fmb-1831-08-20-01
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Lauterbrunnen, 13. August, bis Sarnen, 20. August 1831
Maschinenlesbare Übertragung der vollständigen Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys (FMB-C)
8 beschr. S.; Adresse, mehrere Poststempel. – Textverluste durch Siegelabriss.
Felix Mendelssohn Bartholdy
Green Books
Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C: Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz Hin- und Gegenbriefe Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML-TEI-Basis.
Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy 1809-1847 in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept, Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.
Hensel.
Ich komme eben von einem Spaziergange gegen den Schmadribach und das Breithorn zu her; alles was man sich von der Größe und dem Schwung der Berge denkt, ist niedrig gegen die Natur. Daß
Die Lage des Wirthshauses kennt ihr, und wenn Ihr Euch nicht mehr darauf besinnen könnt, so nehmt
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nur meinen Gruß.
Liebe
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ten. Da er nur erwünschte Nachrichten von Euerm Wohlsein enthielt, habe ich mich gleich aufgemacht, um eine 3tägige Tour nach Unterwalden und dem Brünig zu machen; dann will ich in Luzern Euren nächsten Brief abholen und dann gehts westlich und aus der Schweiz. Es wird mir aber schwer werden, Abschied zu nehmen, das Land ist über alle Begriffe schön, und obwohl das Wetter wieder entsetzlich ist, Regen und Sturm den ganzen Tag und die Nacht durch, so waren doch die Tellsplatte, das Grütli, Brunnen und Schwyz, und heut Abend die blendend grünen Wiesen in Unterwalden unvergeßlich schön. Dies Grün ist etwas Einziges, es erquickt die Augen und den ganzen Menschen. Deinen liebevollen Vorsichtsregeln, liebe die Zeit vergeht wohl schnell, wie denn Alles schnell vergeht, ausgenommen das Beste.
Lauterbrunnen 13 Aug. 1831. Ich komme eben von einem Spaziergange gegen den Schmadribach und das Breithorn zu her; alles was man sich von der Größe und dem Schwung der Berge denkt, ist niedrig gegen die Natur. Daß Goethe aus der Schweiz nichts anders zu schreiben gewußt hat, als ein Paar schwache Gedichte und die noch schwächeren Briefe ist mir eben so unbegreiflich, wie vieles andre in der Welt. Der Weg hieher war wieder einmal toll; wo vor 6 Tagen die schönste Fahrstraße war, ist jetzt ein wüstes Felsengewirr, ungeheure Blöcke in Menge, kleines Geröll, Sand, keine Spur menschlicher Arbeit mehr zu sehen. Die Wasser sind zwar ganz gefallen, aber sie können sich noch immer nicht beruhigen, man hört von Zeit zu Zeit wie die Steine durch einander geworfen werden, auch die Wasserfälle rollen mitten im weißen Staub schwarze Steine herunter ins Thal. Mein Führer zeigte mir ein zierliches, neues Haus, das mitten im wilden Bach stand, es gehöre seinem Schwager, sagte er, und umher sei eine schöne Wiese gewesen, die sehr viel eingebracht habe; der Mann habe das Haus in der Nacht verlassen müssen, die Wiese sey für ewige Zeiten verschwunden und Kiesel und Steine an ihrer Stelle: „er ist nie reich gewesen, aber nun ist er arm geworden“ beschloß er die ernsthafte Geschichte. Sonderbar ists, daß mitten in dieser entsetzlichen Verwüstung (denn die Lütschine hat die Breite des ganzen Thals eingenommen) mitten unter den sumpfigen Wiesen, und den Steinblöcken, wo keine Idee einer Straße mehr ist, daß da ein char à banc steht, und wahrscheinlich fürs erste auch stehen bleibt; die Leute wollten gerade während des Sturms durchfahren, da kam dies Wetter, sie mußten Wagen und Alles im Stich lassen, und der steht nun da und wartet. Es war mir ordentlich graulich, wie wir an die Stelle kamen, wo das ganze Thal, mit Straße und Dämmen ein weites Steinmeer ist, und wie mein Führer, der vorausgieng, immer leise für sich sagte: s isch furchtbar. Mitten im Bach hat das Wasser ein Paar große Baumstämme angeschleppt, in die Höhe gerichtet, und augenblicklich ein Paar Felsen so dagegen geworfen und sie so eingekeilt, daß die kahlen Bäume mitten im Flußbett halb aufrecht stehen. Ich würd nicht aufhören können, wenn ich Euch alle Formen der Verheerung erzählen wollte, die man von Unterseen bis hier sieht. Aber die Schönheit des Thals hat dabey einen größern Eindruck auf mich gemacht, als ich sagen kann; es ist unendlich schade, daß Ihr damals nicht tiefer hinein, als bis zum Staubbach gegangen seid; von da fängt eigentlich das Lauterbrunner Thal erst an, der schwarze Mönch mit allen Schneebergen dahinter wird immer gewaltiger, mächtiger; von allen Seiten kommen helle Staubwasserfälle ins Thal, den Schneebergen und Gletschern im Hintergrunde nähert man sich immer mehr durch die Tannenwälder und die Eichen und Ahornbäume, die feuchten Wiesen waren mit einer Unzahl bunter Blumen bedeckt, Einblatt, wilde Scabiosen, Glockenblumen, und so viel andre, auf der Seite warf die Lütschine ihre Blöcke über einander und hatte Felsen gebracht, wie mein Führer sagte „größer wie ein Ofen“, dann die geschnitzten, braunen Häuser, die Hecken – es ist über Alles schön. Leider konnten wir trotz aller Bemühung nicht zum Schmadribach gelangen, da alle Brücken, Wege und Stege fort sind; doch werde ich den Spaziergang nie vergessen; ich habe auch versucht den Mönch zu zeichnen aber wo will man mit dem kleinen Bleistift hin? Hegel sagt zwar, jeder menschliche Gedanke sey erhabner als die ganze Natur, aber hier finde ich das unbescheiden. Der Satz ist sehr schön, nur verflucht paradox; ich werde mich einstweilen an die ganze Natur halten, man fährt viel sicherer dabey. Die Lage des Wirthshauses kennt ihr, und wenn Ihr Euch nicht mehr darauf besinnen könnt, so nehmt mein ehemaliges Schweizerzeichenbuch, darin habe ich es verzeichnet (in allen Sinnen) und einen Fußweg vorne hinein erfunden, über den ich heute noch in Gedanken sehr viel gelacht habe. Aus demselben Fenster sehe ich jetzt eben und gucke mir die finstern Berge an, denn es ist Abend und spät, nämlich 3 4 auf 8, und ich habe eine Idee, die ist mir mehr werth, als die ganze Natur: ich will zu Bett gehen. Um 3 4 auf 8, sagt Fanny; Du Kleinstädter. “ Darum bin ich in Lauterbrunnen, sage ich. „Es wird nichts Geschlafenes“ sagt Beckchen. Dann schlaf ich aber erst recht ein. Also sag’ ich gute Nacht, Ihr Lieben! d. 14ten Morgens 10 Uhr in der Sennhütte auf der Wengernalp im himmlischen Wetter, nur meinen Gruß. Grindelwald Abends. Mehr konnte ich Euch heut früh nicht schreiben; es fiel mir schwer von der Jungfrau wegzusehen. Welch ein Tag war aber heute für mich! Vielleicht wohl der schönste auf der ganzen Reise; ein Tag, der einen für das übrige Leben reicher macht, und nie verläßt. Zu meinen frohsten Erinnerungen wird er immer gehören, denn das Eintreffen eines Wunsches, den man lange mit sich trägt, gehört wohl dazu und seit wir zusammen hier waren habe ich mir immer gewünscht mal wieder die kleine Scheideck zu sehen; so wachte ich heut früh fast furchtsam auf, es konnte so vieles dazwischen kommen: schlechtes Wetter, Wolken, Regen, Nebel. Aber nichts von alle dem kam. Es war ein Tag, als sey er nur dazu gemacht, daß ich über die Wengernalp gehen sollte; der Himmel mit weißen Wolken bezogen, die hoch über den höchsten Schneespitzen schwebten, die Sonne verdeckten und Kühlung schafften, unter keinem Berge ein Nebel, und alle Spitzen so glänzend in der Luft, jede Biegung und jede Wand so hell, deutlich – was soll ich es beschreiben? Die Wengern Alp kennt Ihr ja, nur sahen wir sie damals bei schlechtem Wetter, heut waren alle Berge im Feierkleid, nichts fehlte, von den donnernden Lavinen bis zu dem Sonntag und den geputzten Leuten, die in die Kirche herabstiegen, heut wie damals. Mir waren alle die Berge nur wie große Zacken in der Erinnerung geblieben, die Höhe hatte mich damals zu sehr ergriffen, aber diese unermeßliche Breite, die dicken weiten Massen, der Zusammenhang all dieser ungeheuern Thürme, wie sie sich an einander schließen und einander die Hände reichen – das fiel mir heut besonders aufs Herz. Dazu denkt Euch nun alle Gletscher, alle Schneefelder, alle Felsspitzen blendend hell erleuchtet und glänzend, dann die fernen Gipfel aus andern Ketten die hinüberlangen und hereingucken – ich glaube, so sehen die Gedanken des lieben HerrGott aus. Wer ihn nicht kennt, der kann ihn hier sehr deutlich vor Augen sehen und seine Natur. Und zu alle dem die liebe frische Luft, die einen erquickt, wenn man müde, und abkühlt, wenn man heiß wird, und die vielen Quellen –. Übers Quellenwesen schreibe ich Euch noch einmal eine besondre Abhandlung, aber heut ist nicht Zeit dazu, denn ich habe noch etwas ganz Apartes zu berichten. Nun, sagt Ihr, er wird heruntergegangen sein und die Schweiz wieder einmal schön gefunden haben. Nein, so ist es nicht, sondern als ich auf den Sennhütten ankam, da hieß es, hoch