fmb-1832-07-25-02
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Berlin, 25. Juli 1832
Maschinenlesbare Übertragung der vollständigen Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys (FMB-C)
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Felix Mendelssohn Bartholdy
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Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C: Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz Hin- und Gegenbriefe Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML-TEI-Basis.
Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy 1809-1847 in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept, Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.
tenJuli 1832
Wenn dies doch ein Billet wäre, und unten wartete der dienstbare Geist und trüge es in einer Minute zu Ihnen; aber Brief, und Post, und Dampf, und Meer, das klingt so ernsthaft und geschichtlich, und doch habe ich nichts ernsthaftes zu sagen, sondern sehne mich gerade jetzt einmal darnach, ein wenig mit Ihnen zu sprechen, die Welt durchzuhecheln, Phrenologie anzugreifen, von unten eine matthändige Schülerin ein langsames Presto spielen zu hören und dazwischen wenn sie es gar zu arg macht, ein Paar blitzende Töne von einer anderen Hand, kurz nach Chester Place gehen zu können. Denn wenn ich mit Ihnen sprechen möchte, so will ich mich gar nicht sprechen hören, sondern Sie, also mag ich eigentlich gar keinen Brief schreiben, sondern einen lesen; es hilft aber zu nichts. Warum haben Sie mir auch verboten, mich nur ein ganz klein wenig zu bedanken? ich thäte es so gern und darf doch nicht, denn ich sehe Sie darüber lachen. Man kann aber für frohe Zeit gar nicht danken; sobald man sie übersieht, ist sie schon weg, und so lange man drin lebt, ist es alles so natürlich; denn ich habe es natürlich gefunden, wenn Sie und vor der Reise, und steht plötzlich ganz neu da, als sei sie nie weggewesen, und so kreuzen sich die verschiedensten Erinnerungen, und durchschneiden sich und lassen mich zu keiner Ruhe kommen. Ob das sich ordnen wird, weiß ich nicht, aber bis jetzt bin ich dadurch wie auseinander gerissen, und habe keinen Anhaltpunkt. Gegenwart und Vergangenheit hängen doch so sehr zusammen, und doch muß ich mich daran gewöhnen, daß die Vergangenheit vergangen sei. Es thut auch nichts, das Beste bleibt davon, drum schreibe ich Ihnen jetzt auch den Brief hier, und schicke ihn ab, so wenig daran ist. Sie haben es mir zuweilen nachgesehen, wenn ich sehr unausstehlich war, und behaupteten wohl gar, es sei genial; das ist es nun wohl nicht, aber das Herz ist schwarz wie der Küster sagt (die betreffende Geschichte lassen Sie sich von
Berlin, den 25ten Juli 1832. Liebe Madame Moscheles! Wenn dies doch ein Billet wäre, und unten wartete der dienstbare Geist und trüge es in einer Minute zu Ihnen; aber Brief, und Post, und Dampf, und Meer, das klingt so ernsthaft und geschichtlich, und doch habe ich nichts ernsthaftes zu sagen, sondern sehne mich gerade jetzt einmal darnach, ein wenig mit Ihnen zu sprechen, die Welt durchzuhecheln, Phrenologie anzugreifen, von unten eine matthändige Schülerin ein langsames Presto spielen zu hören und dazwischen wenn sie es gar zu arg macht, ein Paar blitzende Töne von einer anderen Hand, kurz nach Chester Place gehen zu können. Denn wenn ich mit Ihnen sprechen möchte, so will ich mich gar nicht sprechen hören, sondern Sie, also mag ich eigentlich gar keinen Brief schreiben, sondern einen lesen; es hilft aber zu nichts. Warum haben Sie mir auch verboten, mich nur ein ganz klein wenig zu bedanken? ich thäte es so