fmb-1830-10-11-01
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Venedig, 11. Oktober 1830
Maschinenlesbare Übertragung der vollständigen Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys (FMB-C)
4 beschr. S.; Adresse, 1 Poststempel. – Felix Mendelssohn Bartholdy hat sich im Datum geirrt. Er ist laut Notizbuch am Abend des 10. Oktober 1830 in Venedig angekommen und hat am nächsten Tag an die Familie geschrieben (GB-Ob, M.D.M. g. 2, fol. 23v).
Felix Mendelssohn Bartholdy
Green Books
Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C: Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz Hin- und Gegenbriefe Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML-TEI-Basis.
Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy 1809-1847 in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept, Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.
frontières.
Das ist Italien. Und was ich mir, seit ich denken kann, als höchste Lebensfreude gedacht habe, das ist nun angefangen und ich genieße es. Der heutige Tag war zu reich als daß ich mich nicht jetzt des Abends ein wenig sammeln müßte, und da schreibe ich denn an Euch und will Euch danken,
zweiLeidende da sind, aber nur
einMörder, (denn der kleine weit im Hintergrunde ändert das nicht) es wollte mir nicht wie ein Märtyrerthum erscheinen. Aber ich irre mich wahrscheinlich, und will morgen noch einmal besser nachsehen; ich war auch beim Sehen gestört, denn es klimperte einer ganz gotteslästerlich auf der
Bis jetzt ist kein Brief von Euch hier, obwohl ich deswegen nach Triest geschrieben habe. Hoffentlich kommen sie morgen früh und ich schreibe es Euch dann noch. Zeigt diesen Brief keinem
Venedig d. 11 Okt. 1830. Das ist Italien. Und was ich mir, seit ich denken kann, als höchste Lebensfreude gedacht habe, das ist nun angefangen und ich genieße es. Der heutige Tag war zu reich als daß ich mich nicht jetzt des Abends ein wenig sammeln müßte, und da schreibe ich denn an Euch und will Euch danken, liebe Eltern, die Ihr mir das ganze Glück schenkt, und will an Euch sehr denken, Ihr lieben Schwestern allzumal, und will Dich mir herwünschen Paul, um mich an Deiner Freude über das tolle Treiben zu Wasser und zu Lande wieder zu freuen, und möchte Dir beweisen, Hensel, daß die Himmelfahrt der heil. Maria ja das Allergöttlichste ist, was Menschen malen können. Ihr seid aber eben einmal nicht da, und ich muß also in elendem Italiänisch am Lohnbedienten mein Entzücken auslassen, weil er stillhält; ich werde aber confus, wenn es so fortgeht, wie diesen ersten Tag, denn des Unvergeßlichen hat sich mir in jeder Stunde soviel gezeigt, daß ich nicht weiß, wo ich Sinne hernehmen soll, um es recht zu begreifen: die Himmelfahrt habe ich gesehen, dann eine ganze Gallerie im Palast Manfrini, dann ein Kirchenfest in der Kirche wo nebenbey der heil. Petrus vom Tizian hängt, dann die Marcuskirche, Nachmittags war ich auf dem Adriatischen Meer spazieren und in den öffentlichen Gärten, wo das Volk im Grase liegt und frißt, dann wieder auf dem Marcusplatz, wo in der Dämmrung ein unglaubliches Treiben und Drängen ist. Und alles das mußte grade heut sein, weil wieder viel Neues und Andres nur morgen zu sehen ist. Aber ich muß ordentlich nun erzählen, wie ich zu Wasser hergekommen bin, (denn zu Lande, sagt Telemach, geht es hier nicht gut) und werde zu dem Ende von Gratz ausholen. Es ist eben ein langweiliges Nest zum Gähnen eingerichtet; warum hatte ich aber auch Cousinliebe unbekannterweise, und wollte eines (he) Verwandten wegen einen Tag länger bleiben? Wie