auf den Alpen auf einer Wiese sey heut ein großes Fest, und von Zeit zu Zeit sah man auch in der Ferne Leute hinaufsteigen. Müde war ich gar nicht, ein Alpenfest ist nicht alle Tage zu sehen, das Wetter sagte ja, der Führer hatte große Lust, „gehn wir also nach Itramen“ sagt’ ich. Der alte Senner ging voraus und so mußten wir tüchtig wieder ans Klettern, denn Itramen ist noch über 1000 Fuß höher, als die kleine Scheideck. Der Senner war ein barbarischer Kerl, er lief immer voraus wie eine Katze, bald jammerte ihn mein Führer und er nahm ihm Bündel und Mantel ab, das trug er und lief immer voraus damit, daß wir ihn nicht einholen konnten, der Weg war entsetzlich steil er lobte ihn aber weil er sonst einen näheren, steileren gehe, gegen 60 Jahre war er alt, und wenn mein junger Führer und ich mit Mühe auf einen Hügel hinauf waren, so sahen wir ihn immer schon hinter dem zweiten hinuntergehen. Jetzt gingen wir 2 Stunden, durch den mühsamsten Weg, den ich je gemacht habe, hoch herauf, dann wieder ganz hinunter, über Steingerölle und Bäche und Gräben, durch ein Paar Schneefelder, in der größten Einsamkeit; ohne Fußweg, ohne eine Spur von Menschenhänden, zuweilen hörte man noch die Lavinen von der Jungfrau, sonst war es still, an Bäume nicht mehr zu denken; als nun die Stille und Einsamkeit immer gedauert hatte und wir wieder über einen kleinen Grashügel geklettert waren, so sahn wir auf einmal viele, viele Menschen im Kreise stehen, sprechend, lachend, rufend. Alle waren in der bunten Tracht mit Blumen auf den Hüten, viele Mädchen, ein Paar Schanktische mit Weinfässern und umher die große Stille und die furchtbaren Berge. Sonderbar war es, als ich so kletterte dachte ich an gar nichts als an die Felsen, und Steine und den Schnee und den Weg, aber in dem Augenblick als ich die Menschen da sah, war alles das vergessen, und ich dachte nur an die Menschen und ihre Spiele und ihr lustiges Fest. Da war es denn nun prächtig, auf einer großen grünen Wiese weit über den Wolken war der Schauplatz, gegenüber die himmelhohen Schneeberge namentlich der Dom des großen Eiger, das Schreckhorn, und die Wetterhörner, und alle die andern bis zur Blümlis Alp, in nebliger Tiefe, ganz klein lag das Lauterbrunnenthal und unser gestriger Weg vor uns, mit alle den kleinen Wasserfällen wie Fäden, den Häusern wie Puncten, den Bäumen wie Gras. Ganz hinten kam aus dem Dunst auch der Thuner See zuweilen vor. Da wurde nun geschwungen, gesungen, gezecht, gelacht – lauter gesunde, tüchtige Leute. Ich sah mit großer Freude dem Schwingen zu, das ich noch nie gesehn hatte, dann bewirtheten die Mädchen die Männer mit Kirschwasser und Schnaps; die Flaschen gingen aus Hand in Hand, und ich soff mit; dann beschenkte ich drei kleine Kinder mit Kuchen, der sie glücklich machte, dann sang mir ein alter sehr betrunkner Bauer einige Lieder vor, dann sangen sie alle, dann gab sogar auch mein Führer ein modernes Lied zum Besten, dann prügelten sich zwei kleine Jungen – mir gefiel alles auf der Alp. Bis gegen Abend blieb ich da oben liegen und that als ob ich zu Hause wäre; drauf sprangen wir schnell in den Matten hinunter, sahen bald das wohlbekannte Wirthshaus mit den Fenstern die in der Abendsonne glänzten, es kam ein frischer Gletscherwind, der machte uns kühl; jetzt ist es schon spät, man hört noch von Zeit zu Zeit Lavinen – das war mein heutiger Sonntag: Wohl war es ein Fest. Liebe Fanny! Auf dem Faulhorn, den 15 Aug. Hensel wird es übel nehmen, aber ich muß es bestellen: Das Faulhorn läßt Dich grüßen. Hu! wie mich friert. Es schneit draußen mit Macht, stürmt und wüthet. Wir sind über 8000 Fuß über dem Meer, mußten weit über den Schnee weg, und da sitze ich nun. Sehen kann man gar nichts, das Wetter war fürchterlich heut den ganzen Tag. Wenn ich dran denke wie heiter es gestern war, und wie ich mir wünsche, daß es morgen wieder schön sein möge, so ist es eigentlich mit dem ganzen Leben, es schwebt so zwischen wünschen und zurückwünschen – es ist mein alter Traum von Gegenwart und Vergangenheit, den ich Vater am silbernen Hochzeitabend erzählte; aber ich muß fast täglich dran denken. Der gestrige Tag liegt schon wieder so weit, so erlebt vor mir, als kennte ich ihn nur aus Erinnerung, und sey fast nicht selbst dabey gewesen; denn wie wir heut mit Regensturm und Nebel 5 Stunden lang kämpfen mußten, im Schlamm steckten, nichts als graue Dünste vor uns sahen, da konnte ich mir gar nicht vorstellen, daß es jemals schön Wetter werden oder gewesen sein könne, und daß ich mich je in dies nasse, sumpfige Gras hingelagert habe. Dazu ist alles hier so winterlich, geheizte Stube, dicker Schnee, Mäntel, frierende, frostige Leute ich bin im höchsten Wirthshaus in Europa, und wie in St. Peter auf alle Kirchen und auf dem Simplon auf alle Straßen, so sehe ich von hier auf alle Wirthshäuser hinab. Aber nicht bildlich, denn es ist wenig mehr an dem Ding, als 2 Bretterstuben. Never mind, wir wollen zu Bett gehen, und ich will meinen Hauch nicht länger betrachten. Gute Nacht, Tom friert. Hospital den 18 Aug. Mein Tagebuch hat müssen ein Paar Tage lang liegen bleiben, weil ich Abends zu nichts anderm Zeit hatte als meine Kleider und mich am Feuer zu trocknen und zu wärmen, sehr zu schlafen, übers Wetter zu seufzen wie der Ofen hinter dem ich hockte, und weil ich Euch mit den ewigen Wiederholungen, wie tief ich im Schlamm gesteckt, wie unaufhörlich es geregnet u. dgl. nicht ermüden wollte. Wirklich habe ich in den Tagen die schönsten Gegenden durchreis’t und nichts gesehn, als trüben Nebel und Wasser am Himmel, vom Himmel und auf der Erde. Die Stellen auf die ich mich längst gewünscht, gingen an mir vorüber, ohne daß ich sie genießen konnte; das machte mich nicht schreibelustig, da ich wirklich gegen das Wetter zu kämpfen hatte, und wenn es so fortgeht, so schreibe ich auch nur von Zeit zu Zeit, da eben nichts zu sagen ist, als „grauer Himmel, Nebel und Regen. Ich war auf dem Faulhorn, auf der großen Scheideck, im Grimselspital, bin heute über Grimsel und Furka gekommen, und was ich am meisten gesehn habe, sind die schabigen Ecken meines Regenschirms, die großen Berge fast gar nicht. Einmal kam heut das Finsteraarhorn heraus: aber es sah so böse aus, als wolle es einen fressen. Und doch, wenn eine halbe Stunde ohne Regen war, so war es gar zu schön. Die Fußreise durch dies Land ist wirklich selbst bei so ungünstigem Wetter, das reizendste was man sich nur denken kann, bei heiterm Himmel muß es vor Vergnügen gar nicht auszuhalten sein. Drum darf ich mich auch nicht übers Wetter beklagen, denn es giebt doch Freude vollauf; nur aber an den vorigen Tagen war man wie Tantalus; auf der Scheideck kam aus den Wolken zuweilen der Anfang des Wetterhorns vor, dieser Anfang allein war schon gewaltig und erhaben über Alles, aber mehr als den Fuß habe ich nicht gesehn. Auf dem Faulhorn habe ich nicht 50 Schritt weit die Gegenstände unterscheiden können, obwohl ich bis Morgens um 10 da blieb, wir mußten bei heftigem Schneewetter herunter auf die Scheideck, durch einen sehr nassen beschwerlichen Weg, den der unaufhörliche Regen noch mühsamer machte, im Grimselspital langten wir wieder in Regen und Sturm an, heut früh wollte ich aufs Seidelhorn, mußte es der Nebel wegen unterlassen, die Mayenwand war eingehüllt in graue Wolken, und nur auf der Furka guckte das Finsteraarhorn einmal vor, dafür kamen wir hier wieder in gräßlichem Regen und tiefem Wasser an. Das thut aber Alles nichts, mein Führer ist ein netter Kerl, ist es naß, so singen und jodeln wir, ist es trocken, so ist es desto besser, und obwohl die Hauptsachen verfehlt waren, so gab es doch genug zu sehen. Ich schließe diesmal ganz besondre Freundschaft mit den Gletschern; das sind wirklich die gewaltigsten Ungethüme, die man sehen kann. Wie das Alles durch einander geworfen ist, hier eine Reihe Spitzen, dort eine Menge Büchsen, oben Thürme und Mauern, dazwischen Höhlen und Ritzen nach allen Seiten, und das Alles von diesem wunderbar reinen Eis, das keine Erde duldet, das alle Steine, Sand, Kiesel, die die Berge herunterwerfen gleich wieder auf die Oberfläche treibt; dann die blaue Farbe, wenn die Sonne drauf scheint, und das unheimliche Vorrücken – sie sind zuweilen 1 1 2 Fuß des Tags vorwärts gegangen, so daß den Leuten im Dorfe angst und bange wurde wie der Gletscher so ruhig ankam und so unwiderstehlich, denn er drückt dann Steine und Felsen entzwei, wenn sie ihm in dem Wege liegen – dann ihr böses Krachen und Donnern und das Rauschen von allen Quellen darin und rings umher – es sind prächtige Wunder. Ich war im Rosenlauigletscher der grade eine Art Höhle bildet, durch die man kriechen kann, da ist alles, wie von reinen Smaragden gebaut, nur durchsichtiger; über sich, um sich in allen Stellen sieht man zwischen dem klaren Eis die Bäche umherrinnen; mitten im engen Gange hat das Eis ein großes rundes Fenster gelassen, durch