]> Brief: fmb-1832-05-02-01

fmb-1832-05-02-01

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Felix Mendelssohn Bartholdy an Luise von Schauroth in München <lb></lb>Paris, 16. April, und London, 2. Mai 1832 Diese Zeilen schreibe ich auf den Knien, und mit gerungenen Händen, wenn es anders möglich wäre, so zu schreiben! Einen so reuigen Briefanfang, wie diesen, habe ich selten machen müssen. Wahrscheinlich werden Sie die Unterschrift Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online (FMB-C) noch nicht ermittelt noch nicht ermittelt Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847) Transkription: FMB-C Edition: FMB-C Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe (FMB-C). Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft. Humboldt-Universität zu Berlin
Am Kupfergraben 5 10117 Berlin Deutschland
http://www.mendelssohn-online.com Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0) Bd. 2, 541

Maschinenlesbare Übertragung der vollständigen Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys (FMB-C)

Deutschland Berlin D-B Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Musikabteilung MA Nachl. 7,56/1,1. Abschrift fremder Hand Felix Mendelssohn Bartholdy an Luise von Schauroth in München; Paris, 16. April, und London, 2. Mai 1832 Diese Zeilen schreibe ich auf den Knien, und mit gerungenen Händen, wenn es anders möglich wäre, so zu schreiben! Einen so reuigen Briefanfang, wie diesen, habe ich selten machen müssen. Wahrscheinlich werden Sie die Unterschrift

Luise von Schauroth hat diesen Brief erst Ende Januar / Anfang Februar 1833 erhalten. Über den Brief schrieb Felix Mendelssohn Bartholdy am 5. September 1832 an Heinrich Joseph Baermann (Druck: Nohl, Musiker-Briefe, S. 315 f.): »In Paris hatte ich angefangen ihnen [der Familie Schauroth] zu schreiben, in London hatte ich den Brief fertig gemacht, auf die Post gegeben, und nach 2 Tagen bekomme ich ihn wieder zurück, weil, ich weiß nicht welches Postgeld nicht bezahlt war.« In Felix Mendelssohn Bartholdys Brief vom 25. Januar 1833 (fmb-1833-01-25-01) an Luise von Schauroth (Abschrift, D-LEsm, Musik- und Theatergeschichte, MT/2011/362; bis Anfang 2011: Sammlung Dr. Rudolf Elvers, Berlin) heißt es: »Es ist nun beinahe ein Jahr her, daß ich die inliegenden Zeilen an Sie schrieb.«

UNbekannt

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Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C: Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz Hin- und Gegenbriefe Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML-TEI-Basis.

Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy 1809-1847 in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept, Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.

16. April und 2. Mai 1832 Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)counter-resetMendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847) Paris Frankreich Schauroth, Augustine Luise Friederike Ernestine von München Deutschland deutsch
Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)Paris den 16 April 1832Hochgeehrte Frau Baronin!