kann ein Reisender mit Erfahrungen von einer Mutter und Schwester, die liebenswürdig sind, auf einen Bruder schließen, der Fähndrich ist? Mit einem Wort, der Mann wußte nichts mit mir anzufangen, und ich vergebe es ihm und schwärze ihn nicht bei seiner Mutter an, wenn ich mein Versprechen halte und ihr schreibe, aber daß er mich Abends ins Theater führte und mich den Rehbock sehen ließ, den Rehbock, der das Infamste, Verwerflichste, Elendeste ist, was der selige Kotzebue geschaffen hat, und daß er den Rehbock doch ganz nett und etwas piquant fand, das muß ihm nicht vergeben werden, denn der Rehbock hat so viel haut gout oder fumet, daß er kaum für die Katze taugt. Hier ist aber Venedig, also bin ich von Gratz weggekommen; mein alter Fuhrmann lud mich in der Finsterniß um 4 auf, und das Pferd schlich mit uns beiden davon. Hundertmal hab’ ich auf der 2 tägigen Reise an Dich gedacht, liebster Vater, Du wärst vor Ungeduld aus der Haut und vielleicht auf die des Kutschers gefahren; denn wenn er bei jedem kleinen Abhang langsam abstieg und langsam einhemmte, und den geringsten Hügel im Schneckenschritt herauffuhr, wenn er zuweilen neben her ging um sich ein wenig die Füße zu vertreten, wenn alle möglichen andern Fuhrwerke, mit Hunden oder Eseln bespannt uns einholten und vorbeyfuhren, wenn der Kerl endlich an einem großen Berg sich einen Vorspann von zwei Ochsen nahm, und die mit seinem Pferd in guter Eintracht zusammen zogen, so mußte ich mich zurückhalten, um ihm nicht auf den Pelz zu kommen; auch that ich es zuweilen, aber dann versicherte er ernsthaft, es gehe sehr schnell und ich konnte nicht das Gegentheil beweisen. Dazu blieb er in den schändlichsten Kneipen liegen, brach Morgens um 4 auf, kurz ich kam wie zerschlagen nach Klagenfurt; als ich aber auf meine Frage, wann der Venetianische Eilwagen durchpassire, zur Antwort erhielt, in einer Stunde, so machte mich das wieder frisch, ein Platz wurde mir versprochen, ein gutes Abendbrod bekam ich auch, die Eilpost kam zwar zwei Stunden später, weil sie auf dem Sömmering starken Schnee gehabt hatten, indessen sie kam, drei Italiäner saßen darin und wollten mir den Schlaf wegschwatzen, aber ich schnarchte ihnen das Schwatzen weg, so wurde es Morgen und als wir in Resciutta einfuhren sagte der Conducteur, jenseit dieser Brücke da verstehe kein Mensch mehr Deutsch. Davon nahm ich dann also für lange Zeit Abschied, und über die Brücke gings. Gleich drüben verändern sich die Häuser; die platteren Dächer mit den rundlich gebognen Ziegeln, die tiefen Fenster, die langen weißen Wände, die hohen 4eckigen Thürme zeigen auf ein anderes Land, und die blaßbraunen Gesichter der Menschen, unzähligen Bettler, die den Wagen belagern, viele kleine Kapellen, die bunter und sorgsamer von allen Seiten mit Blumen, Sonnen, Mönchen u. s. w. bemalt sind deuten wohl auf Italien hin, aber die einförmige Gegend des Weges, der sich zwischen kahlen weißen Felsen dahinzieht, an einem Strome, der sich ein breites Bette von Steinen gebrochen hat im Sommer aber nur als kleiner Bach zwischen dem Geröll sich verliert, die traurige Monotonie der ganzen Landschaft wollen nicht zu Italien passen. „Ich habe diese Stelle mit Fleiß etwas dünn gehalten, damit das Thema hernach recht vortritt“ sagt der Abt Vogler, und ich glaube der liebe Herr Gott hat ihm das abgelernt, und hat es hier eben so gemacht. Denn hinter Ospedaletto tritt das Thema hervor, und thut freilich wohl. Ich hatte mir den ganzen ersten Eindruck von Italien wie einen Knalleffect, schlagend, hinreißend gedacht: so ist es