]> Brief: fmb-1831-06-06-01

fmb-1831-06-06-01

Hilfe zum Zitier-Tool

Um wichtige Textpassagen (Zitate) zu speichern und auf diese via Hyperlink zu verweisen, markieren Sie bitte den gewünschten Textbereich.

Daraufhin erscheint ein Fenster, in welchem Sie die ausgewählte Textpassage inkl. des Hyperlinks zur weiteren Verwendung in die Zwischenablage kopieren können.


Felix Mendelssohn Bartholdy an Abraham Mendelssohn Bartholdy und Lea Mendelssohn Bartholdy in Berlin <lb></lb>Rom, 6. Juni 1831 Nun ists mal wieder Zeit, daß ich Euch einen ordentlichen, vernünftigen Brief schreibe; ich glaube daß alle die aus Neapel eigentlich nichts recht getaugt haben. Es ist als wolle einen die Luft da nicht zum Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online (FMB-C) noch nicht ermittelt noch nicht ermittelt Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847) Transkription: FMB-C Edition: FMB-C Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe (FMB-C). Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft. Humboldt-Universität zu Berlin
Am Kupfergraben 5 10117 Berlin Deutschland
http://www.mendelssohn-online.com Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0) Bd. 2, 428

Maschinenlesbare Übertragung der vollständigen Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys (FMB-C)

Großbritannien Oxford GB-Ob Oxford, Bodleian Library Music Section M.D.M. d. 13, fol. 61-62. Autograph Felix Mendelssohn Bartholdy an Abraham Mendelssohn Bartholdy und Lea Mendelssohn Bartholdy in Berlin; Rom, 6. Juni 1831 Nun ists mal wieder Zeit, daß ich Euch einen ordentlichen, vernünftigen Brief schreibe; ich glaube daß alle die aus Neapel eigentlich nichts recht getaugt haben. Es ist als wolle einen die Luft da nicht zum

4 beschr. S.; Adresse, 1 Poststempel.

Felix Mendelssohn Bartholdy

Green Books

Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C: Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz Hin- und Gegenbriefe Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML-TEI-Basis.

Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy 1809-1847 in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept, Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.

6. Juni 1831 Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)counter-resetMendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847) Rom Italien Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Lea Felicia Pauline (1777-1842) Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Abraham Ernst (bis 1822: Abraham Moses) (1776-1835) Berlin Deutschland deutsch
Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)Rom d. 6 Juny 31Liebe Eltern