Diese Zeilen schreibe ich auf den Knien, und mit gerungenen Händen, wenn es anders möglich wäre, so zu schreiben! Einen so reuigen Briefanfang, wie diesen, habe ich selten machen müssen. Wahrscheinlich werden Sie die Unterschrift lesen, und dann gar nicht weiter lesen, sondern den ganzen Brief entweder verbrennen, oder zum Garnknäuel gebrauchen, sodaß er erst in einem halben Jahre wieder zum Vorschein kommt; oder Fräulein LouiseSchauroth, Augustine Luise Ernestine von (1811-1856) wird Bleistifte darauf probiren, oder Fräulein DelphineSchauroth, Delphine (Adolphine) von (1814-1887) Notenfedern. Doch will ich die Entschuldigung, die ich wegen meines undankbaren Stillschweigens zu machen habe, immerhin darauf schreiben, damit sie endlich beim Garnwickeln, oder wenn der Bleistift spitz, und die Feder stumpf genug ist, den Brief einmal aus Zerstreuung durchlesen, und am Ende sagen müssen, mein Zögern sei fast natürlich. Was ich nämlich vorausgesagt, – theils geahndet, theils gewußt habe, ist eingetroffen, und ich habe, seit ich von Ihnen fortreiste, wenig frohe Tage gehabt; – hier fast gar keine. Die ersten Wochen nehme ich aus, wo ich in Frankfurt, und am Rhein, mich wohl und heimisch fühlte, in der Mitte von lieben freundlichen Menschen, und wahren Künstlern, wo viel Musik gemacht, und lustig gelebt wurde. Aber seit ich hier bin, ist es als sollte ich in meiner Meinung über Paris immer mehr bestätigt werden, und gegen Fräulein DelphineSchauroth, Delphine (Adolphine) von (1814-1887) Recht behalten, die behauptete, es würde mir hier sehr gut gefallen. Ich habe mein möglichstes dazu gethan; aber eine Todesnachricht nach der andern, die ich von Hause bekam, machten mir nach und nach den Aufenthalt immer unheimlicher und fataler. Ich, der ich solche schmerzliche Botschaften noch nie gekannt hatte, habe hier vom Verlust zweier enger VerwandtenMendelssohn, Henriette Maria (Jette) (1775-1831)Beer, Ludwig (1821-1831), meines einzigen FreundesRietz, Eduard Theodor Ludwig (1802-1832) von der Kindheit her, zweier FreundinnenPeters, Ulrike Maria Wilhelmina (1807-1832)Mendelsohn, Eva (?-1831) meiner SchwesternMendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Rebecka Henriette (1811-1858)Hensel, Fanny Cäcilia (1805-1847), und nun noch des alten GoetheGoethe, Johann Wolfgang (seit 1782) von (1749-1832) erfahren müssen, der der letzte Künstler in Deutschland war. Dadurch war ich unwohl geworden, habe fast den ganzen Winter durch gelitten, und wurde endlich vor einem Monat ernsthaft krank, sodaß ich das Bett hüten, und Mitleidsvisiten empfangen mußte; – zwei entsetzliche Dinge. Mittlerweile war die Cholera wüthend hereingebrochen, hatte mich auch einige Tage lang angepackt; ich entwischte glücklich, habe aber bis jetzt immer noch nicht reisen dürfen, und muß nun zuhören, wie alles von Tod, Sterben, Testamenten, Kampfer und Kamillenthee spricht, wie die Deputirten fortlaufen, die Eckensteher sich betrinken, die Damen Flanellkleider tragen, und alle doch die Krankheit bekommen, wenn Gott will. Ein reizender Aufenthalt. So habe ich fast den ganzen Winter im tiefsten Mismuthe zugebracht, habe arbeiten wollen und mußte in Concerten spielen, wäre gern allein gewesen und mußte Abends in soiréen aushalten, hätte gern Musik gehört und mußte in die Oper gehen – mit einem Wort, ich brummte fortwährend, und hätte Fräulein LouiseSchauroth, Augustine Luise Ernestine von (1811-1856) mich gesehen, so hätte sie mehr gescholten als je, denn unausstehlich war ich allerdings. – Da war es mir nun nicht möglich einen vernünftigen Brief zusammenzubringen, die Federn hätt’ ich zerkaut und das Papier zerrissen, und darum schrieb ich lieber nicht, und wartete bis heut, wo ich meine Koffer gepackt habe, an die Abreise denke und mich wohl fühle. Da habe ich das Bedürfniß, mich Ihrem Andenken zurückzurufen, und Sie zu bitten, mich nicht für eine „horreur“ zu halten wegen meines Schweigens, sondern feurige Kohlen auf mein Haupt zu sammeln, und mir zu sagen, wie Sie leben.