das man nun ins Thal herunter sieht, dann geht man durch einen Schwibbogen von Eis wieder heraus und hoch drüber stehen immer die schwarzen Hörner von denen herab sich die Massen in den kühnsten Schwingungen wälzen. Der Rhonegletscher ist der gewaltigste, den ich kenne, und die Sonne schien gerade heut früh, als wir dran vorbeykamen. Da kann man denn seine Gedanken dabey haben, und dann sieht man doch auch hie und da mal ein Felshorn, ein Paar Schneefelder, Wasserfälle und Brücken darüber, wilde Steinstürze, kurz wenn man in der Schweiz wenig sieht, so ist es doch immer noch mehr als in den andern Ländern. Ich zeichne sehr fleißig, und denke Fortschritte darin gemacht zu haben; sogar die Jungfrau habe ich zu zeichnen versucht, man kann sich doch daran erinnern und sich wenigstens denken, daß man diese Striche gerade dort gemacht hat. Wenn ich aber die Leute sehe, wie sie durch die Schweiz laufen, und daran eben so wenig Besonderes finden, wie an Allem andern, außer an sich; wie sie so gar nicht gerührt, so gar nicht durchgeschüttelt sind, wie sie sogar den Bergen gegenüber kalt und philiströs bleiben – ich möchte sie manchmal prügeln. Hier sitzen zwei Engländer neben mir und eine Engländerinn oben auf dem Ofen, die sind hölzerner, als Stöcke. Ich reise nun ein Paar Tage denselben Weg mit ihnen, und wenn das Volk doch ein andres Wort gesprochen hätte, als geschimpft, daß es weder auf der Grimsel noch hier Camine gebe; daß hier Berge sind haben sie nie erwähnt, sondern ihr ganzes Reisen besteht in Schelten auf den Führer, der sie auslacht, Zanken mit den Wirthen, und Gähnen mit einander. Es ist ihnen Alles um sie herum alltäglich, weil es in ihnen alltäglich aussieht, daher sind sie in der Schweiz nicht glücklicher, als in Bernau. Ich bleibe dabey, das Glück ist relativ; ein andrer würde seinem Gott danken, daß er Alles das sehen kann. Und so will ich denn der Andere sein. Eben zieht sich die Frau einen wollenen Schlafrock an, der Mann gähnt, als wolle er die Furka verschlucken, der Dritte lies’t die französ: Zeitung sehr aufmerksam und frägt nach einer Stunde, was guerre heiße, sie gehn übrigens alle Drei zu Fuß, die Frau sah göttlich aus, als sie heut Abend im Regen ankam und schimpfte und ihren Schlafrock auszog und auf den Ofen kletterte und die Füße herunter bummeln ließ; mein Führer macht einem reisenden Engländer zum Todtlachen nach, wie er sich vor einen Berg hinpflanzt und den Mund aufmacht; er ist übrigens einer der besten in der Schweiz, und besonders ein Damenführer. Er will durchaus meine Familie auch einmal führen, und sagt, sie müßte bald hieher kommen; ich hab es ihm auch versprochen, aber es hat wohl noch Zeit bis dahin. In Arth will ich den Dominic Jutz aufsuchen und ehemaliger Zeiten gedenken; das thu ich wohl stündlich, wenn mein Führer etwa singt „Her Kuhli, ho lobe“ oder „Wilhelm bin ich der Telle“ oder sonst alte bekannte Lieder, oder wenn ich die Tannen über Andermatt von der Furka herab wiedersehe und grüße, oder wenn ich aus Hospital über allen Regen, und alle Berge und Pässe und Städte und Flächen Euch gute Nacht wünschen will. Flüelen d. 19 Aug. Ein rechter Reisetag, schön und voll und kräftig. Als wir heut um 6 fort wollten schneite und regnete es so wüthend, daß wir bis 9 warten mußten, da kam die Sonne vor, die Wolken mußten sich zertheilen und wir hatten heitres schönes Wetter bis hieher; jetzt haben sich aber schon wieder die schwersten Regenwolken über dem See zusammengezogen, so daß morgen gewiß wieder das alte Ungemach los geht. Aber wie himmlisch war es wieder heute! So klar und sonnig, wir hatten die heiterste Reise. Die Gotthardstraße kennt Ihr in ihrer Schönheit; man verliert viel wenn man von oben herunterkommt, statt von hier hinauf, denn die große Ueberraschung des Urnerloches geht ganz verloren, und die neue Straße, die mit der Pracht und Bequemlichkeit der Simplonstraße angelegt ist, hat den Effect der Teufelsbrücke aufgehoben, in dem dicht daneben ein andrer, neuer, viel kühnerer und größerer Bogen hingestellt ist, der die alte Brücke ganz unscheinbar macht, während doch das alte morsche Gemäuer viel romantischer und wilder aussieht; aber wenn man auch den Blick auf Andermatt verliert, und wenn auch die neue Teufelsbrücke wenig poetisch ist, so geht man dafür den ganzen Tag lustig bergab auf der ebensten Straße, fliegt ordentlich bei den Gegenden vorüber, und statt vom Wasserfalle auf der Brücke besprützt und vom Winde gefährdet zu werden, geht man jetzt hoch über dem Strom und zwischen festen Mauergeländern sicher hinüber. Hensel, der die Dampfschiffe nicht mag, würde wohl auch die neue Brücke nicht mögen; aber ich halte es doch mit beiden, und habe ihn mir oft hergewünscht, wenn die Farben der hohen Berge gar zu bunt und manichfach durch einander gingen und ich kaum mehr wußte, was ich sah. Er würde es schon bessergewußt haben und über die Chaussée wären wir schon einig geworden. Denn man kann prächtig drauf traben; wir kamen bei Göschenen und Wasen vorüber, aber keine hübschen Mädchen traten ans Fenster, dann fand ich die Stelle, wo mich Mutter sehr schalt, weil ich auf meinem großen Pferde zu traben anfing, dann erschienen die gewaltigen Fichten und Buchen vor Amstäg, dann das herrliche Thal vor Altorf mit den Hütten, Wiesen, Wäldern, Felsen und Schneebergen, in Altorf ruhten wir uns oben auf dem Kapuzinerkloster aus, wohin mich Vater einmal spazieren führte und mir zu meinem Schrecken erzählte, ein Kapuziner dürfe seine Kutte nie ausziehn, endlich Abends sitze ich hier an dem Ufer des Vierwaldstättersees. Morgen denke ich nun über den See nach Lucern, und Briefe von Euch zu finden. Da komme ich auch gleich von einer Gesellschaft Berliner junger Leute los, die fast die ganze Reise machten, wie ich, sich überall wieder vorfanden, und mich schrecklich gelangweilt haben, namentlich war mir der Patriotismus eines Lieutenants, eines Färbers und eines jungen Zimmermanns, die alle drei Frankreich stürzen wollten, sehr widrig. Aber das Lustigste vergeß ich. Heut früh als wir in bitterer Kälte fortgehn, wankt von fern aus Andermatt eine Caravane uns entgegen. Erst sah ich einige junge Männer in Staubmänteln und rothen Nasen, dann ein Paar zu Pferde, dann eine Dame zu Pferde, hinten nach kam der Oberlandsgerichtsrath Wünsch. Ich schrie auf, sie erkannten mich erst nicht, aus bärtigen Gründen, dann aber sprang Busold im Staubmantel herzu, wir umarmten uns, und lachten und scherzten und sprachen eine Viertelstunde über Alles Bekannte, dann zogen sie dort hinauf, ich da hinunter. Die Ob. l. sg. räthinn zu Pferde sah ganz nett aus, und die ganze Caravane war sehr lustig und guter Dinge, sie wollen auf die Furka ins Berner Oberland, dann nach Italien, jetzt sind wir schon ein ganz großes Stück auseinander; aber der kurze Augenblick war schön. Sarnen d. 20 Heut früh fuhr ich während fortdauerndem Regen über den Vierwaldstättersee und fand in Luzern Euern lieben Brief vom 5ten. Da er nur erwünschte Nachrichten von Euerm Wohlsein enthielt, habe ich mich gleich aufgemacht, um eine 3tägige Tour nach Unterwalden und dem Brünig zu machen; dann will ich in Luzern Euren nächsten Brief abholen und dann gehts westlich und aus der Schweiz. Es wird mir aber schwer werden, Abschied zu nehmen, das Land ist über alle Begriffe schön, und obwohl das Wetter wieder entsetzlich ist, Regen und Sturm den ganzen Tag und die Nacht durch, so waren doch die Tellsplatte, das Grütli, Brunnen und Schwyz, und heut Abend die blendend grünen Wiesen in Unterwalden unvergeßlich schön. Dies Grün ist etwas Einziges, es erquickt die Augen und den ganzen Menschen. Deinen liebevollen Vorsichtsregeln, liebe Mutter, werde ich gewiß folgen, aber sey nicht besorgt für mich. Ich bin gewiß nicht leichtsinnig mit meiner Gesundheit und habe mich seit langer Zeit nicht so wohl gefühlt als hier in der Schweiz auf der Fußreise. Ich wünschte, Du hättest mich eben eine Schüssel Milchreis vertilgen sehn; ich wünsche es aus mehreren Gründen. Aber wirklich, wenn Essen und Trinken und Schlafen und Musik im Kopf haben einen gesunden Menschen macht, so kann ich mich Gott sey Dank so nennen, denn mein Führer und ich wir essen, trinken und singen leider auch um die Wette. Nur im Schlafen thue ichs ihm noch zuvor, und wenn ich ihn im Singen zuweilen störe durch Trompeten- oder Hoboentöne, so stört er mich dafür des Morgens im Schlafe. Doch bringe ichs gewöhnlich auf 8 – 9 Stunden. Befürchte Du nichts für mich, auch ich will Eurentwegen unbesorgt und mit fester Zuversicht der Zukunft entgegensehen. So Gott es will werden wir uns froh und glücklich wieder zusammenfinden, ich bitte ihn, daß er es bald wollen möge. Bis dahin muß nun wohl noch manch Stück Tagebuch zu Euch hinauf wandern, aber auch die Zeit vergeht wohl schnell, wie denn Alles schnell vergeht, ausgenommen das Beste. Und so bleiben wir einander treu und nah. F.