Nun ists mal wieder Zeit, daß ich Euch einen ordentlichen, vernünftigen Brief schreibe; ich glaube daß alle die aus Neapel eigentlich nichts recht getaugt haben. Es ist als wolle einen die Luft da nicht zum Nachdenken kommen lassen, wenigstens ist es mir nur sehr selten gelungen, mich dort zu sammeln; jetzt bin ich aber kaum ein Paar Stunden wieder hier, und das alte Römische Behagen und die heitere Ernsthaftigkeit, von der ich Euch in meinen ersten Briefen aus Rom schrieb, haben sich schon wieder ganz über mich ausgebreitet. Ich kann nicht sagen, wie ungleich mehr ich Rom liebe, als Neapel. Die Leute sagen, Rom sey monoton, einfärbig, traurig, und einsam; es ist auch wahr, daß Neapel mehr wie eine große Europäische Stadt ist, lebendiger, verschiedenartiger, kosmopolitischer, ich sage Euch aber im Vertrauen, daß ich nach und nach auf das Kosmopolitische einen ganz besondern Haß bekomme, ich mag es nicht, wie ich überhaupt Vielseitigkeit nicht recht mag, oder eigentlich nicht recht daran glaube; was eigenthümlich und schön und groß sein soll, das muß einseitig sein, wenn diese eine Seite nur zur größten Vollkommenheit ausgebildet ist; und das kann kein Mensch Rom abstreiten. Um als große Stadt eigenthümlich zu sein, dazu scheint mir Neapel zu klein, das ganze Leben und Treiben beschränkt sich auf zwei große Straßen, den Toledo und die Küste vom Hafen bis zur Chiaja, und die Idee eines Mittelpuncts für ein großes Volk, die London so wunderbar schön macht, giebt mir Neapel nicht, erstlich schon weil das Volk fehlt. Denn die Fischer und Lazzaroni (deren man nur noch sehr wenig sieht) kann ich kein Volk nennen, sie sind mehr, wie Wilde, und ihr Mittelpunct ist nicht Neapel sondern das Meer; die Mittelclasse, die gewerbtreibenden, arbeitenden Bürger, die in den andern großen Städten die Grundlage bilden, sind hier ganz untergeordnet, man möchte sagen, es fehlt ganz daran. Das ist es, was mir eigentlich den Aufenthalt in Neapel selbst oft verdrießlich gemacht hat, so sehr ich die Umgegend liebe und genossen habe, und wie mir das immer von Neuem vor die Augen trat, so glaube ich am Ende sogar an mir selbst den Grund davon erfahren zu haben. Ich kann nicht sagen, daß ich eigentlich unwohl war, in dem fortdauernden Sciroccowetter, aber es war unangenehmer, als eine Unpäßlichkeit, die in ein Paar Tagen vorüber geht: ich fühlte mich schlaff, unlustig zu was Ernsthaftem, kurz unthätig; wie ich denn nun tagelang mit mürrischem Gesichte die Straßen auf und ab schlenderte, und mich am liebsten eigentlich auf die Erde gelegt hätte, ohne irgend etwas zu denken, zu wollen, zu thun, da fiel mir auf einmal ein, daß die Hauptclassen von Neapel am Ende wirklich so lebten, und daß also der Grund zu meinem Misbehagen nicht wie ich fürchtete in mir, sondern im Ganzen, in Luft, Clima u. s. w. liegen möchte. Das Clima ist eingerichtet für einen großen Herren, der spät aufsteht, nie zu Fuße zu gehen braucht, nichts denkt, weil das erhitzt, Nachmittag seine paar Stunden auf dem Sopha schläft, dann sein Eis ißt, und Nachts ins Theater fährt, wo er wieder nichts zu denken findet, sondern Besuche machen oder empfangen kann. Auf der andern Seite ist das Clima wieder eben so passend für einen Kerl im Hemde, mit nackten Beinen und Armen, der sich ebenfalls nicht zu bewegen braucht, sich ein Paar Gran erbettelt, wenn er einmal nichts zu leben hat, Nachmittags sein Schläfchen macht auf der Erde am Hafen, oder auf dem Steinpflaster (die Fußgänger steigen über ihn weg, oder schieben ihn aus dem Wege, wenn er gerade in der Mitte liegt) der dann sich seine frutti di mare etwa selbst aus dem Meere herauf holt, dann da schläft, wo er Abends zuletzt hinkommt, kurz, der in jedem Augenblicke das thut, was ihm gerade gemüthlich ist, wie ein Thier. Das sind denn nun auch die beiden HauptClassen in Neapel, bei weitem der größte Theil der Bevölkerung des Toledo besteht in zierlich geputzten Herrn und Damen, oder schönen Carrossen, in denen Mann und Frau einander spazieren fahren, oder in diesen braunen sans culottes, die mal Fische zum Verkauf tragen und gräßlich dazu brüllen, oder Lasttragen, wenn es am Gelde fehlt. Leute aber, die eine fortgesetzte Beschäftigung haben, irgend eine Sache mit Fleiß und Beharrlichkeit verfolgen und ausbilden, die Arbeit um der Arbeit willen lieben, giebt es nur wenige, glaube ich; GoetheGoethe, Johann Wolfgang (seit 1782) von (1749-1832) sagt, das sey der Jammer des Nordens, daß man dort immer etwas thun wolle, und immer nach etwas strebe, und giebt einem Italiäner Recht, der ihm räth er solle nicht soviel denken, das mache nur Kopfschmerzen; es muß aber sein Spas sein, denn er hat nicht danach gehandelt, sondern eben recht, wie ein Nordländer. Will er nun damit sagen, daß die verschiedenen Charactere in der Natur begründet seien, und von ihr abhängen, so hat er natürlich Recht, und das versteht sich; ich kann auch wohl einsehen, wie das Alles so sein muß, und warum die Wölfe heulen, aber mit ihnen heulen muß man darum doch nicht, das Sprichwort sollte gerade umgekehrt sein. Die Leute nun, die ihrer Lage nach arbeiten müssen, und also auch denken und thätig sein, die behandeln das Ding, wie ein nothwendiges Übel, das ihnen Geld verschafft, und so bald sie es haben, leben sie, wie die großen oder die nackten Herren. Daher ist kein Laden, wo man nicht betrogen würde: Einheimische, die viele Jahrelang dort Kunden sind, müssen ebenso handeln und auf ihrer Hut sein, wie Fremde, und einer meiner Bekannten, der 15 Jahre lang aus einem Laden kaufte, erzählte mir, wie seit 15 Jahren immer derselbe Kampf und ein Paar scudi sey, und wie nichts ihm dagegen helfe; daher giebt es ebenso wenig Industrie und Concurrenz; daher macht DonizettiDonizetti, Domenico Gaetano Maria (1797-1848) seine Oper in 10 Tagen fertig, sie wird ausgezischt, aber das thut ihm gar nichts, denn er bekommt dafür bezahlt und kann wieder spazieren gehn; sollte aber seine Reputation endlich gefährdet werden, so würde er wieder zuviel arbeiten müssen, und das wäre unbequem; dann schreibt er einmal eine Oper in 3 Wochen, giebt sich zu ein Paar Stücken Mühe, damit sie recht gefallen, und kann wieder eine Weile spazierengehn und schlecht schreiben. So malen ihre Maler die unglaublich schlechten Bilder, die noch weit unter der Musik stehen; so bauen die Architecten die abgeschmacktesten Gebäude (unter andern eine Nachahmung von Sct. PeterSan Pietro in Vaticano (Petersdom)RomItalien im Kleinen, im Chinesischen Geschmack) Alles das ist aber einerley: Die Bilder sind bunt, die Musik macht Lärm, die Gebäude geben Schatten – mehr will der Neapolitanische Große nicht davon.

Wie mir denn nun körperlich eben so zu Muthe wurde, wie ihnen, wie mich Alles eigentlich zum Faulsein, Spazierengehn, und Schlafen antrieb, und wie ich mir doch innerlich immer sagen mußte, das sey unrecht, und versuchte mich zu beschäftigen und zu arbeiten, was wieder nicht gehen wollte: so entstand die Verdrießlichkeit in der ich mehrere Briefe an Euch geschrieben habe, und ich konnte ihr nur ausweichen, in dem ich mich in den Bergen umhertrieb, wo es gar zu göttlich schön ist, und wo jedem Menschen heiter und dankbar zu Muthe werden muß. Dazu kam noch in Neapel das unglücklichste Wetter, da die ganzen 6 Wochen unaufhörlich der heißeste Scirocco wehte, der den Menschen herunter bringt und melancholisch-faul macht – und somit habt ihr der langen Rede kurzen Sinn: mir war nicht wohl, nicht heimisch dort. – Ich habe übrigens nicht versäumt, die Musiker kennen zu lernen, die dort sind; wir haben auch Musik zusammen gemacht, aber ich habe mich über ihre großen Lobeserhebungen nicht freuen können. Die FodorFodor-Mainvielle, Joséphine (1789-1870) ist bisjetzt die einzige Künstlerinn, oder vielmehr der einzige Künstler, den ich in Italien getroffen habe; anderswo hätte ich vielleicht vieles an ihrem Gesange auszusetzen, aber das überhörte ich Alles, weil es doch wirklich Musik ist, wie sie singt, und das thut einem Menschen gar zu wohl nach langer Pause.