gern und darf doch nicht, denn ich sehe Sie darüber lachen. Man kann aber für frohe Zeit gar nicht danken; sobald man sie übersieht, ist sie schon weg, und so lange man drin lebt, ist es alles so natürlich; denn ich habe es natürlich gefunden, wenn Sie und Moscheles mir Alles zu Liebe und alles Freundliche thaten was ich mir jemals wünschen kann; mir fiel gar nicht ein, daß es irgend anders sein könnte; jetzt aber sehe ich doch zuweilen, daß es zu alledem auch ein Glück war, und daß sich Alles gar nicht so von selbst versteht. Das klingt alles dumm, aber wüßten Sie nur, wie sehr sonderbar mir nun in den letzten Wochen hier gewesen ist, ich kann zu keinem ruhigen Wort, zu keinem Gedanken kommen. Als ich den Freitag Abend von Ihnen ging und auf’s Dampfboot nach Hamburg, da dachte ich mir meine Familie, das ganze Haus wer weiß wie verändert zu finden – 2 Jahre und verheirathete Schwestern und so fort. Nun komme ich an, und nach den ersten zwei Tagen leben wir Alle so gemüthlich und ruhig nebeneinander fort, als sei dazwischen keine Reise, keine Jahre, keine Veränderung getreten. Ich begreife nicht, daß ich einmal habe fort sein können, und wenn ich nicht an die lieben Freunde denke, die ich während dessen gefunden habe, so ist mir die ganze Zwischenzeit wie eine lebhafte Erzählung, die ich gehört habe. Das geht nun aber eben mit mir gar nicht, auf jedem Schritt fällt mir eine frische Reiseerinnerung ein, der folge ich, und träume so eine Zeitlang weiter, und bin weit fort, dann komme ich wieder zu den Eltern und Schwestern, und mit jedem Wort, das sie sprechen und mit jedem Schritt, den wir im Garten thun, kommt wieder eine andere Erinnerung von vor der Reise, und steht plötzlich ganz neu da, als sei sie nie weggewesen, und so kreuzen sich die verschiedensten Erinnerungen, und durchschneiden sich und lassen mich zu keiner Ruhe kommen. Ob das sich ordnen wird, weiß ich nicht, aber bis jetzt bin ich dadurch wie auseinander gerissen, und habe keinen Anhaltpunkt. Gegenwart und Vergangenheit hängen doch so sehr zusammen, und doch muß ich mich daran gewöhnen, daß die Vergangenheit vergangen sei. Es thut auch nichts, das Beste bleibt davon, drum schreibe ich Ihnen jetzt auch den Brief hier, und schicke ihn ab, so wenig daran ist. Sie haben es mir zuweilen nachgesehen, wenn ich sehr unausstehlich war, und behaupteten wohl gar, es sei genial; das ist es nun wohl nicht, aber das Herz ist schwarz wie der Küster sagt (die betreffende Geschichte lassen Sie sich von Klingemann erzählen, wenn Sie sie nicht kennen) . Denken Sie sich nebenbei, daß ich seit ich hier bin, noch keine Note haben componiren können. Das ist eigentlich das Schlimmste, denn hätte ich zu arbeiten, so wäre auch Alles andere gleich vorüber. Haben Sie denn keinen deutschen oder sonstigen Liedertext, den ich componiren könnte? Für eine Singstimme bis f hinauf und c hinunter, versteht sich, und ich könnte es dann etwa 1833 auf dem Erard begleiten, und von unten hörte man wieder das langsame Presto. Aber auch ein Lied wüßte ich jetzt kaum zu schreiben; wie soll man denn den Frühling besingen, wenn man im Juli friert, wenn die Blätter im Sommer abfallen, und die Blumen verfaulen, und die Früchte verderben? So sieht es nämlich hier aus; die Leute heizen ein, der Regen kommt in Strömen herunter, kalte Fieber und Cholera, und Bundestagsbeschluß sind die Gespräche, und ich, der in Guildhall meine Rolle gespielt habe, muß nun hier behutsam und wohlwollend sprechen, um nicht radical zu erscheinen. Heut ist die Cholera wieder angekündigt, obwohl nicht auf Begehren; aber dies russische Geschenk wird