mir bis jetzt nicht erschienen, aber von einer Wärme, Milde und Heiterkeit, von einem über Alles sich ausbreitenden Behagen und Frohsinn, daß es unbeschreiblich ist. Hinter Ospedaletto geht es in die Ebne; die blauen Berge bleiben im Rücken, die Sonne scheint klar und warm durch das Weinlaub, die Straße geht zwischen Fruchtgärten fort, ein Baum ist an den andern durch Ranken gekettet: es ist, als ob man da zu Hause wäre, und alles schon lange kennte, und nun wieder einmal Besitz davon nähme. Bei Gott mir wurde behäbig zu Muthe, und dazu fliegt der Wagen über die glatte Straße, und es wurde Abend und wir kamen nach Udine, wo wir die Nacht blieben, wo ich zum erstenmal Abendbrod italiänisch forderte und wie auf dem Glatteis mit der Zunge ging, bald ins Englische ausglitt, bald sonst stolperte. Drauf am andern Morgen wurde ich geprellt, und ich machte mir gar nichts draus, und es ging weiter fort; es war gerade an einem Sonntag; von allen Seiten kamen die Leute in ihren bunten südlichen Trachten, mit Blumen, die Frauen Rosen im Haar, leichte Einspänner rollten vorüber, die Männer ritten auf Eseln zur Kirche, an den Posthäusern überall Haufen von Müßiggängern in den schönsten, faulsten Gruppen, (unter andern faßte einer einmal seine Frau die neben ihm stand so ganz ruhig in den Arm, und drehte sich mit ihr um, und sie gingen weiter: Das hieß so gar nichts und war so hübsch) nun zeigten sich hin und wieder Venetianische Landhäuser an der Straße und wurden dichter und dichter, man fährt endlich zwischen Häusern und Gärten und Bäumen wie in einem Park, das Land sieht so feiertäglich aus, als sey man ein Fürst und hielte seinen Einzug: denn die Weinreben zwischen den Bäumen sind mit ihren dunkeln Trauben die schönsten Festkränze, alle Menschen haben sich geschmückt und geputzt, ein Paar Cypressen stören nichts: in Treviso war gar eine Erleuchtung mir zu Ehren vorbereitet, papierne Laternchen hingen über den ganzen Platz und in der Mitte gab es einen großen bunten Transparent. Freilich war es erst Dämmrung, als ich durchkam und nichts angesteckt; daher sagten die Reisegefährten es sey der Kirchweih wegen. Prächtig schöne Mädchen gehen auch in Treviso umher in ihren weißen langen Schleiern mit den rothen Kleidern; man muß sich manchmal viel umkucken; ich nahm es für ein gutes omen, so gelangten wir gestern in finstrer Nacht nach Mestre, stiegen in eine Barke, und fuhren bei stillem Wetter nach Venedig ruhig hinüber. Da ist unterwegs, wo man nur Wasser und weit vor sich Lichter sieht, mitten im Meere ein kleiner Fels drauf brannte eine Lampe; die Schiffer nehmen alle den Hut ab, und einer sagte dann das sey die Madonna für den großen Sturm, der hier zuweilen sehr gefährlich und bös sey. Nun ging es ruhig, ohne Posthorn oder Wagenrasseln oder Thorschreiber in die große Stadt, unter unzähligen Brücken durch, die Stege wurden belebter, viel Schiffe liegen umher, beim Theater vorbey wo die Gondeln, wie bei uns die Wagen, in langen Reihen auf ihre Herrschaften warten, in den großen Canal, bey dem Marcusthurm, dem Löwen, dem Dogenpallast, der Seufzerbrücke vorüber: die Undeutlichkeit der Nacht erhöhte nun meine Freude, als ich die wohlbekannten Namen hörte und die dunkeln Umrisse sah, und da bin ich denn in Venedig. Nun denkt, daß ich heut die größten Bilder in der Welt kennen gelernt, daß ich die Bekanntschaft eines sehr liebenswürdigen Mannes, von dem ich bis jetzt nur gehört hatte, endlich persönlich gemacht habe, ich meine den Herren Giorgione Excellenz, der ein prachtvoller Mensch ist, und ebenso den