Nun bin ich aber wieder im alten Rom, da ist ein ander Leben! Täglich sind Prozessionen, weil vorige Woche corpus domini war (vrgl. den Bericht an die SchwesternHensel, Fanny Cäcilia (1805-1847)Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Paul Hermann (1812-1874)) und wie ich die Stadt in der Nachfeier der heil. Woche verließ, so finde ich sie in der Nachfeier des Frohnleichnamstages wieder. Es machte mir einen sonderbaren Eindruck, daß Alles auf den Straßen so sommerlich geworden war, in der Zwischenzeit: überall Buden mit Citronen, und Eiswasser, alle Leute in leichten Kleidern, die Fenster offen und die Jalousien geschlossen, vor den Caffeehäusern sitzt man auf der Straße und ißt gelato’s in Masse, der Corso wimmelt von Equipagen, denn nun wird wenig zu Fuß gegangen, und obwohl ich eigentlich keinen Freund, und keinen nahestehenden Menschen vermisse, so wurde mir doch ganz weich, als ich den spanischen Platz wieder sah, und die alten wohlbekannten Straßennamen an den Ecken. Etwa eine Woche bleibe ich nun hier, und dann geht es nordwärts, Donnerstag soll die infiorata sein, doch ist es noch nicht bestimmt, ob sie statt findet, weil man Revolutionen fürchtet; ich hoff’ es aber; bei der Gelegenheit würde ich noch das Gebirge sehen, und dann abreisen. Eure Briefe bitte ich noch nach Mailand zu adressiren, an das Albergo ReichmannReichmann, Herr, wo ich schon Nachricht gegeben habe, daß man mir Alles sicher aufhebe, oder wenn es Euch besser scheint an Mirabaud & CoMirabaud & Co., Bankhaus in Mailand. für die mein Creditiv von ArnsteinArnstein & Eskeles, Bankhaus in Wien und Eskeles lautet; ich denke dort etwa in 4 – 5 Wochen einzutreffen, gehe von hier über Perugia nach Florenz und dann wahrscheinlich über Pisa nach Genua. Die Reise nach Nizza scheint mir nach genauerer Überlegung etwas toll und out of the way zu sein; wahrscheinlich werde ich sie also unterlassen. Wünscht mir denn also wieder einmal glückliche Reise, denn nun geht die Fahrt wieder los. Heut vor einem Jahr kam ich in München an und hörte Fidelio<name key="PSN0109771" style="hidden" type="author">Beethoven, Ludwig van (1770-1827)</name><name key="CRT0108010" style="hidden" type="music">Fidelio op. 72</name>, und schrieb Euch, seitdem haben wir uns nicht gesehn; so Gott will möge es nicht wieder so lange dauern.