nun wohl fürs erste vorhalten, und uns nicht wieder verlassen. Nur ist es gut, daß jetzt keine Hemmungen mehr dabei sind, sonst könnten sich Hamburg und Berlin wechselweise gegeneinander sperren und mir wäre das aus Gründen sehr ungelegen. Als ich zwar in Hamburg ein Wort davon fallen ließ, daß Sie oder doch Moscheles vielleicht hierher kommen möchten, da hatte ich mit einem Male Alles verscherzt. Ihre Schwester sah mich sehr böse an und fragte, was denn in Berlin zu holen sei, wer sich denn da für Musik interessire? Ich citirte mich, aber das gefiel wenig, man fand mich nach und nach immer abscheulicher; ein rechter Berliner, dachte man, dann wurde ich ein Fremder, dann gar ein fremder Musiker, dann wurde man ganz höflich, aber ich brach geschwind ab, und erinnerte mich an Ihre Lehren, daß ich mich hübsch einschmeicheln sollte. So sagte ich, Sie würden auch wahrscheinlich nicht kommen, und da war man wieder gut. Aber heimlich sage ich nun doch: O kommen Sie, kommen Sie, so gut es Einem in Berlin gemacht werden kann, so wollen wir es schon machen, und wenn mir Moscheles schriebe, daß er im October käme, so finge ich von heute an mich auf den 1. October zu freuen. Im Schnellpostcoupé ist so schöner Platz für zwei Personen, und die Fahrt geht so gemächlich – Sie sollten es doch thun. Aber heut’ quäle ich noch gar nicht, sondern ich bitte Sie nur, lassen Sie mich es wissen, wenn Sie nach Hamburg gehen, dann aber schreibe ich Ihnen einen 16stimmigen Brief, und alle Stimmen sollen rufen: Hierher. – Zwar haben Sie es wohl prächtig in Hamburg und ich denke mir lebhaft, wie schwer Sie sich davon losmachen können; Ihres Vaters neues Haus ist das Reizendste das man sich vorstellen kann; das schöne Wasser und die reichsstädtischen Thürme vor den Fenstern, und alle Stuben so hell und freundlich, voll und doch nicht gedrängt, und man vermißt keinen Comfort wenn man aus London kommt, und dazu sieht man es dem Bewohner und den Stuben und den Möbeln, namentlich aber dem großen Musiksaal an, wie sich Alle auf Sie freuen und Sie erwarten. Da werden Sie es wohl schön und behaglich finden; aber wenn wir auch keine Aussicht und keinen Comfort machen können, so würde sich doch Alles eben so sehr freuen, und das ist am Ende die Hauptsache. A propos, die Belleville ist hier und macht wenig Glück, sie wollte ein Concert geben, in dem sie, wie sie in den Ankündigungen sagte, von Herrn Oury, ihrem Manne, unterstützt würde; aber die Berliner wollten nicht hineingehen, da hat sie es nicht gegeben, und im Theater zwischen zwei Comödien gespielt. Die Leute sagten, sie spiele ohne Seele, und deßhalb ging ich lieber gar nicht hin; denn was ein Berliner ohne Seele nennt, muß verzweifelt kalt sein. Ueberhaupt bin ich blasirt was das Septett von Hummel und Herzsche Variationen betrifft, und das Publikum hatte Recht, und war auch blasirt. Die „Schöne Stadt“ ist nebenbei auch häßlich, also ziehe ich die Blahetka vor. Ach Gott, gegen die bin ich sehr unartig gewesen und habe keinen Abschied genommen; vertheidigen Sie mich nur ja, aber namentlich vertheidigen Sie mich, wenn die Ihrigen in Hamburg mich sehr übel finden und angreifen wegen meiner Berliner Aeußerung. Dann sagen Sie, ich hätte nur aus Eigennutz so gesprochen, und es sei mir dabei hauptsächlich um meine eigene Freude zu thun, wenn ich Sie beide und die Kinder einmal wieder sehen könnte. Ich sei überhaupt eigennützig, und das bin ich, und möchte, Sie kämen. An Emily und Serena meine besten Grüße und Wünsche, und leben Sie und Moscheles so wohl und glücklich wie ich es Ihnen wünsche. Ihr Felix Mendelssohn Bartholdy.