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August, bis Sarnen, 20. August 1831</title> <incipit>Ich komme eben von einem Spaziergange gegen den Schmadribach und das Breithorn zu her; alles was man sich von der Größe und dem Schwung der Berge denkt, ist niedrig gegen die Natur. Daß Goethe aus</incipit> </msItem> </msContents> <physDesc> <p>8 beschr. 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Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept, Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.</p></editorialDecl></encodingDesc> <profileDesc> <creation> <date cert="high" when="1831-08-13" xml:id="date_1c391216-2cc6-4fc1-9919-1c88432274f9">13.</date>, <date cert="high" when="1831-08-14" xml:id="date_266f3098-34f9-4e78-a9f0-958e6765b622">14.</date>, <date cert="high" when="1831-08-15" xml:id="date_1dc5efa7-bc4a-48b9-9a67-ceed13fa7bee">15.</date>, <date cert="high" when="1831-08-18" xml:id="date_12d60117-765f-459e-a5ab-4d96bdbaddad">18.</date>, <date cert="high" when="1831-08-19" xml:id="date_0ad06c7b-8378-4204-a250-b8c6fc165f95">19.</date> und <date cert="high" when="1831-08-20" xml:id="date_5b5976ac-4a3b-4e9f-bc92-2e4dcee12644">20. August 1831</date></creation> <correspDesc> <correspAction type="sent"> <persName key="PSN0000001" resp="author" xml:id="persName_e625289f-84dd-48fe-8684-cc7adf01176d">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName><note>counter-reset</note><persName key="PSN0000001" resp="writer">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName> <placeName type="writing_place" xml:id="placeName_762fdc39-953a-4d09-95b2-3141bfac6286"> <settlement key="STM0100181">Lauterbrunnen</settlement> <country>Schweiz</country></placeName> </correspAction> <correspAction type="received"> <persName key="PSN0117586" resp="receiver" xml:id="persName_9b5d33e8-0c9a-4a6c-b9bc-2435883f0df4">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Rebecka Henriette (1811-1858)</persName> <persName key="PSN0111893" resp="receiver" xml:id="persName_a8a1055c-96db-484b-8515-3f6454df58c9">Hensel, Fanny Cäcilia (1805-1847)</persName> <placeName type="receiving_place" xml:id="placeName_38d8d09f-2fbd-4600-b154-c2b5c1786bc8"> <settlement key="STM0100101">Berlin</settlement> <country>Deutschland</country></placeName> </correspAction> </correspDesc> <langUsage> <language ident="de">deutsch</language> </langUsage> </profileDesc> <revisionDesc status="draft"> </revisionDesc> </teiHeader> <text type="letter"> <body> <div type="address" xml:id="div_057fb095-d994-4d59-be96-38d3ab63995d"> <head> <address> <addrLine>À Mde.</addrLine> <addrLine>Mde. Fanny <hi n="1" rend="underline">Hensel</hi>.</addrLine> <addrLine>Berlin</addrLine> <addrLine>Leipziger Straße no. 3.</addrLine> </address> </head> </div> <div n="1" type="act_of_writing" xml:id="div_dbea50df-4ea7-4c45-bf7e-d67927d5660a"> <docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <head rend="left">(Fortsetzung)</head> <dateline rend="right"> Lauterbrunnen <date cert="high" when="1831-08-13" xml:id="date_e00661f4-947b-49c8-b0c1-17e8d5c6dfff">13 Aug. 1831</date>.</dateline> <p style="paragraph_without_indent">Ich komme eben von einem Spaziergange gegen den Schmadribach und das Breithorn zu her; alles was man sich von der Größe und dem Schwung der Berge denkt, ist niedrig gegen die Natur. Daß <persName xml:id="persName_8623e043-c3ed-4236-b40f-5b3494df698d">Goethe<name key="PSN0111422" style="hidden">Goethe, Johann Wolfgang (seit 1782) von (1749-1832)</name></persName> aus der Schweiz nichts anders zu schreiben gewußt hat, als ein Paar schwache Gedichte und <title xml:id="title_2fb26059-d46d-4c73-a429-33c20b589c14">die noch schwächeren Briefe<name key="PSN0111422" style="hidden" type="author">Goethe, Johann Wolfgang (seit 1782) von (1749-1832)</name><name key="CRT0108803" style="hidden" type="literature">Briefe aus der Schweiz</name></title> ist mir eben so unbegreiflich, wie vieles andre in der Welt. Der Weg hieher war wieder einmal toll; wo vor 6 Tagen die schönste Fahrstraße war, ist jetzt ein wüstes Felsengewirr, ungeheure Blöcke in Menge, kleines Geröll, Sand, keine Spur menschlicher Arbeit mehr zu sehen. Die Wasser sind zwar ganz gefallen, aber sie können sich noch immer nicht beruhigen, man hört von Zeit zu Zeit wie die Steine durch einander geworfen werden, auch die Wasserfälle rollen mitten im weißen Staub schwarze Steine herunter ins Thal. <persName xml:id="persName_9913e121-4e68-44d3-a79c-2839b4cffcd1">Mein Führer<name key="PSN0113330" style="hidden">Michel, Christian (1808-1871)</name></persName> zeigte mir ein zierliches, neues Haus, das mitten im wilden Bach stand, es gehöre seinem Schwager, sagte er, und umher sei eine schöne Wiese gewesen, die sehr viel eingebracht habe; der Mann habe das Haus in der Nacht verlassen müssen, die Wiese sey für ewige Zeiten verschwunden und Kiesel und Steine an ihrer Stelle: „er ist nie reich gewesen, aber nun ist er arm geworden“ beschloß er die ernsthafte Geschichte. Sonderbar ists, daß mitten in dieser entsetzlichen Verwüstung (denn die Lütschine hat die Breite des ganzen Thals eingenommen) mitten unter den sumpfigen Wiesen, und den Steinblöcken, wo keine Idee einer Straße mehr ist, daß da ein char à banc steht, und wahrscheinlich fürs erste auch stehen bleibt; die Leute wollten gerade während des Sturms durchfahren, da kam dies Wetter, sie mußten Wagen und Alles im Stich lassen, und der steht nun da und wartet. Es war mir ordentlich graulich, wie wir an die Stelle kamen, wo das ganze Thal, mit Straße und Dämmen ein weites Steinmeer ist, und wie <persName xml:id="persName_68bc79f0-15e1-450d-8c7f-7cf6076df684">mein Führer<name key="PSN0113330" style="hidden">Michel, Christian (1808-1871)</name></persName>, der vorausgieng, immer leise für sich sagte: s isch furchtbar. Mitten im Bach hat das Wasser ein Paar große Baumstämme angeschleppt, in die Höhe gerichtet, und augenblicklich ein Paar Felsen so dagegen geworfen und sie so eingekeilt, daß die kahlen Bäume mitten im Flußbett halb aufrecht stehen. Ich würd nicht aufhören können, wenn ich Euch alle Formen der Verheerung erzählen wollte, die man von Unterseen bis hier sieht. Aber die Schönheit des Thals hat dabey einen größern Eindruck auf mich gemacht, als ich sagen kann; es ist unendlich schade, daß Ihr damals nicht tiefer hinein, als bis zum Staubbach gegangen seid; von da fängt eigentlich das Lauterbrunner Thal erst an, der schwarze Mönch mit allen Schneebergen dahinter wird immer gewaltiger, mächtiger; von allen Seiten kommen helle Staubwasserfälle ins Thal, den Schneebergen und Gletschern im Hintergrunde nähert man sich immer mehr durch die Tannenwälder und die Eichen und Ahornbäume, die feuchten Wiesen waren mit einer Unzahl bunter Blumen bedeckt, Einblatt, wilde Scabiosen, Glockenblumen, und so viel andre, auf der Seite warf die Lütschine ihre Blöcke über einander und hatte Felsen gebracht, wie <persName xml:id="persName_0a62f6d0-9141-4629-86fd-95865d87c5a2">mein Führer<name key="PSN0113330" style="hidden">Michel, Christian (1808-1871)</name></persName> sagte „größer wie ein Ofen“, dann die geschnitzten, braunen Häuser, die Hecken – es ist über Alles schön. Leider konnten wir trotz aller Bemühung nicht zum Schmadribach gelangen, da alle Brücken, Wege und Stege fort sind; doch werde ich den Spaziergang nie vergessen; ich <title xml:id="title_b93ff1df-bf2e-42cf-853c-215759392e0e">habe auch versucht den Mönch<list style="hidden" type="fmb_works_directory" xml:id="title_nbkxtqcs-khxl-jmru-zxh2-sdx7hvczxrdt"> <item n="1" sortKey="art" style="hidden"></item> <item n="2" sortKey="drawing_albums_and_collection_sources_with_drawings" style="hidden"></item> <item n="3" sortKey="drawing_albums" style="hidden"></item></list><name key="PSN0000001" style="hidden" type="author">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</name><name key="PRC0100828" style="hidden">Der schwarze Mönch, 13. August 1831; fol. 6r<idno type="MWV">ZB 7/6</idno><idno type="op"></idno></name></title> zu zeichnen aber wo will man mit dem kleinen Bleistift hin? <title xml:id="title_d2afc299-187a-4271-b2db-e70f9d69972e">Hegel<name key="PSN0111804" style="hidden" type="author">Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770-1831)</name><name key="CRT0109110" style="hidden" type="science">Vorlesungen über die Ästhetik</name></title> sagt zwar, jeder menschliche Gedanke sey erhabner als die ganze Natur, aber hier finde ich das unbescheiden. Der Satz ist sehr schön, nur verflucht paradox; ich werde mich einstweilen an die ganze Natur halten, man fährt viel sicherer dabey.