Dies ist meine Entschuldigung und besagt zugleich wie ich hier lebe, als Mensch; nun muß ich aber noch als Musiker sprechen, denn das wird Fräulein DelphineSchauroth, Delphine (Adolphine) von (1814-1887) wissen wollen, und Mensch und Musiker sind hier zweierlei. Ich habe es gefunden wie ich es mir gedacht habe, in vielen Punkten prachtvoll in andern jämmerlich. Obenan steht das Orchester des ConservatoireConservatoire de MusiqueParisFrankreich, welches wirklich ganz herrlich ist, und wenn ihnen ein Stück gefällt, so ist keiner im ganzen Orchester, bis auf den Pauker, der nicht den lebhaftesten Antheil daran nehme, und mit dem französischen esprit de corps geht dann das ganze herrlich. Zugleich steht HabeneckHabeneck, François-Antoine (1781-1849) an der Spitze, einer der wenigen, die gute Musik wirklich lieben, und der hält es gut zusammen; ob es bleiben wird, ob es nicht schon gesunken ist, und ob das Publicum nicht dies Jahr viel kälter war, als die vorigen, wie viele behaupten wollen, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß es das beste Orchester ist, das ich bis jetzt gehört, und auch vielleicht hören werde. Sie haben unter andern meine Ouvertüre zum Sommernachttraum<list style="hidden" type="fmb_works_directory" xml:id="title_xo2naovn-pg7u-zajs-cjaw-cf2nnynewabm"> <item n="1" sortKey="musical_works" style="hidden"></item> <item n="2" sortKey="instrumental_music" style="hidden"></item> <item n="3" sortKey="orchestral_music" style="hidden"></item> <item n="4" sortKey="overtures_and_other_orchestral_works" style="hidden"></item></list><name key="PSN0000001" style="hidden" type="author">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</name><name key="PRC0100359" style="hidden">Konzert-Ouvertüre Nr. 1 zu Shakespeares Sommernachtstraum E-Dur, [Juli 1826] bis 6. August 1826<idno type="MWV">P 3</idno><idno type="op">21</idno></name> zweimal ganz vortrefflich gespielt, aber gar die Beethovenschen Symphonien<name key="PSN0109771" style="hidden" type="author">Beethoven, Ludwig van (1770-1827)</name><name key="CRT0108061" style="hidden" type="music">Sinfonien</name>, die sie fast auswendig wissen, werden in einer merkwürdigen Vollkommenheit gegeben. Dann habe ich sehr große Freude an BaillotsBaillot, Pierre Marie François de Sales (1771-1842) Spiel gehabt, der ein wahrer Künstler und Musiker ist. Sie kennen ihn aber und ich brauche nichts von ihm zu beschreiben. In der Clavierwelt sieht es betrübt aus, da rechnen sie Musik nach sous und Franken, spielen nach Napoleons und sind langweilig. Nur HerzHerz, Henri (Heinrich) (1803-1888) ist meine einzige Freude, ein elegant nach wie vor, süß wie Syrop, zart wie eine Dragee, der einzige der sich oben gehalten hat, trotz der Revolution die alle Künstler arm macht; er hat sich verfünffacht, denn er fabricirt Pianos, componirt, giebt Stunden, spielt, und verlegt selbst. Da bring einer eine Dampfmaschiene hinein, und sein Glück ist gemacht. KalkbrennerKalkbrenner, Friedrich Wilhelm Michael (1785-1849) ist mir aber der Unausstehlichste; ich habe ihn erst diesmal recht in seiner wahren Größe kennen gelernt.

Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)

London den 2. May. Es ist eigentlich sehr unrecht, daß ich es noch wage, diesen Brief abzuschicken, aber es kommt mir jetzt vor, als enthalte er eine bessere Entschuldigung, als ich sonst je machen könnte. Sie sehen daraus gleich, wie ich nicht Ruhe und Zeit zu Beendigung eines Briefes in Paris hatte, die jungen Musiker machten mir die Ehre mich zu überlaufen, und ich konnte sie nicht ausstehen, die alten Musiker prätendirten, daß ich sie überlaufen sollte, krank war ich noch dazu, bis zum Augenblick meiner Abreise, da gab es wenig Zeit, und wie unwirsch und böse mir zu Muthe war, können Sie auch alles daran sehen. Da fasse ich mir denn ein Herz, lasse den Brief zu Ihnen wandern, und füge nichts als meine herzlichsten Grüße und Wünsche hinzu. Mir ist hier wohl, wie einem Fisch im Wasser, in den 8 Tagen die ich hier bin, habe ich mich unglaublich erholt, fühle mich wieder gesund, bin wieder ein Mensch geworden, und bin nicht mehr eine marmotte. – Zugleich sehe ich meine alten lieben Freunde wieder, brauche keine neuen Bekanntschaften zu machen, kurz der Wind hat sich wieder einmal gedreht, und will frohe Zeit bringen. Daß ich da Ihnen nun schreiben muß, und an Sie alle täglich denken, ist kein Wunder, denn ich thue es in jeder frohen Zeit; aber lassen Sie mich wissen, wie es Ihnen geht, wie Sie leben, wenn Sie mich ganz verabscheuen, so sagen Sie mir wenigstens das, oder sagen Sie ein Paar Worte und leben Sie glücklich und wohl