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Denn wenn ich mit Ihnen sprechen möchte, so will ich mich gar nicht sprechen hören, sondern Sie, also mag ich eigentlich gar keinen Brief schreiben, sondern einen lesen; es hilft aber zu nichts. Warum haben Sie mir auch verboten, mich nur ein ganz klein wenig zu bedanken? ich thäte es so gern und darf doch nicht, denn ich sehe Sie darüber lachen. Man kann aber für frohe Zeit gar nicht danken; sobald man sie übersieht, ist sie schon weg, und so lange man drin lebt, ist es alles so natürlich; denn ich habe es natürlich gefunden, wenn Sie und <persName xml:id="persName_d6c8c2e9-f917-4a4b-8f20-65fcea48753d">Moscheles<name key="PSN0113441" style="hidden">Moscheles, Ignaz (Isack) (1794-1870)</name></persName> mir Alles zu Liebe und alles Freundliche thaten was ich mir jemals wünschen kann; mir fiel gar nicht ein, daß es irgend anders sein könnte; jetzt aber sehe ich doch zuweilen, daß es zu alledem auch ein Glück war, und daß sich Alles gar nicht so von selbst versteht. 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Gegenwart und Vergangenheit hängen doch so sehr zusammen, und doch muß ich mich daran gewöhnen, daß die Vergangenheit vergangen sei. Es thut auch nichts, das Beste bleibt davon, drum schreibe ich Ihnen jetzt auch den Brief hier, und schicke ihn ab, so wenig daran ist. Sie haben es mir zuweilen nachgesehen, wenn ich sehr unausstehlich war, und behaupteten wohl gar, es sei genial; das ist es nun wohl nicht, aber das Herz ist schwarz wie der Küster sagt (die betreffende Geschichte lassen Sie sich von <persName xml:id="persName_3afb801f-9dd1-4b79-a09c-731e8a8098a4">Klingemann<name key="PSN0112434" style="hidden">Klingemann, Ernst Georg Carl Christoph Konrad (1798-1862)</name></persName> erzählen, wenn Sie sie nicht kennen). Denken Sie sich nebenbei, daß ich seit ich hier bin, noch keine Note haben componiren können. Das ist eigentlich das Schlimmste, denn hätte ich zu arbeiten, so wäre auch Alles andere gleich vorüber. 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So sieht es nämlich hier aus; die Leute heizen ein, der Regen kommt in Strömen herunter, kalte Fieber und Cholera, und Bundestagsbeschluß sind die Gespräche, und ich, der in Guildhall meine Rolle gespielt habe, muß nun hier behutsam und wohlwollend sprechen, um nicht radical zu erscheinen. Heut ist die Cholera wieder angekündigt, obwohl nicht auf Begehren; aber dies russische Geschenk wird nun wohl fürs erste vorhalten, und uns nicht wieder verlassen. Nur ist es gut, daß jetzt keine Hemmungen mehr dabei sind, sonst könnten sich Hamburg und Berlin wechselweise gegeneinander sperren und mir wäre das aus Gründen sehr ungelegen. 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So sagte ich, Sie würden auch wahrscheinlich nicht kommen, und da war man wieder gut. Aber heimlich sage ich nun doch: O kommen Sie, kommen Sie, so gut es Einem in Berlin gemacht werden kann, so wollen wir es schon machen, und wenn mir <persName xml:id="persName_0538b96a-5b38-4738-9776-a44f6008508e">Moscheles<name key="PSN0113441" style="hidden">Moscheles, Ignaz (Isack) (1794-1870)</name></persName> schriebe, daß er im October käme, so finge ich von heute an mich auf den 1. October zu freuen. Im Schnellpostcoupé ist so schöner Platz für zwei Personen, und die Fahrt geht so gemächlich – Sie sollten es doch thun. Aber heut’ quäle ich noch gar nicht, sondern ich bitte Sie nur, lassen Sie mich es wissen, wenn Sie nach Hamburg gehen, dann aber schreibe ich Ihnen einen 16stimmigen Brief, und alle Stimmen sollen rufen: Hierher. – Zwar haben Sie es wohl prächtig in Hamburg und ich denke mir lebhaft, wie schwer Sie sich davon losmachen können; <persName xml:id="persName_a52807ab-0397-405b-a858-ac38e1dbf223">Ihres Vaters<name key="PSN0110899" style="hidden">Embden, Adolph (Abraham) (1780-1855)</name></persName> neues