</p> <p>Die Lage des Wirthshauses kennt ihr, und wenn Ihr Euch nicht mehr darauf besinnen könnt, so nehmt <title xml:id="title_608413a8-c684-4a8a-b6a3-bd18d82345be">mein ehemaliges Schweizerzeichenbuch<list style="hidden" type="fmb_works_directory" xml:id="title_ksrjnvly-affw-cflp-ortc-e0dydgvbtagb"> <item n="1" sortKey="art" style="hidden"></item> <item n="2" sortKey="drawing_albums_and_collection_sources_with_drawings" style="hidden"></item> <item n="3" sortKey="drawing_albums" style="hidden"></item></list><name key="PSN0000001" style="hidden" type="author">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</name><name key="PRC0100792" style="hidden">Zeichenalbum Deutschland, Schweiz 1822, Schlesien 1823, Norddeutschland 1824: GB-Ob, M.D.M. c. 5<idno type="MWV">ZB 2</idno><idno type="op"></idno></name></title>, <title xml:id="title_4bb27afd-aa93-45a5-9844-4802d8446a5e">darin habe ich es verzeichnet<list style="hidden" type="fmb_works_directory" xml:id="title_1eac6hte-sxlv-lb6m-2yed-jdsvsc8udbaw"> <item n="1" sortKey="art" style="hidden"></item> <item n="2" sortKey="drawing_albums_and_collection_sources_with_drawings" style="hidden"></item> <item n="3" sortKey="drawing_albums" style="hidden"></item></list><name key="PSN0000001" style="hidden" type="author">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</name><name key="PRC0100798" style="hidden">Blick aus dem Gasthof in Lauterbrunnen, 25. Juli 1822; fol. 15r<idno type="MWV">ZB 2/18</idno><idno type="op"></idno></name></title> (in allen Sinnen) und einen Fußweg vorne hinein erfunden, über den ich heute noch in Gedanken sehr viel gelacht habe. Aus demselben Fenster sehe ich jetzt eben und gucke mir die finstern Berge an, denn es ist Abend und spät, nämlich <formula rend="fraction_slash"> <hi rend="supslash">3</hi> <hi rend="barslash"></hi> <hi rend="subslash">4</hi> </formula> auf 8, und ich habe eine Idee, die ist mir mehr werth, als die ganze Natur: ich will zu Bett gehen. Um <formula rend="fraction_slash"> <hi rend="supslash">3</hi> <hi rend="barslash"></hi> <hi rend="subslash">4</hi> </formula> auf 8, sagt <persName xml:id="persName_42f34cd4-8acf-42f4-b6b1-62749c6f04af">Fanny<name key="PSN0111893" style="hidden">Hensel, Fanny Cäcilia (1805-1847)</name></persName>; Du Kleinstädter.“ Darum bin ich in Lauterbrunnen, sage ich. „Es wird nichts Geschlafenes“ sagt <persName xml:id="persName_ece9b9b9-3f93-4950-8e6f-0aeaf530d0ba">Beckchen<name key="PSN0117586" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Rebecka Henriette (1811-1858)</name></persName>. Dann schlaf ich aber erst recht ein. Also sag’ ich gute Nacht, Ihr Lieben!</p> </div> <div n="2" type="act_of_writing" xml:id="div_6012c7dc-c029-4907-9cd6-f420ef2eb61f"> <docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <p><seg type="inline">d. <date cert="high" when="1831-08-14" xml:id="date_5a77f156-b2da-4c3f-8677-2e77078da267">14</date></seg><date cert="high" when="1831-08-14" xml:id="date_ba4d10d4-7c0b-4e7f-86b9-2ea30e0e8eeb"><hi rend="superscript">ten</hi></date><seg type="inline"><date cert="high" when="1831-08-14" xml:id="date_60296fc8-9ce7-42ed-a22b-ff6b58d776aa"> Morgens 10 Uhr</date> in der Sennhütte auf der Wengernalp im himmlischen Wetter</seg>, </p> <p style="paragraph_without_indent">nur meinen Gruß.</p> </div> <div n="3" type="act_of_writing" xml:id="div_ca2b4490-8012-48b8-a6b2-a1315048d46d"> <docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <p><seg type="inline"><date cert="high" when="1831-08-14" xml:id="date_5c798209-4e6d-4b6a-9b2f-e099948c89bc">Grindelwald Abends</date>.</seg> Mehr konnte ich Euch heut früh nicht schreiben; es fiel mir schwer von der Jungfrau wegzusehen. Welch ein Tag war aber heute für mich! Vielleicht wohl der schönste auf der ganzen Reise; ein Tag, der einen für das übrige Leben reicher macht, und nie verläßt. Zu meinen frohsten Erinnerungen wird er immer gehören, denn das Eintreffen eines Wunsches, den man lange mit sich trägt, gehört wohl dazu und seit wir zusammen hier waren habe ich mir immer gewünscht mal wieder die kleine Scheideck zu sehen; so wachte ich heut früh fast furchtsam auf, es konnte so vieles dazwischen kommen: schlechtes Wetter, Wolken, Regen, Nebel. Aber nichts von alle dem kam. Es war ein Tag, als sey er nur dazu gemacht, daß ich über die Wengernalp gehen sollte; der Himmel mit weißen Wolken bezogen, die hoch über den höchsten Schneespitzen schwebten, die Sonne verdeckten und Kühlung schafften, unter keinem Berge ein Nebel, und alle Spitzen so glänzend in der Luft, jede Biegung und jede Wand so hell, deutlich – was soll ich es beschreiben? Die Wengern Alp kennt Ihr ja, nur sahen wir sie damals bei schlechtem Wetter, heut waren alle Berge im Feierkleid, nichts fehlte, von den donnernden Lavinen bis zu dem Sonntag und den geputzten Leuten, die in die Kirche herabstiegen, heut wie damals. Mir waren alle die Berge nur wie große Zacken in der Erinnerung geblieben, die Höhe hatte mich damals zu sehr ergriffen, aber diese unermeßliche Breite, die dicken weiten Massen, der Zusammenhang all dieser ungeheuern Thürme, wie sie sich an einander schließen und einander die Hände reichen – das fiel mir heut besonders aufs Herz. Dazu denkt Euch nun alle Gletscher, alle Schneefelder, alle Felsspitzen blendend hell erleuchtet und glänzend, dann die fernen Gipfel aus andern Ketten die hinüberlangen und hereingucken – ich glaube, so sehen die Gedanken des lieben HerrGott aus. Wer ihn nicht kennt, der kann ihn hier sehr deutlich vor Augen sehen und seine Natur. Und zu alle dem die liebe frische Luft, die einen erquickt, wenn man müde, und abkühlt, wenn man heiß wird, und die vielen Quellen –. Übers Quellenwesen schreibe ich Euch noch einmal eine besondre Abhandlung, aber heut ist nicht Zeit dazu, denn ich habe noch etwas ganz Apartes zu berichten. Nun, sagt Ihr, er wird heruntergegangen sein und die Schweiz wieder einmal schön gefunden haben. Nein, so ist es nicht, sondern als ich auf den Sennhütten ankam, da hieß es, hoch auf den Alpen auf einer Wiese sey heut ein großes Fest, und von Zeit zu Zeit sah man auch in der Ferne Leute hinaufsteigen. Müde war ich gar nicht, ein Alpenfest ist nicht alle Tage zu sehen, das Wetter sagte ja, der Führer hatte große Lust, „gehn wir also nach Itramen“ sagt’ ich. Der alte Senner ging voraus und so mußten wir tüchtig wieder ans Klettern, denn Itramen ist noch über 1000 Fuß höher, als die kleine Scheideck. Der Senner war ein barbarischer Kerl, er lief immer voraus wie eine Katze, bald jammerte ihn <persName xml:id="persName_ceab85b7-847d-4cea-9b02-d0a23f0d2590">mein Führer<name key="PSN0113330" style="hidden">Michel, Christian (1808-1871)</name></persName> und er nahm ihm Bündel und Mantel ab, das trug er und lief immer voraus damit, daß wir ihn nicht einholen konnten, der Weg war entsetzlich steil er lobte ihn aber weil er sonst einen näheren, steileren gehe, gegen 60 Jahre war er alt, und wenn <persName xml:id="persName_25b56262-eeef-4aff-a389-c1eb612272a4">mein junger Führer<name key="PSN0113330" style="hidden">Michel, Christian (1808-1871)</name></persName> und ich mit Mühe auf einen Hügel hinauf waren, so sahen wir ihn immer schon hinter dem zweiten hinuntergehen. Jetzt gingen wir 2 Stunden, durch den mühsamsten Weg, den ich je gemacht habe, hoch herauf, dann wieder ganz hinunter, über Steingerölle und Bäche und Gräben, durch ein Paar Schneefelder, in der größten Einsamkeit; ohne Fußweg, ohne eine Spur von Menschenhänden, zuweilen hörte man noch die Lavinen von der Jungfrau, sonst war es still, an Bäume nicht mehr zu denken; als nun die Stille und Einsamkeit immer gedauert hatte und wir wieder über einen kleinen Grashügel geklettert waren, so sahn wir auf einmal viele, viele Menschen im Kreise stehen, sprechend, lachend, rufend. Alle waren in der bunten Tracht mit Blumen auf den Hüten, viele Mädchen, ein Paar Schanktische mit Weinfässern und umher die große Stille und die furchtbaren Berge. Sonderbar war es, als ich so kletterte dachte ich an gar nichts als an die Felsen, und Steine und den Schnee und den Weg, aber in dem Augenblick als ich die Menschen da sah, war alles das vergessen, und ich dachte nur an die Menschen und ihre Spiele und ihr lustiges Fest. Da war es denn nun prächtig, auf einer großen grünen Wiese weit über den Wolken war der Schauplatz, gegenüber die himmelhohen Schneeberge namentlich der Dom des großen Eiger, das Schreckhorn, und die Wetterhörner, und alle die andern bis zur Blümlis Alp, in nebliger Tiefe, ganz klein lag das Lauterbrunnenthal und unser gestriger Weg vor uns, mit alle den kleinen Wasserfällen wie Fäden, den Häusern wie Puncten, den Bäumen wie Gras. Ganz hinten kam aus dem Dunst auch der Thuner See zuweilen vor. Da wurde nun geschwungen, gesungen, gezecht, gelacht – lauter gesunde, tüchtige Leute. Ich sah mit großer Freude dem Schwingen zu, das ich noch nie gesehn hatte, dann bewirtheten die Mädchen die Männer mit Kirschwasser und Schnaps; die Flaschen gingen aus Hand in Hand, und ich soff mit; dann beschenkte ich drei kleine Kinder mit Kuchen, der sie glücklich machte, dann sang mir ein alter sehr betrunkner Bauer einige Lieder vor, dann sangen sie alle, dann gab sogar auch <persName xml:id="persName_3c3a1b29-21a1-4abc-aea4-b66912c29098">mein Führer<name key="PSN0113330" style="hidden">Michel, Christian (1808-1871)</name></persName> ein modernes Lied zum Besten, dann prügelten sich zwei kleine Jungen – mir gefiel alles auf der Alp. Bis gegen Abend blieb ich da oben liegen und that als ob ich zu Hause wäre; drauf sprangen wir schnell in den Matten hinunter, sahen bald das wohlbekannte Wirthshaus mit den Fenstern die in der Abendsonne glänzten, es kam ein frischer Gletscherwind, der machte uns kühl; jetzt ist es schon spät, man hört noch von Zeit zu Zeit Lavinen – das war mein heutiger Sonntag: Wohl war es ein Fest.</p> <p>Liebe <persName xml:id="persName_7c84ab3a-a2e7-4019-bfab-507b52d2499a">Fanny<name key="PSN0111893" style="hidden">Hensel, Fanny Cäcilia (1805-1847)</name></persName>!</p> </div> <div n="4" type="act_of_writing" xml:id="div_9fce532e-2990-45e2-9b1b-0fd0021b7b70"> <docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <p style="paragraph_without_indent"><seg type="inline">Auf dem Faulhorn, den <date cert="high" when="1831-08-15" xml:id="date_ac05adca-36cf-4d1c-a218-49a8f7efbcc8">15 Aug.</date></seg> <persName xml:id="persName_6e2b6446-48dd-46b5-b345-225c40275343">Hensel<name key="PSN0111899" style="hidden">Hensel, Wilhelm (1794-1861)</name></persName> wird es übel nehmen, aber ich muß es bestellen: Das Faulhorn läßt Dich grüßen. Hu! wie mich friert. Es schneit draußen mit Macht, stürmt und wüthet. Wir sind über 8000 Fuß über dem Meer, mußten weit über den Schnee weg, und da sitze ich nun. Sehen kann man gar nichts, das Wetter war fürchterlich heut den ganzen Tag. Wenn ich dran denke wie heiter es gestern war, und wie ich mir wünsche, daß es morgen wieder schön sein möge, so ist es eigentlich mit dem ganzen Leben, es schwebt so zwischen wünschen und zurückwünschen – es ist mein alter Traum von Gegenwart und Vergangenheit, den ich <persName xml:id="persName_44abc6ad-9271-454d-a1ea-c0ad98a4366a">Vater<name key="PSN0113247" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Abraham Ernst (bis 1822: Abraham Moses) (1776-1835)</name></persName> am silbernen Hochzeitabend erzählte; aber ich muß fast täglich dran denken. Der gestrige Tag liegt schon wieder so weit, so erlebt vor mir, als kennte ich ihn nur aus Erinnerung, und sey fast nicht selbst dabey gewesen; denn wie wir heut mit Regensturm und Nebel 5 Stunden lang kämpfen mußten, im Schlamm steckten, nichts als graue Dünste vor uns sahen, da konnte ich mir gar nicht vorstellen, daß es jemals schön Wetter werden oder gewesen sein könne, und daß ich mich je in dies nasse, sumpfige Gras hingelagert habe. Dazu ist alles hier so winterlich, geheizte Stube, dicker Schnee, Mäntel, frierende, frostige Leute ich bin im höchsten Wirthshaus in Europa, und wie in <placeName xml:id="placeName_44654f14-c7f3-457e-ab76-a231f93d9647">St. Peter<name key="SGH0100229" style="hidden" subtype="" type="sight">San Pietro in Vaticano (Petersdom)</name><settlement key="STM0100177" style="hidden" type="">Rom</settlement><country style="hidden">Italien</country></placeName> auf alle Kirchen und auf dem Simplon auf alle Straßen, so sehe ich von hier auf alle Wirthshäuser hinab. Aber nicht bildlich, denn es ist wenig mehr an dem Ding, als 2 Bretterstuben. Never mind, wir wollen zu Bett gehen, und ich will meinen Hauch nicht länger betrachten. <title xml:id="title_b347b5d6-f69b-4d5d-8e6f-673b8b6a1c0d">Gute Nacht, Tom friert<name key="PSN0114889" style="hidden" type="author">Shakespeare, William (1564-1616)</name><name key="CRT0110865" style="hidden" type="dramatic_work">König Lear (The Tragedy of King Lear)</name></title>. </p> </div> <div n="5" type="act_of_writing" xml:id="div_a1594e3e-c0e0-4aff-aeba-7157ea71ab45"> <docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <p><seg type="inline">Hospital den <date cert="high" when="1831-08-18" xml:id="date_41cb4c03-f6ab-4c3a-be1a-bd4fdf5f0845">18 Aug.</date></seg> Mein Tagebuch hat müssen ein Paar Tage lang liegen bleiben, weil ich Abends zu nichts anderm Zeit hatte als meine Kleider und mich am Feuer zu trocknen und zu wärmen, sehr zu schlafen, übers Wetter zu seufzen wie der Ofen hinter dem ich hockte, und weil ich Euch mit den ewigen Wiederholungen, wie tief ich im Schlamm gesteckt, wie unaufhörlich es geregnet u. dgl. nicht ermüden wollte. Wirklich habe ich in den Tagen die schönsten Gegenden durchreis’t und nichts gesehn, als trüben Nebel und Wasser am Himmel, vom Himmel und auf der Erde. Die Stellen auf die ich mich längst gewünscht, gingen an mir vorüber, ohne daß ich sie genießen konnte; das machte mich nicht schreibelustig, da ich wirklich gegen das Wetter zu kämpfen hatte, und wenn es so fortgeht, so schreibe ich auch nur von Zeit zu Zeit, da eben nichts zu sagen ist, als „grauer Himmel, Nebel und Regen. Ich war auf dem Faulhorn, auf der großen Scheideck, im Grimselspital, bin heute über Grimsel und Furka gekommen, und was ich am meisten gesehn habe, sind die schabigen Ecken meines Regenschirms, die großen Berge fast gar nicht. Einmal kam heut das Finsteraarhorn heraus: <note resp="FMBC" style="hidden" type="text_constitution" xml:id="note_9e52732e-3bd4-79eeb-ea705-84a4abe45d85" xml:lang="de">Noten, Grafiken, Sonderzeichen siehe FMB-Druckausgabe.