Felix MB.
            Rom d. 6 Juny 31Liebe Eltern
Nun ists mal wieder Zeit, daß ich Euch einen ordentlichen, vernünftigen Brief schreibe; ich glaube daß alle die aus Neapel eigentlich nichts recht getaugt haben. Es ist als wolle einen die Luft da nicht zum Nachdenken kommen lassen, wenigstens ist es mir nur sehr selten gelungen, mich dort zu sammeln; jetzt bin ich aber kaum ein Paar Stunden wieder hier, und das alte Römische Behagen und die heitere Ernsthaftigkeit, von der ich Euch in meinen ersten Briefen aus Rom schrieb, haben sich schon wieder ganz über mich ausgebreitet. Ich kann nicht sagen, wie ungleich mehr ich Rom liebe, als Neapel. Die Leute sagen, Rom sey monoton, einfärbig, traurig, und einsam; es ist auch wahr, daß Neapel mehr wie eine große Europäische Stadt ist, lebendiger, verschiedenartiger, kosmopolitischer, ich sage Euch aber im Vertrauen, daß ich nach und nach auf das Kosmopolitische einen ganz besondern Haß bekomme, ich mag es nicht, wie ich überhaupt Vielseitigkeit nicht recht mag, oder eigentlich nicht recht daran glaube; was eigenthümlich und schön und groß sein soll, das muß einseitig sein, wenn diese eine Seite nur zur größten Vollkommenheit ausgebildet ist; und das kann kein Mensch Rom abstreiten. Um als große Stadt eigenthümlich zu sein, dazu scheint mir Neapel zu klein, das ganze Leben und Treiben beschränkt sich auf zwei große Straßen, den Toledo und die Küste vom Hafen bis zur Chiaja, und die Idee eines Mittelpuncts für ein großes Volk, die London so wunderbar schön macht, giebt mir Neapel nicht, erstlich schon weil das Volk fehlt. Denn die Fischer und Lazzaroni (deren man nur noch sehr wenig sieht) kann ich kein Volk nennen, sie sind mehr, wie Wilde, und ihr Mittelpunct ist nicht Neapel sondern das Meer; die Mittelclasse, die gewerbtreibenden, arbeitenden Bürger, die in den andern großen Städten die Grundlage bilden, sind hier ganz untergeordnet, man möchte sagen, es fehlt ganz daran. Das ist es, was mir eigentlich den Aufenthalt in Neapel selbst oft verdrießlich gemacht hat, so sehr ich die Umgegend liebe und genossen habe, und wie mir das immer von Neuem vor die Augen trat, so glaube ich am Ende sogar an mir selbst den Grund davon erfahren zu haben. Ich kann nicht sagen, daß ich eigentlich unwohl war, in dem fortdauernden Sciroccowetter, aber es war unangenehmer, als eine Unpäßlichkeit, die in ein Paar Tagen vorüber geht: ich fühlte mich schlaff, unlustig zu was Ernsthaftem, kurz unthätig; wie ich denn nun tagelang mit mürrischem Gesichte die Straßen auf und ab schlenderte, und mich am liebsten eigentlich auf die Erde gelegt hätte, ohne irgend etwas zu denken, zu wollen, zu thun, da fiel mir auf einmal ein, daß die Hauptclassen von Neapel am Ende wirklich so lebten, und daß also der Grund zu meinem Misbehagen nicht wie ich fürchtete in mir, sondern im Ganzen, in Luft, Clima u. s. w. liegen möchte. Das Clima ist eingerichtet für einen großen Herren, der spät aufsteht, nie zu Fuße zu gehen braucht, nichts denkt, weil das erhitzt, Nachmittag seine paar Stunden auf dem Sopha schläft, dann sein Eis ißt, und Nachts ins Theater fährt, wo er wieder nichts zu denken findet, sondern Besuche machen oder empfangen kann. Auf der andern Seite ist das Clima wieder eben so passend für einen Kerl im Hemde, mit nackten Beinen und Armen, der sich ebenfalls nicht zu bewegen braucht, sich ein Paar Gran erbettelt, wenn er einmal nichts zu leben hat, Nachmittags sein Schläfchen macht auf der Erde am Hafen, oder auf dem Steinpflaster (die Fußgänger steigen über ihn weg, oder schieben ihn aus dem Wege, wenn er gerade in der Mitte liegt) der dann sich seine frutti di mare etwa selbst aus dem Meere herauf holt, dann da schläft, wo er Abends zuletzt hinkommt, kurz, der in jedem Augenblicke das thut, was ihm gerade gemüthlich ist, wie ein Thier. Das sind denn nun auch die beiden HauptClassen in Neapel, bei weitem der größte Theil der Bevölkerung des Toledo besteht in zierlich geputzten Herrn und Damen, oder schönen Carrossen, in denen Mann und Frau einander spazieren fahren, oder in diesen braunen sans culottes, die mal Fische zum Verkauf tragen und gräßlich dazu brüllen, oder Lasttragen, wenn es am Gelde fehlt. Leute aber, die eine fortgesetzte Beschäftigung haben, irgend eine Sache mit Fleiß und Beharrlichkeit verfolgen und ausbilden, die Arbeit um der Arbeit willen lieben, giebt es nur wenige, glaube ich; Goethe sagt, das sey der Jammer des Nordens, daß man dort immer etwas thun wolle, und immer nach etwas strebe, und giebt einem Italiäner Recht, der ihm räth er solle nicht soviel denken, das mache nur Kopfschmerzen; es muß aber sein Spas sein, denn er hat nicht danach gehandelt, sondern eben recht, wie ein Nordländer. Will er nun damit sagen, daß die verschiedenen Charactere in der Natur begründet seien, und von ihr abhängen, so hat er natürlich Recht, und das versteht sich; ich kann auch wohl einsehen, wie das Alles so sein muß, und warum die Wölfe heulen, aber mit ihnen heulen muß man darum doch nicht, das Sprichwort sollte gerade umgekehrt sein. Die Leute nun, die ihrer Lage nach arbeiten müssen, und also auch denken und thätig sein, die behandeln das Ding, wie ein nothwendiges Übel, das ihnen Geld verschafft, und so bald sie es haben, leben sie, wie die großen oder die nackten Herren. Daher ist kein Laden, wo man nicht betrogen würde: Einheimische, die viele Jahrelang dort Kunden sind, müssen ebenso handeln und auf ihrer Hut sein, wie Fremde, und einer meiner Bekannten, der 15 Jahre lang