IhrFelix Mendelssohn Bartholdy

103 Great Portland Street

            Paris den 16 April 1832Hochgeehrte Frau Baronin!
Diese Zeilen schreibe ich auf den Knien, und mit gerungenen Händen, wenn es anders möglich wäre, so zu schreiben! Einen so reuigen Briefanfang, wie diesen, habe ich selten machen müssen. Wahrscheinlich werden Sie die Unterschrift lesen, und dann gar nicht weiter lesen, sondern den ganzen Brief entweder verbrennen, oder zum Garnknäuel gebrauchen, sodaß er erst in einem halben Jahre wieder zum Vorschein kommt; oder Fräulein Louise wird Bleistifte darauf probiren, oder Fräulein Delphine Notenfedern. Doch will ich die Entschuldigung, die ich wegen meines undankbaren Stillschweigens zu machen habe, immerhin darauf schreiben, damit sie endlich beim Garnwickeln, oder wenn der Bleistift spitz, und die Feder stumpf genug ist, den Brief einmal aus Zerstreuung durchlesen, und am Ende sagen müssen, mein Zögern sei fast natürlich. Was ich nämlich vorausgesagt, – theils geahndet, theils gewußt habe, ist eingetroffen, und ich habe, seit ich von Ihnen fortreiste, wenig frohe Tage gehabt; – hier fast gar keine. Die ersten Wochen nehme ich aus, wo ich in Frankfurt, und am Rhein, mich wohl und heimisch fühlte, in der Mitte von lieben freundlichen Menschen, und wahren Künstlern, wo viel Musik gemacht, und lustig gelebt wurde. Aber seit ich hier bin, ist es als sollte ich in meiner Meinung über Paris immer mehr bestätigt werden, und gegen Fräulein Delphine Recht behalten, die behauptete, es würde mir hier sehr gut gefallen. Ich habe mein möglichstes dazu gethan; aber eine Todesnachricht nach der andern, die ich von Hause bekam, machten mir nach und nach den Aufenthalt immer unheimlicher und fataler. Ich, der ich solche schmerzliche Botschaften noch nie gekannt hatte, habe hier vom Verlust zweier enger Verwandten, meines einzigen Freundes von der Kindheit her, zweier Freundinnen meiner Schwestern, und nun noch des alten Goethe erfahren müssen, der der letzte Künstler in Deutschland war. Dadurch war ich unwohl geworden, habe fast den ganzen Winter durch gelitten, und wurde endlich vor einem Monat ernsthaft krank, sodaß ich das Bett hüten, und Mitleidsvisiten empfangen mußte; – zwei entsetzliche Dinge. Mittlerweile war die Cholera wüthend hereingebrochen, hatte mich auch einige Tage lang angepackt; ich entwischte glücklich, habe aber bis jetzt immer noch nicht reisen dürfen, und muß nun zuhören, wie alles von Tod, Sterben, Testamenten, Kampfer und Kamillenthee spricht, wie die Deputirten fortlaufen, die Eckensteher sich betrinken, die Damen Flanellkleider tragen, und alle doch die Krankheit bekommen, wenn Gott will. Ein reizender Aufenthalt. So habe ich fast den ganzen Winter im tiefsten Mismuthe zugebracht, habe arbeiten wollen und mußte in Concerten spielen, wäre gern allein gewesen und mußte Abends in soiréen aushalten, hätte gern Musik gehört und mußte in die Oper gehen – mit einem Wort, ich brummte fortwährend, und hätte Fräulein Louise mich gesehen, so hätte sie mehr gescholten als je, denn unausstehlich war ich allerdings. – Da war es mir nun nicht möglich einen vernünftigen Brief zusammenzubringen, die Federn hätt’ ich zerkaut und das Papier zerrissen, und darum schrieb ich lieber nicht, und wartete bis heut, wo ich meine Koffer gepackt habe, an die Abreise denke und mich wohl fühle. Da habe ich das Bedürfniß, mich Ihrem Andenken zurückzurufen, und Sie zu bitten, mich nicht für eine „horreur“ zu halten wegen meines Schweigens, sondern feurige Kohlen auf mein Haupt zu sammeln, und mir zu sagen, wie Sie leben.
Dies ist meine Entschuldigung und besagt zugleich wie ich hier lebe, als Mensch; nun muß ich aber noch als Musiker sprechen, denn das wird Fräulein Delphine wissen wollen, und Mensch und Musiker sind hier zweierlei. Ich habe es gefunden wie ich es mir gedacht habe, in vielen Punkten prachtvoll in andern jämmerlich. Obenan steht das Orchester des Conservatoire, welches wirklich ganz herrlich ist, und wenn ihnen ein Stück gefällt, so ist keiner im ganzen Orchester, bis auf den Pauker, der nicht den lebhaftesten Antheil daran nehme, und mit dem französischen esprit de corps geht dann das ganze herrlich. Zugleich steht Habeneck an der Spitze, einer der