde<name key="PSN0113108" style="hidden">Marx, Adolph Bernhard (1795-1866)</name></persName> und ich denken jetzt daran eine vollständige Sammlung seiner großen Orgelsachen drucken zu lassen; sobald es erscheint, erlaube ich mir es Ihnen zuzuschicken. – Hier sieht es mit der Musik nicht sehr erfreulich aus; <persName xml:id="persName_9f1c21d0-0077-449a-997b-81d00ea4376d">mein alter Lehrer, der Prof. Zelter<name key="PSN0115916" style="hidden">Zelter, Carl Friedrich (1758-1832)</name></persName> ist vor kurzem gestorben und seinem Freunde <persName xml:id="persName_0797e620-60cc-49e7-a0ce-432d292dc3c4">Goethe<name key="PSN0111422" style="hidden">Goethe, Johann Wolfgang (seit 1782) von (1749-1832)</name></persName> gefolgt, der war noch der einzige, der öffentlich etwas für große, ernste Werke that, jetzt liegt es sehr im Argen. Doch hoffe ich gegen den Winter wieder einige Sachen von <persName xml:id="persName_04c76834-1a43-462d-9d11-3519e23c9c4e">Bach<name key="PSN0109617" style="hidden">Bach, Johann Sebastian (1685-1750)</name></persName> und <persName xml:id="persName_4327d7a2-cf6d-426c-b89d-6d06926331a8">Händel<name key="PSN0111693" style="hidden">Händel, Georg Friedrich (1685-1759)</name></persName> aufzuführen, und will selbst noch fleißig arbeiten bis dahin. – <title xml:id="title_de50169d-690c-4d45-acdf-6c2e62150443">Robert der Teufel<name key="PSN0113318" style="hidden" type="author">Meyerbeer (vorh. Liebmann Meyer Beer), Giacomo (Jakob) (1791-1864)</name><name key="CRT0109979" style="hidden" type="music">Robert le diable</name></title> ist auch hier bei uns gewesen, aber wir haben trotz Alle dem noch einen ziemlich guten Magen, wir können noch <persName xml:id="persName_bd2658f2-4f45-4b70-b02b-2190e43dbd01">Mozart<name key="PSN0113466" style="hidden">Mozart, Wolfgang Amadeus (1756-1791)</name></persName> und <persName xml:id="persName_4a2f5a14-ce1f-4899-9bea-1228523579ce">Beethoven<name key="PSN0109771" style="hidden">Beethoven, Ludwig van (1770-1827)</name></persName> ohne Sauce verdauen, da brauchen wir kein fricassée von Delicatessen aller Art. Diesem Gleichniß sieht <persName xml:id="persName_ba935412-23e3-43fc-9d87-a4d07be54b70">Adèle<name key="PSN0109944" style="hidden">Bigot de Morogues, Gustavie Adèle (1807-1834)</name></persName> es nun gewiß wieder an, daß ich ein Deutscher bin, der Morgens früh um 10 Uhr den Leuten „Guten Appetit“ wünscht, aber wer kann aus seiner Natur heraus? Und die meinige ist nun einmal die, alles Gezierte, Affectirte, Gelogne und den ganzen aufgestutzten Teufelskram von Herzen zu verachten. In Paris blüht er freilich sehr und selbst den <persName xml:id="persName_0432cf20-fbcb-4db9-bead-24de5d865d3f">Beethoven<name key="PSN0109771" style="hidden">Beethoven, Ludwig van (1770-1827)</name></persName> betrachten sie nur wie so eine Art Cartesianisches Teufelchen, das seltsame Sprünge macht, aber drum bin ich eben auch kein Pariser, sondern halte mich an die Meister, und das wissen Sie, und haben mir deswegen den <persName xml:id="persName_ad11e605-b52a-4caf-91d6-2b84cd004d2b">Goethe<name key="PSN0111422" style="hidden">Goethe, Johann Wolfgang (seit 1782) von (1749-1832)</name></persName> und <persName xml:id="persName_a04dbff0-65cc-4e86-b39a-6cc4e7bcc348">Schiller<name key="PSN0114545" style="hidden">Schiller, Johann Christoph Friedrich (seit 1802) von (1759-1805)</name></persName> auf meinen Schreibtisch gestellt. Wenn ich wieder in meinem Leben nach Paris komme, so geschieht es um zu Ihnen zu kommen, sonst glaube ich würde ich es nie wiedersehen; aber dann miethe ich mir eine Stube in der rue de Buffault und besuche keinen Menschen, als Sie, und lebe wie ich die letzten Tage in Paris gelebt habe, und wie ich immer da hätte leben sollen.</p> <p>Ich kann nicht erwarten, daß Sie selbst einmal Zeit haben möchten, mir einige Zeilen zukommen zu lassen um mir zu sagen wie Sie leben, aber da <persName xml:id="persName_a475884e-0204-4e3c-9586-3b278488570a">mein Bruder<name key="PSN0113263" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Paul Hermann (1812-1874)</name></persName> jetzt das Glück hat mit Ihnen zusammen zu sein, so tragen Sie dem einen Gruß für mich auf, und lassen Sie mich durch <persName xml:id="persName_8b89b7bb-e03c-4db3-a6bc-2e8c647a50cc">ihn<name key="PSN0113263" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Paul Hermann (1812-1874)</name></persName> wissen, wie es bei Ihnen aussieht, ob Sie alle in dieser bösen Zeit wohl und gesund sind, ob <persName xml:id="persName_c8de3901-7f17-4245-9b0b-f5268787958c">Fräulein Adele<name key="PSN0109944" style="hidden">Bigot de Morogues, Gustavie Adèle (1807-1834)</name></persName> viel Musik macht und Alles was Sie betrifft. <seg type="closer">Meine herzlichsten Grüße den <persName xml:id="persName_b80426fa-f21b-444c-9e81-19dccdf4c295">Herren Bigot<name key="PSN0109947" style="hidden">Bigot de Morogues, Paul (1765-1853)</name></persName> und <persName xml:id="persName_1884c18b-acc1-47d9-bd65-e2951d90c48d">Baillot<name key="PSN0109640" style="hidden">Baillot, Pierre Marie François de Sales (1771-1842)</name></persName>, und denken Sie freundlich</seg></p> <closer rend="left" xml:id="closer_7b1831e0-ffe7-428c-a4b8-693bb951d399">Ihres treuen</closer> <signed rend="right">Felix Mendelssohn Bartholdy.</signed> </div> </body> </text></TEI>