aus einem Laden kaufte, erzählte mir, wie seit 15 Jahren immer derselbe Kampf und ein Paar scudi sey, und wie nichts ihm dagegen helfe; daher giebt es ebenso wenig Industrie und Concurrenz; daher macht Donizetti seine Oper in 10 Tagen fertig, sie wird ausgezischt, aber das thut ihm gar nichts, denn er bekommt dafür bezahlt und kann wieder spazieren gehn; sollte aber seine Reputation endlich gefährdet werden, so würde er wieder zuviel arbeiten müssen, und das wäre unbequem; dann schreibt er einmal eine Oper in 3 Wochen, giebt sich zu ein Paar Stücken Mühe, damit sie recht gefallen, und kann wieder eine Weile spazierengehn und schlecht schreiben. So malen ihre Maler die unglaublich schlechten Bilder, die noch weit unter der Musik stehen; so bauen die Architecten die abgeschmacktesten Gebäude (unter andern eine Nachahmung von Sct. Peter im Kleinen, im Chinesischen Geschmack) Alles das ist aber einerley: Die Bilder sind bunt, die Musik macht Lärm, die Gebäude geben Schatten – mehr will der Neapolitanische Große nicht davon.
Wie mir denn nun körperlich eben so zu Muthe wurde, wie ihnen, wie mich Alles eigentlich zum Faulsein, Spazierengehn, und Schlafen antrieb, und wie ich mir doch innerlich immer sagen mußte, das sey unrecht, und versuchte mich zu beschäftigen und zu arbeiten, was wieder nicht gehen wollte: so entstand die Verdrießlichkeit in der ich mehrere Briefe an Euch geschrieben habe, und ich konnte ihr nur ausweichen, in dem ich mich in den Bergen umhertrieb, wo es gar zu göttlich schön ist, und wo jedem Menschen heiter und dankbar zu Muthe werden muß. Dazu kam noch in Neapel das unglücklichste Wetter, da die ganzen 6 Wochen unaufhörlich der heißeste Scirocco wehte, der den Menschen herunter bringt und melancholisch-faul macht – und somit habt ihr der langen Rede kurzen Sinn: mir war nicht wohl, nicht heimisch dort. – Ich habe übrigens nicht versäumt, die Musiker kennen zu lernen, die dort sind; wir haben auch Musik zusammen gemacht, aber ich habe mich über ihre großen Lobeserhebungen nicht freuen können. Die Fodor ist bisjetzt die einzige Künstlerinn, oder vielmehr der einzige Künstler, den ich in Italien getroffen habe; anderswo hätte ich vielleicht vieles an ihrem Gesange auszusetzen, aber das überhörte ich Alles, weil es doch wirklich Musik ist, wie sie singt, und das thut einem Menschen gar zu wohl nach langer Pause.
Nun bin ich aber wieder im alten Rom, da ist ein ander Leben! Täglich sind Prozessionen, weil vorige Woche corpus domini war (vrgl. den Bericht an die Schwestern) und wie ich die Stadt in der Nachfeier der heil. Woche verließ, so finde ich sie in der Nachfeier des Frohnleichnamstages wieder. Es machte mir einen sonderbaren Eindruck, daß Alles auf den Straßen so sommerlich geworden war, in der Zwischenzeit: überall Buden mit Citronen, und Eiswasser, alle Leute in leichten Kleidern, die Fenster offen und die Jalousien geschlossen, vor den Caffeehäusern sitzt man auf der Straße und ißt gelato’s in Masse, der Corso wimmelt von Equipagen, denn nun wird wenig zu Fuß gegangen, und obwohl ich eigentlich keinen Freund, und keinen nahestehenden Menschen vermisse, so wurde mir doch ganz weich, als ich den spanischen Platz wieder sah, und die alten wohlbekannten Straßennamen an den Ecken. Etwa eine Woche bleibe ich nun hier, und dann geht es nordwärts, Donnerstag soll die infiorata sein, doch ist es noch nicht bestimmt, ob sie statt findet, weil man Revolutionen fürchtet; ich hoff’ es aber; bei der Gelegenheit würde ich noch das Gebirge sehen, und dann abreisen. Eure Briefe bitte ich noch nach Mailand zu adressiren, an das Albergo Reichmann, wo ich schon Nachricht gegeben habe, daß man mir Alles sicher aufhebe, oder wenn es Euch besser scheint an Mirabaud & Co. für die mein Creditiv von Arnstein und Eskeles lautet; ich denke dort etwa in 4 – 5 Wochen einzutreffen, gehe von hier über Perugia nach Florenz und dann wahrscheinlich über Pisa nach Genua. Die Reise nach Nizza scheint mir nach genauerer Überlegung etwas toll und out of the way zu sein; wahrscheinlich werde ich sie also unterlassen. Wünscht mir denn also wieder einmal glückliche Reise, denn nun geht die Fahrt wieder los. Heut vor einem Jahr kam ich in München an und hörte Fidelio, und schrieb Euch, seitdem haben wir uns nicht gesehn; so Gott will möge es nicht wieder so lange dauern.
Felix MB.          
            <TEI xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xmlns:xsi="http://www.w3.org/2001/XMLSchema-instance" xsi:schemaLocation="http://www.tei-c.org/ns/1.0 ../../../fmbc_framework/xsd/fmb-c.xsd" xml:id="fmb-1831-06-06-01" xml:space="default"> <teiHeader xml:lang="de"> <fileDesc> <titleStmt> <title key="fmb-1831-06-06-01" xml:id="title_950214dd-9d43-480a-a2dc-cd109add7ad6">Felix Mendelssohn Bartholdy an Abraham Mendelssohn Bartholdy und Lea Mendelssohn Bartholdy in Berlin <lb></lb>Rom, 6. Juni 1831</title> <title level="s" type="incipit" xml:id="title_4a8d6c49-fe20-46a4-9d13-5e67f653a60f">Nun ists mal wieder Zeit, daß ich Euch einen ordentlichen, vernünftigen Brief schreibe; ich glaube daß alle die aus Neapel eigentlich nichts recht getaugt haben. Es ist als wolle einen die Luft da nicht zum</title> <title level="s" type="sub" xml:id="title_6c9a1d34-23a2-4e6c-b5d7-39fb3811e17c">Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online (FMB-C)</title> <title key="not_yet_determined" type="precursor">noch nicht ermittelt</title> <title key="not_yet_determined" type="successor">noch nicht ermittelt</title> <author key="PSN0000001">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</author><respStmt><resp resp="writer"></resp><persName key="PSN0000001" resp="writer">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName></respStmt><respStmt resp="transcription"> <resp resp="transcription">Transkription: </resp> <name resp="transcription">FMB-C</name> </respStmt> <respStmt resp="edition"> <resp resp="edition">Edition: </resp> <name resp="edition">FMB-C</name> </respStmt> </titleStmt> <publicationStmt> <publisher>Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe (FMB-C). Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft. Humboldt-Universität zu Berlin</publisher> <address> <street>Am Kupfergraben 5</street> <placeName> <settlement>10117 Berlin</settlement> <country>Deutschland</country> </placeName> </address> <idno type="URI">http://www.mendelssohn-online.com</idno> <availability> <licence target="http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/">Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0)</licence> </availability> <idno type="MSB">Bd. 2, 428</idno></publicationStmt> <seriesStmt> <p>Maschinenlesbare Übertragung der vollständigen Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys (FMB-C)</p> </seriesStmt> <sourceDesc source="edition_template_manuscript" xml:id="sourceDesc_a92783e1-9b24-41fb-bd67-3be01a3b086e"> <msDesc> <msIdentifier> <country>Großbritannien</country> <settlement>Oxford</settlement> <institution key="RISM">GB-Ob</institution> <repository>Oxford, Bodleian Library</repository> <collection>Music Section</collection> <idno type="signatur">M.D.M. d. 13, fol. 61-62.</idno> </msIdentifier> <msContents> <msItem> <idno type="autograph">Autograph</idno> <title key="fmb-1831-06-06-01" type="letter" xml:id="title_e583d116-0f4a-4cf4-a5ce-883e5092f481">Felix Mendelssohn Bartholdy an Abraham Mendelssohn Bartholdy und Lea Mendelssohn Bartholdy in Berlin; Rom, 6. Juni 1831</title> <incipit>Nun ists mal wieder Zeit, daß ich Euch einen ordentlichen, vernünftigen Brief schreibe; ich glaube daß alle die aus Neapel eigentlich nichts recht getaugt haben. Es ist als wolle einen die Luft da nicht zum</incipit> </msItem> </msContents> <physDesc> <p>4 beschr. S.; Adresse, 1 Poststempel.</p> <handDesc hands="1"> <p>Felix Mendelssohn Bartholdy</p> </handDesc> <accMat> <listBibl> <bibl type="none"></bibl> </listBibl></accMat> </physDesc> <history> <provenance> <p>Green Books</p> </provenance> </history> </msDesc> </sourceDesc> </fileDesc> <encodingDesc><projectDesc><p>Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C: Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz Hin- und Gegenbriefe Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML-TEI-Basis.</p></projectDesc><editorialDecl><p>Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy 1809-1847 in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept,  Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.</p></editorialDecl></encodingDesc> <profileDesc> <creation> <date cert="high" when="1831-06-06" xml:id="date_eb6c0d1b-fec3-4230-a1ef-6193a8e68b75">6. Juni 1831</date></creation> <correspDesc> <correspAction type="sent"> <persName key="PSN0000001" resp="author" xml:id="persName_e3196320-730d-49a8-ab27-9bcf7a1ea20a">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName><note>counter-reset</note><persName key="PSN0000001" resp="writer">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName> <placeName type="writing_place" xml:id="placeName_4746d962-7aed-43df-b902-620815d91695"> <settlement key="STM0100177">Rom</settlement> <country>Italien</country></placeName></correspAction> <correspAction type="received"> <persName key="PSN0113260" resp="receiver" xml:id="persName_ead7b721-4bc0-444a-bc9a-6958eeb9cd9a">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Lea Felicia Pauline (1777-1842)</persName> <persName key="PSN0113247" resp="receiver" xml:id="persName_b8754c65-f80b-4086-9969-89a42f4be049">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Abraham Ernst (bis 1822: Abraham Moses) (1776-1835)</persName> <placeName type="receiving_place" xml:id="placeName_d66a6ac4-b53d-4ab6-af5a-3839f896e51a"> <settlement key="STM0100101">Berlin</settlement> <country>Deutschland</country> </placeName></correspAction> </correspDesc> <langUsage> <language ident="de">deutsch</language> </langUsage> </profileDesc> <revisionDesc status="draft">  </revisionDesc> </teiHeader> <text type="letter"> <body> <div n="1" type="act_of_writing" xml:id="div_4bcab067-4012-4935-8e96-063c4a28c3fa"><docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor><docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor><dateline rend="right">Rom d. <date cert="high" when="1831-06-06" xml:id="date_a517a732-4d9a-41b4-8062-cbf39392b7d2">6 Juny 31</date></dateline><salute rend="left">Liebe Eltern</salute><p style="paragraph_without_indent">Nun ists mal wieder Zeit, daß ich Euch einen ordentlichen, vernünftigen Brief schreibe; ich glaube daß alle die aus Neapel eigentlich nichts recht getaugt haben. Es ist als wolle einen die Luft da nicht zum Nachdenken kommen lassen, wenigstens ist es mir nur sehr selten gelungen, mich dort zu sammeln; jetzt bin ich aber kaum ein Paar Stunden wieder hier, und das alte Römische Behagen und die heitere Ernsthaftigkeit, von der ich Euch in meinen ersten Briefen aus Rom schrieb, haben sich schon wieder ganz über mich ausgebreitet. Ich kann nicht sagen, wie ungleich mehr ich Rom liebe, als Neapel. Die Leute sagen, Rom sey