wenigen, die gute Musik wirklich lieben, und der hält es gut zusammen; ob es bleiben wird, ob es nicht schon gesunken ist, und ob das Publicum nicht dies Jahr viel kälter war, als die vorigen, wie viele behaupten wollen, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß es das beste Orchester ist, das ich bis jetzt gehört, und auch vielleicht hören werde. Sie haben unter andern meine Ouvertüre zum Sommernachttraum zweimal ganz vortrefflich gespielt, aber gar die Beethovenschen Symphonien, die sie fast auswendig wissen, werden in einer merkwürdigen Vollkommenheit gegeben. Dann habe ich sehr große Freude an Baillots Spiel gehabt, der ein wahrer Künstler und Musiker ist. Sie kennen ihn aber und ich brauche nichts von ihm zu beschreiben. In der Clavierwelt sieht es betrübt aus, da rechnen sie Musik nach sous und Franken, spielen nach Napoleons und sind langweilig. Nur Herz ist meine einzige Freude, ein elegant nach wie vor, süß wie Syrop, zart wie eine Dragee, der einzige der sich oben gehalten hat, trotz der Revolution die alle Künstler arm macht; er hat sich verfünffacht, denn er fabricirt Pianos, componirt, giebt Stunden, spielt, und verlegt selbst. Da bring einer eine Dampfmaschiene hinein, und sein Glück ist gemacht. Kalkbrenner ist mir aber der Unausstehlichste; ich habe ihn erst diesmal recht in seiner wahren Größe kennen gelernt.
London den 2. May. Es ist eigentlich sehr unrecht, daß ich es noch wage, diesen Brief abzuschicken, aber es kommt mir jetzt vor, als enthalte er eine bessere Entschuldigung, als ich sonst je machen könnte. Sie sehen daraus gleich, wie ich nicht Ruhe und Zeit zu Beendigung eines Briefes in Paris hatte, die jungen Musiker machten mir die Ehre mich zu überlaufen, und ich konnte sie nicht ausstehen, die alten Musiker prätendirten, daß ich sie überlaufen sollte, krank war ich noch dazu, bis zum Augenblick meiner Abreise, da gab es wenig Zeit, und wie unwirsch und böse mir zu Muthe war, können Sie auch alles daran sehen. Da fasse ich mir denn ein Herz, lasse den Brief zu Ihnen wandern, und füge nichts als meine herzlichsten Grüße und Wünsche hinzu. Mir ist hier wohl, wie einem Fisch im Wasser, in den 8 Tagen die ich hier bin, habe ich mich unglaublich erholt, fühle mich wieder gesund, bin wieder ein Mensch geworden, und bin nicht mehr eine marmotte. – Zugleich sehe ich meine alten lieben Freunde wieder, brauche keine neuen Bekanntschaften zu machen, kurz der Wind hat sich wieder einmal gedreht, und will frohe Zeit bringen. Daß ich da Ihnen nun schreiben muß, und an Sie alle täglich denken, ist kein Wunder, denn ich thue es in jeder frohen Zeit; aber lassen Sie mich wissen, wie es Ihnen geht, wie Sie leben, wenn Sie mich ganz verabscheuen, so sagen Sie mir wenigstens das, oder sagen Sie ein Paar Worte und leben Sie glücklich und wohl
Ihr
Felix Mendelssohn Bartholdy
103 Great Portland Street          
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Januar 1833 (fmb-1833-01-25-01) an Luise von Schauroth (Abschrift, D-LEsm, Musik- und Theatergeschichte, MT/2011/362; bis Anfang 2011: Sammlung Dr. Rudolf Elvers, Berlin) heißt es: »Es ist nun beinahe ein Jahr her, daß ich die inliegenden Zeilen an Sie schrieb.«</p><handDesc hands="1"><p>UNbekannt</p></handDesc><accMat><listBibl><bibl type="none"></bibl></listBibl></accMat></physDesc> <history> <provenance> <p>-</p> </provenance> </history> </msDesc> </sourceDesc> </fileDesc> <encodingDesc><projectDesc><p>Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C: Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz Hin- und Gegenbriefe Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML-TEI-Basis.</p></projectDesc><editorialDecl><p>Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy 1809-1847 in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. 