Haus ist das Reizendste das man sich vorstellen kann; das schöne Wasser und die reichsstädtischen Thürme vor den Fenstern, und alle Stuben so hell und freundlich, voll und doch nicht gedrängt, und man vermißt keinen Comfort wenn man aus London kommt, und dazu sieht man es dem Bewohner und den Stuben und den Möbeln, namentlich aber dem großen Musiksaal an, wie sich Alle auf Sie freuen und Sie erwarten. Da werden Sie es wohl schön und behaglich finden; aber wenn wir auch keine Aussicht und keinen Comfort machen können, so würde sich doch Alles eben so sehr freuen, und das ist am Ende die Hauptsache. A propos, die <persName xml:id="persName_31807f94-8797-4613-add4-b211c536ef7f">Belleville<name key="PSN0113713" style="hidden">Oury, Anna Caroline (1808-1880)</name></persName> ist hier und macht wenig Glück, sie wollte ein Concert geben, in dem sie, wie sie in den Ankündigungen sagte, von <persName xml:id="persName_1607930b-95dd-4ff1-b5f5-e30ede9a99c7">Herrn Oury<name key="PSN0113714" style="hidden">Oury, Antonio James (1800-1883)</name></persName>, <persName xml:id="persName_941f7aa3-81dd-496b-b9e7-da612c05c69d">ihrem<name key="PSN0113713" style="hidden">Oury, Anna Caroline (1808-1880)</name></persName> Manne, unterstützt würde; aber die Berliner wollten nicht hineingehen, da hat sie es nicht gegeben, und im Theater zwischen zwei Comödien gespielt. Die Leute sagten, sie spiele ohne Seele, und deßhalb ging ich lieber gar nicht hin; denn was ein Berliner ohne Seele nennt, muß verzweifelt kalt sein. Ueberhaupt bin ich blasirt was das <title xml:id="title_a3130b0c-a2b6-45df-9c25-86df1a80d0fb">Septett von Hummel<name key="PSN0112147" style="hidden" type="author">Hummel, Johann Nepomuk (1778-1837)</name><name key="CRT0109428" style="hidden" type="music">Septett militaire C-Dur, op. 114</name></title> und <title xml:id="title_dc59df51-a8d5-4f6d-8f97-572c90db49d2">Herzsche<name key="PSN0111939" style="hidden" type="author">Herz, Henri (Heinrich) (1803-1888)</name><name key="CRT0109242" style="hidden" type="music">Variationen</name></title> Variationen betrifft, und das Publikum hatte Recht, und war auch blasirt. Die „Schöne Stadt“ ist nebenbei auch häßlich, also ziehe ich die <persName xml:id="persName_14368eb7-21e6-4cc9-86bd-17a8d9e24c83">Blahetka<name key="PSN0109968" style="hidden">Blahetka, Anne Marie Leopoldine (1809-1885)</name></persName> vor. Ach Gott, gegen die bin ich sehr unartig gewesen und habe keinen Abschied genommen; vertheidigen Sie mich nur ja, aber namentlich vertheidigen Sie mich, wenn die Ihrigen in Hamburg mich sehr übel finden und angreifen wegen meiner Berliner Aeußerung. Dann sagen Sie, ich hätte nur aus Eigennutz so gesprochen, und es sei mir dabei hauptsächlich um meine eigene Freude zu thun, wenn ich Sie beide und die <persName xml:id="persName_1a56ef7d-b5e2-44d9-b692-19a1464a5053">Kinder<name key="PSN0113439" style="hidden">Moscheles, Emily Mary (1827-1889)</name><name key="PSN0113443" style="hidden">Moscheles, Serena (Serina) Anna (1830-1902)</name></persName> einmal wieder sehen könnte. Ich sei überhaupt eigennützig, und das bin ich, und möchte, Sie kämen. <seg type="closer">An <persName xml:id="persName_7f4484cc-c7fa-40b1-860f-861f54dcf76d">Emily<name key="PSN0113439" style="hidden">Moscheles, Emily Mary (1827-1889)</name></persName> und <persName xml:id="persName_caf78c37-6c8f-4e5b-a435-899ffbd2c5bc">Serena<name key="PSN0113443" style="hidden">Moscheles, Serena (Serina) Anna (1830-1902)</name></persName> meine besten Grüße und Wünsche, und leben Sie und <persName xml:id="persName_b35eee23-0c0b-4133-b468-994549021539">Moscheles<name key="PSN0113441" style="hidden">Moscheles, Ignaz (Isack) (1794-1870)</name></persName> so wohl und glücklich wie ich es Ihnen wünsche.</seg> </p><signed rend="right">Ihr</signed><signed rend="right">Felix Mendelssohn Bartholdy.</signed></div></body> </text></TEI>