monoton, einfärbig, traurig, und einsam; es ist auch wahr, daß Neapel mehr wie eine große Europäische Stadt ist, lebendiger, verschiedenartiger, kosmopolitischer, ich sage Euch aber im Vertrauen, daß ich nach und nach auf das Kosmopolitische einen ganz besondern Haß bekomme, ich mag es nicht, wie ich überhaupt Vielseitigkeit nicht recht mag, oder eigentlich nicht recht daran glaube; was eigenthümlich und schön und groß sein soll, das muß einseitig sein, wenn diese eine Seite nur zur größten Vollkommenheit ausgebildet ist; und das kann kein Mensch Rom abstreiten. Um als große Stadt eigenthümlich zu sein, dazu scheint mir Neapel zu klein, das ganze Leben und Treiben beschränkt sich auf zwei große Straßen, den Toledo und die Küste vom Hafen bis zur Chiaja, und die Idee eines Mittelpuncts für ein großes Volk, die London so wunderbar schön macht, giebt mir Neapel nicht, erstlich schon weil das Volk fehlt. Denn die Fischer und Lazzaroni (deren man nur noch sehr wenig sieht) kann ich kein Volk nennen, sie sind mehr, wie Wilde, und ihr Mittelpunct ist nicht Neapel sondern das Meer; die Mittelclasse, die gewerbtreibenden, arbeitenden Bürger, die in den andern großen Städten die Grundlage bilden, sind hier ganz untergeordnet, man möchte sagen, es fehlt ganz daran. Das ist es, was mir eigentlich den Aufenthalt in Neapel selbst oft verdrießlich gemacht hat, so sehr ich die Umgegend liebe und genossen habe, und wie mir das immer von Neuem vor die Augen trat, so glaube ich am Ende sogar an mir selbst den Grund davon erfahren zu haben. Ich kann nicht sagen, daß ich eigentlich unwohl war, in dem fortdauernden Sciroccowetter, aber es war unangenehmer, als eine Unpäßlichkeit, die in ein Paar Tagen vorüber geht: ich fühlte mich schlaff, unlustig zu was Ernsthaftem, kurz unthätig; wie ich denn nun tagelang mit mürrischem Gesichte die Straßen auf und ab schlenderte, und mich am liebsten eigentlich auf die Erde gelegt hätte, ohne irgend etwas zu denken, zu wollen, zu thun, da fiel mir auf einmal ein, daß die Hauptclassen von Neapel am Ende wirklich so lebten, und daß also der Grund zu meinem Misbehagen nicht wie ich fürchtete in mir, sondern im Ganzen, in Luft, Clima u. s. w. liegen möchte. Das Clima ist eingerichtet für einen großen Herren, der spät aufsteht, nie zu Fuße zu gehen braucht, nichts denkt, weil das erhitzt, Nachmittag seine paar Stunden auf dem Sopha schläft, dann sein Eis ißt, und Nachts ins Theater fährt, wo er wieder nichts zu denken findet, sondern Besuche machen oder empfangen kann. Auf der andern Seite ist das Clima wieder eben so passend für einen Kerl im Hemde, mit nackten Beinen und Armen, der sich ebenfalls nicht zu bewegen braucht, sich ein Paar Gran erbettelt, wenn er einmal nichts zu leben hat, Nachmittags sein Schläfchen macht auf der Erde am Hafen, oder auf dem Steinpflaster (die Fußgänger steigen über ihn weg, oder schieben ihn aus dem Wege, wenn er gerade in der Mitte liegt) der dann sich seine frutti di mare etwa selbst aus dem Meere herauf holt, dann da schläft, wo er Abends zuletzt hinkommt, kurz, der in jedem Augenblicke das thut, was ihm gerade gemüthlich ist, wie ein Thier. Das sind denn nun auch die beiden HauptClassen in Neapel, bei weitem der größte Theil der Bevölkerung des Toledo besteht in zierlich geputzten Herrn und Damen, oder schönen Carrossen, in denen Mann und Frau einander spazieren fahren, oder in diesen braunen sans culottes, die mal Fische zum Verkauf tragen und gräßlich dazu brüllen, oder Lasttragen, wenn es am Gelde fehlt. Leute aber, die eine fortgesetzte Beschäftigung haben, irgend eine Sache mit Fleiß und Beharrlichkeit verfolgen und ausbilden, die Arbeit um der Arbeit willen lieben, giebt es nur wenige, glaube ich; <persName xml:id="persName_394eb557-0b45-4f85-8a87-07ea1b4f9627">Goethe<name key="PSN0111422" style="hidden">Goethe, Johann Wolfgang (seit 1782) von (1749-1832)</name></persName> sagt, das sey der Jammer des Nordens, daß man dort immer etwas thun wolle, und immer nach etwas strebe, und giebt einem Italiäner Recht, der ihm räth er solle nicht soviel denken, das mache nur Kopfschmerzen; es muß aber sein Spas sein, denn er hat nicht danach gehandelt, sondern eben recht, wie ein Nordländer. Will er nun damit sagen, daß die verschiedenen Charactere in der Natur begründet seien, und von ihr abhängen, so hat er natürlich Recht, und das versteht sich; ich kann auch wohl einsehen, wie das Alles so sein muß, und warum die Wölfe heulen, aber <hi rend="underline">mit</hi> ihnen heulen muß man darum doch nicht, das Sprichwort sollte gerade umgekehrt sein. Die Leute nun, die ihrer Lage nach arbeiten müssen, und also auch denken und thätig sein, die behandeln das Ding, wie ein nothwendiges Übel, das ihnen Geld verschafft, und so bald sie es haben, leben sie, wie die großen oder die nackten Herren. Daher ist kein Laden, wo man nicht betrogen würde: Einheimische, die viele Jahrelang dort Kunden sind, müssen ebenso handeln und auf ihrer Hut sein, wie Fremde, und einer meiner Bekannten, der 15 Jahre lang aus einem Laden kaufte, erzählte mir, wie seit 15 Jahren immer derselbe Kampf und ein Paar scudi sey, und wie nichts ihm dagegen helfe; daher giebt es ebenso wenig Industrie und Concurrenz; daher macht <persName xml:id="persName_feff2cb5-67bd-4f7b-bc2d-fdf4b316ae74">Donizetti<name key="PSN0110705" style="hidden">Donizetti, Domenico Gaetano Maria (1797-1848)</name></persName> seine Oper in 10 Tagen fertig, sie wird ausgezischt, aber das thut ihm gar nichts, denn er bekommt