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Mai 1832</date></creation> <correspDesc> <correspAction type="sent"> <persName key="PSN0000001" resp="author" xml:id="persName_b38c2fee-5355-4b3b-8c5b-653117f9bef4">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName><note>counter-reset</note><persName key="PSN0000001" resp="writer">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName> <placeName type="writing_place" xml:id="placeName_7262c993-e179-481f-9355-20a7ebed71ec"> <settlement key="STM0100105">Paris</settlement> <country>Frankreich</country></placeName></correspAction> <correspAction type="received"> <persName key="PSN0114514" resp="receiver" xml:id="persName_6fe70733-1a70-43c8-8818-82a5b6e13947">Schauroth, Augustine Luise Friederike Ernestine von</persName> <placeName type="receiving_place" xml:id="placeName_a9b0f302-ffc0-4a49-b5c5-4e9bf7be9536"> <settlement key="STM0100169">München</settlement> <country>Deutschland</country> </placeName></correspAction> </correspDesc> <langUsage> <language ident="de">deutsch</language> </langUsage> </profileDesc> <revisionDesc status="draft">  </revisionDesc> </teiHeader> <text type="letter"> <body> <div n="1" type="act_of_writing" xml:id="div_55d3cdfe-dc73-4567-8843-1ebb3c7aceaf"><docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor><docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor><dateline rend="right">Paris den <date cert="high" when="1832-04-16" xml:id="date_29bc869a-2ce3-48cf-8c1b-bbc1426b6b31">16 April 1832</date></dateline><salute rend="left">Hochgeehrte Frau Baronin!</salute><p style="paragraph_without_indent">Diese Zeilen schreibe ich auf den Knien, und mit gerungenen Händen, wenn es anders möglich wäre, so zu <hi rend="underline">schreiben</hi>! Einen so reuigen Briefanfang, wie diesen, habe ich selten machen müssen. Wahrscheinlich werden Sie die Unterschrift lesen, und dann gar nicht weiter lesen, sondern den ganzen Brief entweder verbrennen, oder zum Garnknäuel gebrauchen, sodaß er erst in einem halben Jahre wieder zum Vorschein kommt; oder <persName xml:id="persName_de830759-33c0-4d85-9da6-cdf1614e306b">Fräulein Louise<name key="PSN0114513" style="hidden">Schauroth, Augustine Luise Ernestine von (1811-1856)</name></persName> wird Bleistifte darauf probiren, oder <persName xml:id="persName_cff7da61-0574-4036-8f13-4e83f53082f3">Fräulein Delphine<name key="PSN0114515" style="hidden">Schauroth, Delphine (Adolphine) von (1814-1887)</name></persName> Notenfedern. Doch will ich die Entschuldigung, die ich wegen meines undankbaren Stillschweigens zu machen habe, immerhin darauf schreiben, damit sie endlich beim Garnwickeln, oder wenn der Bleistift spitz, und die Feder stumpf genug ist, den Brief einmal aus Zerstreuung durchlesen, und am Ende sagen müssen, mein Zögern sei fast natürlich. Was ich nämlich vorausgesagt, – theils geahndet, theils gewußt habe, ist eingetroffen, und ich habe, seit ich von Ihnen fortreiste, wenig frohe Tage gehabt; – <hi rend="underline">hier</hi> fast gar keine. Die ersten Wochen nehme ich aus, wo ich in Frankfurt, und am Rhein, mich wohl und heimisch fühlte, in der Mitte von lieben freundlichen Menschen, und wahren Künstlern, wo viel Musik gemacht, und lustig gelebt wurde. Aber seit ich hier bin, ist es als sollte ich in meiner Meinung über Paris immer mehr bestätigt werden, und gegen <persName xml:id="persName_037c732f-acb2-48af-b48d-4bdce1695be3">Fräulein Delphine<name key="PSN0114515" style="hidden">Schauroth, Delphine (Adolphine) von (1814-1887)</name></persName> Recht behalten, die behauptete, es würde mir hier sehr gut gefallen. Ich habe mein möglichstes dazu gethan; aber eine Todesnachricht nach der andern, die ich von Hause bekam, machten mir nach und nach den Aufenthalt immer unheimlicher und fataler. Ich, der ich solche schmerzliche Botschaften noch nie gekannt hatte, habe hier vom Verlust <persName xml:id="persName_581e3319-8878-4fc0-acd4-cf251dd88367">zweier enger Verwandten<name key="PSN0113224" style="hidden">Mendelssohn, Henriette Maria (Jette) (1775-1831)</name><name key="PSN0109768" style="hidden">Beer, Ludwig (1821-1831)</name></persName>, <persName xml:id="persName_c9ee508f-d634-43c8-a307-b57e2b75c671">meines einzigen Freundes<name key="PSN0114202" style="hidden">Rietz, Eduard Theodor Ludwig (1802-1832)</name></persName> von der Kindheit her, <persName xml:id="persName_0d10b8e4-094d-4ec6-8bac-e7d8a1f53c3d">zweier Freundinnen<name key="PSN0113830" style="hidden">Peters, Ulrike Maria Wilhelmina (1807-1832)</name><name key="PSN0113205" style="hidden">Mendelsohn, Eva (?