</note>aber es sah so böse aus, als wolle es einen fressen. Und doch, wenn eine halbe Stunde ohne Regen war, so war es gar zu schön. Die Fußreise durch dies Land ist wirklich selbst bei so ungünstigem Wetter, das reizendste was man sich nur denken kann, bei heiterm Himmel muß es vor Vergnügen gar nicht auszuhalten sein. Drum darf ich mich auch nicht übers Wetter beklagen, denn es giebt doch Freude vollauf; nur aber an den vorigen Tagen war man wie Tantalus; auf der Scheideck kam aus den Wolken zuweilen der Anfang des Wetterhorns vor, dieser Anfang allein war schon gewaltig und erhaben über Alles, aber mehr als den Fuß habe ich nicht gesehn. Auf dem Faulhorn habe ich nicht 50 Schritt weit die Gegenstände unterscheiden können, obwohl ich bis Morgens um 10 da blieb, wir mußten bei heftigem Schneewetter herunter auf die Scheideck, durch einen sehr nassen beschwerlichen Weg, den der unaufhörliche Regen noch mühsamer machte, im Grimselspital langten wir wieder in Regen und Sturm an, heut früh wollte ich aufs Seidelhorn, mußte es der Nebel wegen unterlassen, die Mayenwand war eingehüllt in graue Wolken, und nur auf der Furka guckte das Finsteraarhorn einmal vor, dafür kamen wir hier wieder in gräßlichem Regen und tiefem Wasser an. Das thut aber Alles nichts, <persName xml:id="persName_231e14d1-9096-4ed2-b492-14ad85cbd5e3">mein Führer<name key="PSN0113330" style="hidden">Michel, Christian (1808-1871)</name></persName> ist ein netter Kerl, ist es naß, so singen und jodeln wir, ist es trocken, so ist es desto besser, und obwohl die Hauptsachen verfehlt waren, so gab es doch genug zu sehen. Ich schließe diesmal ganz besondre Freundschaft mit den Gletschern; das sind wirklich die gewaltigsten Ungethüme, die man sehen kann. Wie das Alles durch einander geworfen ist, hier eine Reihe Spitzen, dort eine Menge Büchsen, oben Thürme und Mauern, dazwischen Höhlen und Ritzen nach allen Seiten, und das Alles von diesem wunderbar reinen Eis, das keine Erde duldet, das alle Steine, Sand, Kiesel, die die Berge herunterwerfen gleich wieder auf die Oberfläche treibt; dann die blaue Farbe, wenn die Sonne drauf scheint, und das unheimliche Vorrücken – sie sind zuweilen 1<formula rend="fraction_slash"> <hi rend="supslash">1</hi> <hi rend="barslash"></hi> <hi rend="subslash">2</hi> </formula> Fuß des Tags vorwärts gegangen, so daß den Leuten im Dorfe angst und bange wurde wie der Gletscher so ruhig ankam und so unwiderstehlich, denn er drückt dann Steine und Felsen entzwei, wenn sie ihm in dem Wege liegen – dann ihr böses Krachen und Donnern und das Rauschen von allen Quellen darin und rings umher – es sind prächtige Wunder. Ich war im Rosenlauigletscher der grade eine Art Höhle bildet, durch die man kriechen kann, da ist alles, wie von reinen Smaragden gebaut, nur durchsichtiger; über sich, um sich in allen Stellen sieht man zwischen dem klaren Eis die Bäche umherrinnen; mitten im engen Gange hat das Eis ein großes rundes Fenster gelassen, durch das man nun ins Thal herunter sieht, dann geht man durch einen Schwibbogen von Eis wieder heraus und hoch drüber stehen immer die schwarzen Hörner von denen herab sich die Massen in den kühnsten Schwingungen wälzen. Der Rhonegletscher ist der gewaltigste, den ich kenne, und die Sonne schien gerade heut früh, als wir dran vorbeykamen. Da kann man denn seine Gedanken dabey haben, und dann sieht man doch auch hie und da mal ein Felshorn, ein Paar Schneefelder, Wasserfälle und Brücken darüber, wilde Steinstürze, kurz wenn man in der Schweiz wenig sieht, so ist es doch immer noch mehr als in den andern Ländern. Ich zeichne sehr fleißig, und denke Fortschritte darin gemacht zu haben; sogar <title xml:id="title_f93eed9b-d289-4147-b095-ad85684de345">die Jungfrau habe ich zu zeichnen versucht<list style="hidden" type="fmb_works_directory" xml:id="title_piwwzxiu-x9pe-umwd-pmml-ro1ezqtzczsf"> <item n="1" sortKey="art" style="hidden"></item> <item n="2" sortKey="drawing_albums_and_collection_sources_with_drawings" style="hidden"></item> <item n="3" sortKey="drawing_albums" style="hidden"></item></list><name key="PSN0000001" style="hidden" type="author">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</name><name key="PRC0100869" style="hidden">Jungfrau von Wengern Alp, 14. August 1831; fol. 33r<idno type="MWV">ZB 10/33</idno><idno type="op"></idno></name></title>, man kann sich doch daran erinnern und sich wenigstens denken, daß man diese Striche gerade dort gemacht hat. Wenn ich aber die Leute sehe, wie sie durch die Schweiz laufen, und daran eben so wenig Besonderes finden, wie an Allem andern, außer an sich; wie sie so gar nicht gerührt, so gar nicht durchgeschüttelt sind, wie sie sogar den Bergen gegenüber kalt und philiströs bleiben – ich möchte sie manchmal prügeln. Hier sitzen zwei Engländer neben mir und eine Engländerinn oben auf dem Ofen, die sind hölzerner, als Stöcke. Ich reise nun ein Paar Tage denselben Weg mit ihnen, und wenn das Volk doch ein andres Wort gesprochen hätte, als geschimpft, daß es weder auf der Grimsel noch hier Camine gebe; daß hier Berge sind haben sie nie erwähnt, sondern ihr ganzes Reisen besteht in Schelten auf den Führer, der sie auslacht, Zanken mit den Wirthen, und Gähnen mit einander. Es ist ihnen Alles um sie herum alltäglich, weil es in ihnen alltäglich aussieht, daher sind sie in der Schweiz nicht glücklicher, als in Bernau. Ich bleibe dabey, das Glück ist relativ; ein andrer würde seinem Gott danken, daß er Alles das sehen kann. Und so will ich denn der Andere sein. Eben zieht sich die Frau einen wollenen Schlafrock an, der Mann gähnt, als wolle er die Furka verschlucken, der Dritte lies’t die französ: Zeitung sehr aufmerksam und frägt nach einer Stunde, was guerre heiße, sie gehn übrigens alle Drei zu Fuß, die Frau sah göttlich aus, als sie heut Abend im Regen ankam und schimpfte und ihren Schlafrock auszog und auf den Ofen kletterte und die Füße herunter bummeln ließ; <persName xml:id="persName_84ba41d0-1a2a-48c8-9faf-f925d84cc938">mein Führer<name key="PSN0113330" style="hidden">Michel, Christian (1808-1871)</name></persName> macht einem reisenden Engländer zum Todtlachen nach, wie er sich vor einen Berg hinpflanzt und den Mund aufmacht; er ist übrigens einer der besten in der Schweiz, und besonders ein Damenführer. Er will durchaus meine Familie auch einmal führen, und sagt, sie müßte bald hieher kommen; ich hab es ihm auch versprochen, aber es hat wohl noch Zeit bis dahin. In Arth will ich den <persName xml:id="persName_a84da183-fefd-42f4-a0f9-cbc576918dda">Dominic Jutz<name key="PSN0112289" style="hidden">Jutz, Dominic</name></persName> aufsuchen und ehemaliger Zeiten gedenken; das thu ich wohl stündlich, wenn <persName xml:id="persName_a79f2a08-90eb-4143-8dc1-c8570a53d6c0">mein Führer<name key="PSN0113330" style="hidden">Michel, Christian (1808-1871)</name></persName> etwa singt „Her Kuhli, ho lobe“ oder „Wilhelm bin ich der Telle“ oder sonst alte bekannte Lieder, oder wenn ich die Tannen über Andermatt von der Furka herab wiedersehe und grüße, oder wenn ich aus Hospital über allen Regen, und alle Berge und Pässe und Städte und Flächen Euch gute Nacht wünschen will.</p> </div> <div n="6" type="act_of_writing" xml:id="div_5f0db69d-1cee-4a12-ae53-6410d6268511"> <docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <p><seg type="inline">Flüelen d. <date cert="high" when="1831-08-19" xml:id="date_16a9b339-9f04-4df6-b6d1-ba40c6878bd4">19 Aug.