dafür bezahlt und kann wieder spazieren gehn; sollte aber seine Reputation endlich gefährdet werden, so würde er wieder zuviel arbeiten müssen, und das wäre unbequem; dann schreibt er einmal eine Oper in 3 Wochen, giebt sich zu ein Paar Stücken Mühe, damit sie recht gefallen, und kann wieder eine Weile spazierengehn und schlecht schreiben. So malen ihre Maler die unglaublich schlechten Bilder, die noch weit unter der Musik stehen; so bauen die Architecten die abgeschmacktesten Gebäude (unter andern eine Nachahmung von <placeName xml:id="placeName_26c6bd73-e518-4a70-82b6-632028304456">Sct. Peter<name key="SGH0100229" style="hidden" subtype="" type="sight">San Pietro in Vaticano (Petersdom)</name><settlement key="STM0100177" style="hidden" type="">Rom</settlement><country style="hidden">Italien</country></placeName> im Kleinen, im Chinesischen Geschmack) Alles das ist aber einerley: Die Bilder sind bunt, die Musik macht Lärm, die Gebäude geben Schatten – mehr will der Neapolitanische Große nicht davon. </p><p>Wie mir denn nun körperlich eben so zu Muthe wurde, wie ihnen, wie mich Alles eigentlich zum Faulsein, Spazierengehn, und Schlafen antrieb, und wie ich mir doch innerlich immer sagen mußte, das sey unrecht, und versuchte mich zu beschäftigen und zu arbeiten, was wieder nicht gehen wollte: so entstand die Verdrießlichkeit in der ich mehrere Briefe an Euch geschrieben habe, und ich konnte ihr nur ausweichen, in dem ich mich in den Bergen umhertrieb, wo es gar zu göttlich schön ist, und wo jedem Menschen heiter und dankbar zu Muthe werden muß. Dazu kam noch in Neapel das unglücklichste Wetter, da die ganzen 6 Wochen unaufhörlich der heißeste Scirocco wehte, der den Menschen herunter bringt und melancholisch-faul macht – und somit habt ihr der langen Rede kurzen Sinn: mir war nicht wohl, nicht heimisch dort. – Ich habe übrigens nicht versäumt, die Musiker kennen zu lernen, die dort sind; wir haben auch Musik zusammen gemacht, aber ich habe mich über ihre großen Lobeserhebungen nicht freuen können. Die <persName xml:id="persName_90fe932e-2634-4aa0-8ecc-7c1699323d88">Fodor<name key="PSN0111091" style="hidden">Fodor-Mainvielle, Joséphine (1789-1870)</name></persName> ist bisjetzt die einzige Künstlerinn, oder vielmehr der einzige Künstler, den ich in Italien getroffen habe; anderswo hätte ich vielleicht vieles an ihrem Gesange auszusetzen, aber das überhörte ich Alles, weil es doch wirklich Musik ist, wie sie singt, und das thut einem Menschen gar zu wohl nach langer Pause.</p><p>Nun bin ich aber wieder im alten Rom, da ist ein ander Leben! Täglich sind Prozessionen, weil vorige Woche corpus domini war (vrgl. den Bericht an die <persName xml:id="persName_11c0afb9-8f53-4441-9318-ac71c439b528">Schwestern<name key="PSN0111893" style="hidden">Hensel, Fanny Cäcilia (1805-1847)</name><name key="PSN0113263" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Paul Hermann (1812-1874)</name></persName>) und wie ich die Stadt in der Nachfeier der heil. Woche verließ, so finde ich sie in der Nachfeier des Frohnleichnamstages wieder. Es machte mir einen sonderbaren Eindruck, daß Alles auf den Straßen so sommerlich geworden war, in der Zwischenzeit: überall Buden mit Citronen, und Eiswasser, alle Leute in leichten Kleidern, die Fenster offen und die Jalousien geschlossen, vor den Caffeehäusern sitzt man auf der Straße und ißt gelato’s in Masse, der Corso wimmelt von Equipagen, denn nun wird wenig zu Fuß gegangen, und obwohl ich eigentlich keinen Freund, und keinen nahestehenden Menschen vermisse, so wurde mir doch ganz weich, als ich den spanischen Platz wieder sah, und die alten wohlbekannten Straßennamen an den Ecken. Etwa eine Woche bleibe ich nun hier, und dann geht es nordwärts, Donnerstag soll die infiorata sein, doch ist es noch nicht bestimmt, ob sie statt findet, weil man Revolutionen fürchtet; ich hoff’ es aber; bei der Gelegenheit würde ich noch das Gebirge sehen, und dann abreisen. Eure Briefe bitte ich noch nach Mailand zu adressiren, an das <persName xml:id="persName_7278c7a4-9d2f-44f9-83f4-ba29f6a77301">Albergo Reichmann<name key="PSN0114118" style="hidden">Reichmann, Herr</name></persName>, wo ich schon Nachricht gegeben habe, daß man mir Alles sicher aufhebe, oder wenn es Euch besser scheint an <persName xml:id="persName_d148458b-1624-4f6d-81e0-6c5f3c37626d">Mirabaud &amp; Co<name key="PSN0113360" style="hidden">Mirabaud &amp; Co., Bankhaus in Mailand</name></persName>. für die mein Creditiv von <persName xml:id="persName_cc532fd6-00e0-45da-bf0f-40b07066ce4f">Arnstein<name key="PSN0109544" style="hidden">Arnstein &amp; Eskeles, Bankhaus in Wien</name></persName> und Eskeles lautet; ich denke dort etwa in 4 – 5 Wochen einzutreffen, gehe von hier über Perugia nach Florenz und dann wahrscheinlich über Pisa nach Genua. Die Reise nach Nizza scheint mir nach genauerer Überlegung etwas toll und out of the way zu sein; wahrscheinlich werde ich sie also unterlassen. Wünscht mir denn also wieder einmal glückliche Reise, denn nun geht die Fahrt wieder los. Heut vor einem Jahr kam ich in München an und hörte <title xml:id="title_277c4a7d-b763-4c78-8d82-d2dc02762e44">Fidelio<name key="PSN0109771" style="hidden" type="author">Beethoven, Ludwig van (1770-1827)</name><name key="CRT0108010" style="hidden" type="music">Fidelio op. 72</name></title>, und schrieb Euch, seitdem haben wir uns nicht gesehn; so Gott will möge es nicht wieder so lange dauern.</p><signed rend="right">Felix MB.</signed></div></body> </text></TEI>