-1831)</name></persName> meiner <persName xml:id="persName_08031cba-9d9f-4134-8e6c-ae49f8b64a72">Schwestern<name key="PSN0117586" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Rebecka Henriette (1811-1858)</name><name key="PSN0111893" style="hidden">Hensel, Fanny Cäcilia (1805-1847)</name></persName>, und nun noch des alten <persName xml:id="persName_8a66198b-aef4-4f1c-9cc9-3ea10f5e6b9c">Goethe<name key="PSN0111422" style="hidden">Goethe, Johann Wolfgang (seit 1782) von (1749-1832)</name></persName> erfahren müssen, der der letzte Künstler in Deutschland war. Dadurch war ich unwohl geworden, habe fast den ganzen Winter durch gelitten, und wurde endlich vor einem Monat ernsthaft krank, sodaß ich das Bett hüten, und Mitleidsvisiten empfangen mußte; – zwei entsetzliche Dinge. Mittlerweile war die Cholera wüthend hereingebrochen, hatte mich auch einige Tage lang angepackt; ich entwischte glücklich, habe aber bis jetzt immer noch nicht reisen dürfen, und muß nun zuhören, wie alles von Tod, Sterben, Testamenten, Kampfer und Kamillenthee spricht, wie die Deputirten fortlaufen, die Eckensteher sich betrinken, die Damen Flanellkleider tragen, und alle doch die Krankheit bekommen, wenn Gott will. Ein reizender Aufenthalt. So habe ich fast den ganzen Winter im tiefsten Mismuthe zugebracht, habe arbeiten wollen und mußte in Concerten spielen, wäre gern allein gewesen und mußte Abends in soiréen aushalten, hätte gern Musik gehört und mußte in die Oper gehen – mit einem Wort, ich brummte fortwährend, und hätte <persName xml:id="persName_c8f39273-de86-4b90-80ea-ea5e816799ad">Fräulein Louise<name key="PSN0114513" style="hidden">Schauroth, Augustine Luise Ernestine von (1811-1856)</name></persName> mich gesehen, so hätte sie mehr gescholten als je, denn unausstehlich war ich allerdings. – Da war es mir nun nicht möglich einen vernünftigen Brief zusammenzubringen, die Federn hätt’ ich zerkaut und das Papier zerrissen, und darum schrieb ich lieber nicht, und wartete bis heut, wo ich meine Koffer gepackt habe, an die Abreise denke und mich wohl fühle. Da habe ich das Bedürfniß, mich Ihrem Andenken zurückzurufen, und Sie zu bitten, mich nicht für eine „horreur“ zu halten wegen meines Schweigens, sondern feurige Kohlen auf mein Haupt zu sammeln, und mir zu sagen, wie Sie leben.</p><p>Dies ist meine Entschuldigung und besagt zugleich wie ich hier lebe, <hi rend="underline">als Mensch</hi>; nun muß ich aber noch als Musiker sprechen, denn das wird <persName xml:id="persName_0f088efc-a560-41d0-9da5-a072f4d101a2">Fräulein Delphine<name key="PSN0114515" style="hidden">Schauroth, Delphine (Adolphine) von (1814-1887)</name></persName> wissen wollen, und Mensch und Musiker sind hier zweierlei. Ich habe es gefunden wie ich es mir gedacht habe, in vielen Punkten prachtvoll in andern jämmerlich. Obenan steht das Orchester des <placeName xml:id="placeName_47132ba3-2b9a-4770-988c-b9960c852d36">Conservatoire<name key="NST0100349" style="hidden" subtype="" type="institution">Conservatoire de Musique</name><settlement key="STM0100105" style="hidden" type="">Paris</settlement><country style="hidden">Frankreich</country></placeName>, welches wirklich ganz herrlich ist, und wenn ihnen ein Stück gefällt, so ist keiner im ganzen Orchester, bis auf den Pauker, der nicht den lebhaftesten Antheil daran nehme, und mit dem französischen esprit de corps geht dann das ganze herrlich. Zugleich steht <persName xml:id="persName_a3d8b411-9f13-4bee-b5aa-a38cc4e76c9b">Habeneck<name key="PSN0111647" style="hidden">Habeneck, François-Antoine (1781-1849)</name></persName> an der Spitze, einer der wenigen, die gute Musik wirklich lieben, und der hält es gut zusammen; ob es bleiben wird, ob es nicht schon gesunken ist, und ob das Publicum nicht dies Jahr viel kälter war, als die vorigen, wie viele behaupten wollen, weiß ich nicht, aber ich weiß, daß es das beste Orchester ist, das ich bis jetzt gehört, und auch vielleicht hören werde. Sie haben unter andern <title xml:id="title_32a0d042-f4f4-4484-9033-b07d347a6ae9">meine Ouvertüre zum Sommernachttraum<list style="hidden" type="fmb_works_directory" xml:id="title_xo2naovn-pg7u-zajs-cjaw-cf2nnynewabm"> <item n="1" sortKey="musical_works" style="hidden"></item> <item n="2" sortKey="instrumental_music" style="hidden"></item> <item n="3" sortKey="orchestral_music" style="hidden"></item> <item