</date></seg> Ein rechter Reisetag, schön und voll und kräftig. Als wir heut um 6 fort wollten schneite und regnete es so wüthend, daß wir bis 9 warten mußten, da kam die Sonne vor, die Wolken mußten sich zertheilen und wir hatten heitres schönes Wetter bis hieher; jetzt haben sich aber schon wieder die schwersten Regenwolken über dem See zusammengezogen, so daß morgen gewiß wieder das alte Ungemach los geht. Aber wie himmlisch war es wieder heute! So klar und sonnig, wir hatten die heiterste Reise. Die Gotthardstraße kennt Ihr in ihrer Schönheit; man verliert viel wenn man von oben herunterkommt, statt von hier hinauf, denn die große Ueberraschung des Urnerloches geht ganz verloren, und die neue Straße, die mit der Pracht und Bequemlichkeit der Simplonstraße angelegt ist, hat den Effect der Teufelsbrücke aufgehoben, in dem dicht daneben ein andrer, neuer, viel kühnerer und größerer Bogen hingestellt ist, der die alte Brücke ganz unscheinbar macht, während doch das alte morsche Gemäuer viel romantischer und wilder aussieht; aber wenn man auch den Blick auf Andermatt verliert, und wenn auch die neue Teufelsbrücke wenig poetisch ist, so geht man dafür den ganzen Tag lustig bergab auf der ebensten Straße, fliegt ordentlich bei den Gegenden vorüber, und statt vom Wasserfalle auf der Brücke besprützt und vom Winde gefährdet zu werden, geht man jetzt hoch über dem Strom und zwischen festen Mauergeländern sicher hinüber. Hensel, der die Dampfschiffe nicht mag, würde wohl auch die neue Brücke nicht mögen; aber ich halte es doch mit beiden, und habe ihn mir oft hergewünscht, wenn die Farben der hohen Berge gar zu bunt und manichfach durch einander gingen und ich kaum mehr wußte, was ich sah. Er würde es schon bessergewußt haben und über die Chaussée wären wir schon einig geworden. Denn man kann prächtig drauf traben; wir kamen bei Göschenen und Wasen vorüber, aber keine hübschen Mädchen traten ans Fenster, dann fand ich die Stelle, wo mich <persName xml:id="persName_4a318996-fb8e-4de6-a27d-d4dcc19a4458">Mutter<name key="PSN0113260" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Lea Felicia Pauline (1777-1842)</name></persName> sehr schalt, weil ich auf meinem großen Pferde zu traben anfing, dann erschienen die gewaltigen Fichten und Buchen vor Amstäg, dann das herrliche Thal vor Altorf mit den Hütten, Wiesen, Wäldern, Felsen und Schneebergen, in Altorf ruhten wir uns oben auf dem Kapuzinerkloster aus, wohin mich <persName xml:id="persName_e1b223b5-3149-4d81-bd5d-46e28206b631">Vater<name key="PSN0113247" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Abraham Ernst (bis 1822: Abraham Moses) (1776-1835)</name></persName> einmal spazieren führte und mir zu meinem Schrecken erzählte, ein Kapuziner dürfe seine Kutte nie ausziehn, endlich Abends sitze ich hier an dem Ufer des Vierwaldstättersees. Morgen denke ich nun über den See nach Lucern, und Briefe von Euch zu finden. Da komme ich auch gleich von einer Gesellschaft Berliner junger Leute los, die fast die ganze Reise machten, wie ich, sich überall wieder vorfanden, und mich schrecklich gelangweilt haben, namentlich war mir der Patriotismus eines Lieutenants, eines Färbers und eines jungen Zimmermanns, die alle drei Frankreich stürzen wollten, sehr widrig. Aber das Lustigste vergeß ich. Heut früh als wir in bitterer Kälte fortgehn, wankt von fern aus Andermatt eine Caravane uns entgegen. Erst sah ich einige junge Männer in Staubmänteln und rothen Nasen, dann ein Paar zu Pferde, dann eine Dame zu Pferde, hinten nach kam der <persName xml:id="persName_55334b41-fca1-40c9-985c-1d40f659a4f7">Oberlandsgerichtsrath Wünsch<name key="PSN0115895" style="hidden">Wünsch, Karl (1793-1837)</name></persName>. Ich schrie auf, sie erkannten mich erst nicht, aus bärtigen Gründen, dann aber sprang <persName xml:id="persName_b0e531c0-ea85-4283-b904-b7322b40a771">Busold<name key="PSN0110224" style="hidden">Busolt, Julius Eberhard (1799-1838)</name></persName> im Staubmantel herzu, wir umarmten uns, und lachten und scherzten und sprachen eine Viertelstunde über Alles Bekannte, dann zogen sie dort hinauf, ich da hinunter. Die <persName xml:id="persName_7996c999-5e42-4de6-b81e-9fc16e067e8e">Ob.l.sg.räthinn<name key="PSN0115894" style="hidden">Wünsch, Caroline Louise</name></persName> zu Pferde sah ganz nett aus, und die ganze Caravane war sehr lustig und guter Dinge, sie wollen auf die Furka ins Berner Oberland, d[ann nac]h Italien, jetzt sind wir schon ein ganz großes Stück auseinander; aber der kurze Augenblick [war schön.]</p> </div> <div n="7" type="act_of_writing" xml:id="div_f1189f9a-5ba3-4308-ae3b-dfd004755fd5"> <docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <p><seg type="inline">Sarnen d. <date cert="high" when="1831-08-20" xml:id="date_da034e1c-c0dd-4aa5-99b1-faeca2212814">20</date></seg> Heut früh fuhr ich während fortdauerndem Regen über den Vierwaldstättersee und fand in Luzern Euern lieben Brief vom 5<hi rend="superscript">ten</hi>. Da er nur erwünschte Nachrichten von Euerm Wohlsein enthielt, habe ich mich gleich aufgemacht, um eine 3tägige Tour nach Unterwalden und dem Brünig zu machen; dann will ich in Luzern Euren nächsten Brief abholen und dann gehts westlich und aus der Schweiz. Es wird mir aber schwer werden, Abschied zu nehmen, das Land ist über alle Begriffe schön, und obwohl das Wetter wieder entsetzlich ist, Regen und Sturm den ganzen Tag und die Nacht durch, so waren doch die Tellsplatte, das Grütli, Brunnen und Schwyz, und heut Abend die blendend grünen Wiesen in Unterwalden unvergeßlich schön. Dies Grün ist etwas Einziges, es erquickt die Augen und den ganzen Menschen. Deinen liebevollen Vorsichtsregeln, liebe <persName xml:id="persName_1c35de8b-4f45-467d-a9ae-85f2d65672bf">Mutter<name key="PSN0113260" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Lea Felicia Pauline (1777-1842)</name></persName>, werde ich gewiß folgen, aber sey nicht besorgt für mich. Ich bin gewiß nicht leichtsinnig mit meiner Gesundheit und habe mich seit langer Zeit nicht so wohl gefühlt als hier in der Schweiz auf der Fußreise. Ich wünschte, Du hättest mich eben eine Schüssel Milchreis vertilgen sehn; ich wünsche es aus mehreren Gründen. Aber wirklich, wenn Essen und Trinken und Schlafen und Musik im Kopf haben einen gesunden Menschen macht, so kann ich mich Gott sey Dank so nennen, denn <persName xml:id="persName_00db46c4-e475-4d87-a6fd-ca7595d0c1f7">mein Führer<name key="PSN0113330" style="hidden">Michel, Christian (1808-1871)</name></persName> und ich wir essen, trinken und singen leider auch um die Wette. Nur im Schlafen thue ichs ihm noch zuvor, und wenn ich ihn im Singen zuweilen störe durch Trompeten- oder Hoboentöne, so stört er mich dafür des Morgens im Schlafe. Doch bringe ichs gewöhnlich auf 8 – 9 Stunden. Befürchte Du nichts für mich, auch ich will Eurentwegen unbesorgt und mit fester Zuversicht der Zukunft entgegensehen. So Gott es will werden wir uns froh und glücklich wieder zusammenfinden, ich bitte ihn, daß er es bald wollen möge. Bis dahin muß nun wohl noch manch Stück Tagebuch zu Euch hinauf wandern, aber auch <hi rend="underline">die </hi>Zeit vergeht wohl schnell, wie denn Alles schnell vergeht, ausgenommen das Beste. <seg type="closer" xml:id="seg_a718889a-0afc-410e-a135-d2443a223edd">Und so bleiben wir einander treu und nah.</seg></p> </div> <div n="8" type="act_of_writing" xml:id="div_309a5fd7-3faf-46bd-a1c7-fecf4d4b3906"> <docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <p> </p> <docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <signed rend="right">F.</signed> </div> </body> </text></TEI>