n="4" sortKey="overtures_and_other_orchestral_works" style="hidden"></item></list><name key="PSN0000001" style="hidden" type="author">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</name><name key="PRC0100359" style="hidden">Konzert-Ouvertüre Nr. 1 zu Shakespeares Sommernachtstraum E-Dur, [Juli 1826] bis 6. August 1826<idno type="MWV">P 3</idno><idno type="op">21</idno></name></title> zweimal ganz vortrefflich gespielt, aber gar die <title xml:id="title_8bd64067-b356-494b-861d-5b47e3fd6817">Beethovenschen Symphonien<name key="PSN0109771" style="hidden" type="author">Beethoven, Ludwig van (1770-1827)</name><name key="CRT0108061" style="hidden" type="music">Sinfonien</name></title>, die sie fast auswendig wissen, werden in einer merkwürdigen Vollkommenheit gegeben. Dann habe ich sehr große Freude an <persName xml:id="persName_e811dbce-1cfc-4566-97a6-c781ab4e0513">Baillots<name key="PSN0109640" style="hidden">Baillot, Pierre Marie François de Sales (1771-1842)</name></persName> Spiel gehabt, der ein wahrer Künstler und Musiker ist. Sie kennen ihn aber und ich brauche nichts von ihm zu beschreiben. In der Clavierwelt sieht es betrübt aus, da rechnen sie Musik nach sous und Franken, spielen nach Napoleons und sind langweilig. Nur <persName xml:id="persName_b6e51477-6b36-4bae-bb40-019a0caa80aa">Herz<name key="PSN0111939" style="hidden">Herz, Henri (Heinrich) (1803-1888)</name></persName> ist meine einzige Freude, ein elegant nach wie vor, süß wie Syrop, zart wie eine Dragee, der einzige der sich oben gehalten hat, trotz der Revolution die alle Künstler arm macht; er hat sich verfünffacht, denn er fabricirt Pianos, componirt, giebt Stunden, spielt, und verlegt selbst. Da bring einer eine Dampfmaschiene hinein, und sein Glück ist gemacht. <persName xml:id="persName_b611f6c2-9a05-44dc-8752-1fa6cf9309c7">Kalkbrenner<name key="PSN0112301" style="hidden">Kalkbrenner, Friedrich Wilhelm Michael (1785-1849)</name></persName> ist mir aber der Unausstehlichste; ich habe ihn erst diesmal recht in seiner wahren Größe kennen gelernt.</p></div><div n="2" type="act_of_writing" xml:id="div_9884c85b-bf54-4b97-95cd-1f85f0e15d25"><docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor><docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor><p><seg type="inline">London den <date cert="high" when="1832-05-02" xml:id="date_73ac0584-eddd-475a-b2a4-dd05d88b2073">2. May</date>.</seg> Es ist eigentlich sehr unrecht, daß ich es noch wage, diesen Brief abzuschicken, aber es kommt mir jetzt vor, als enthalte er eine bessere Entschuldigung, als ich sonst je machen könnte. Sie sehen daraus gleich, wie ich nicht Ruhe und Zeit zu Beendigung eines Briefes in Paris hatte, die jungen Musiker machten mir die Ehre mich zu überlaufen, und ich konnte sie nicht ausstehen, die alten Musiker prätendirten, daß ich sie überlaufen sollte, krank war ich noch dazu, bis zum Augenblick meiner Abreise, da gab es wenig Zeit, und wie unwirsch und böse mir zu Muthe war, können Sie auch alles daran sehen. Da fasse ich mir denn ein Herz, lasse den Brief zu Ihnen wandern, und füge nichts als meine herzlichsten Grüße und Wünsche hinzu. Mir ist hier wohl, wie einem Fisch im Wasser, in den 8 Tagen die ich hier bin, habe ich mich unglaublich erholt, fühle mich wieder gesund, bin wieder ein Mensch geworden, und bin nicht mehr eine marmotte. – Zugleich sehe ich meine alten lieben Freunde wieder, brauche keine neuen Bekanntschaften zu machen, kurz der Wind hat sich wieder einmal gedreht, und will frohe Zeit bringen. Daß ich da Ihnen nun schreiben muß, und an Sie alle täglich denken, ist kein Wunder, denn ich thue es in jeder frohen Zeit; <seg type="closer" xml:id="seg_fb35fabe-20ef-4276-8fb3-ce6b6bd30133">aber lassen Sie mich wissen, wie es Ihnen geht, wie Sie leben, wenn Sie mich ganz verabscheuen, so sagen Sie mir wenigstens das, oder sagen Sie ein Paar Worte und leben Sie glücklich und wohl</seg></p><signed rend="right">Ihr</signed><signed rend="right">Felix Mendelssohn Bartholdy</signed></div> <div type="sender_address" xml:id="div_cd7c6c62-9b33-47d6-a6b5-41b682132332"> <p style="paragraph_right"> <address> <addrLine>103 Great Portland Street</addrLine> </address> </p> </div></body> </text></TEI>