Pordenone der die edelsten Bilder hinstellt, und dann einmal sich selbst mit vielen dummen Schülern so fromm und treu und andächtig malt, daß einem wird, als spräche man eben mit ihm und gewänne ihn lieb – da sey ein andrer nicht verwirrt. Soll ich aber ein Wort von den Tizians sagen, so muß ich ernsthaft werden; bisher habe ich nicht gedacht, daß er solch ein glücklicher Künstler gewesen sey, wie ich heut gesehen habe: daß er das Leben mit seiner Schönheit und seinem Reichthum genossen habe zeigt das Bild in Paris und das habe ich gewußt; aber er kennt auch den allertiefsten Schmerz und weiß, wie es im Himmel ist, das zeigt seine göttliche Grablegung und die Himmelfahrt. Wie die Maria da auf der Wolke schwebt, und wie ein Wehen durch das ganze Bild geht, und wie man ihren Athem und ihre Beklemmung und Andacht und kurz die tausend Empfindungen alle in einem Blick sieht – die Worte klingen nur alle so philiströs und trocken gegen das, was es heißen soll – und dann sind drei Engelsköpfe auf der rechten Seite, die von Schönheit das Höchste sind, das ich kenne; die reine, klare Schönheit, so unbewußt und heiter und fromm. Aber nichts weiter; ich muß sonst poetisch werden oder bin es gar schon, und das kleidet mir wenig; aber sehen werd ichs alle Tage. Und doch muß ich noch ein paar Worte von der Grablegung sagen, denn ihr habt den Kupferstich davon; schaut ihn an und denkt an mich; das Bild ist das Ende von einem großen Trauerspiel, so still und groß und schneidend schmerzlich. Da ist die Magdalena, die hält die Maria weil sie fürchtet, daß sie vor Schmerz sterben möchte, und will sie zurückführen, sieht sich aber dennoch selbst noch einmal um, und man sieht daß sie sich diesen Anblick für ewig einprägen will und daß sie ihn jetzt zum letztenmal hat; das ist über Alles. – Und dann der verstörte Johannes, der mehr an die Maria denkt und mit ihr leidet, und der Joseph, der nur mit dem Grab und seiner Andacht beschäftigt, das Ganze offenbar ordnet und leitet, und der Christus, der so ruhig daliegt und nun Alles überstanden hat – dazu die herrliche Farbenpracht, und der dunkele streifige Himmel – es ist ein Bild, das mit fortreißt und spricht und das mich nie verlassen wird. Ich glaube nicht, daß mich noch vieles in Italien so ergreifen wird; aber Vorurtheile hab’ ich nicht, das wißt Ihr, und könnte es auch jetzt wieder daran sehen, daß mir das Martyrerthum des h. Petrus von dem ich am meisten erwartete, am wenigsten von den dreien gefallen hat. Mir kam es nicht so wie ein Ganzes vor; die Landschaft, die herrlich ist, schien mir ein wenig überwiegend, und dann störte mich in der Anordnung, daß zwei Leidende da sind, aber nur ein Mörder, (denn der kleine weit im Hintergrunde ändert das nicht) es wollte mir nicht wie ein Märtyrerthum erscheinen. Aber ich irre mich wahrscheinlich, und will morgen noch einmal besser nachsehen; ich war auch beim Sehen gestört, denn es klimperte einer ganz gotteslästerlich auf der Orgel, und die heiligen Gestalten mußten sein jämmerliches Opernfinal anhören. Thut alles nichts; wo solche Bilder sind, brauche ich gar keine Organisten; ich spiele mir die Orgel selbst dazu in Gedanken und ärgre mich so wenig über den Unsinn, wie ich mich überhaupt über Pöbel ärgre. Tizian aber war ein Mensch; an dem muß man sich erbauen, und das will ich thun und mich freuen daß ich in Italien bin. Jetzt schreien eben wieder die Gondoliere einander an, und die Lichter spiegeln sich weit ins Wasser hinein; einer spielt Gitarre und singt dazu. Es ist eine lustige Nacht. Lebt wohl und denkt mein in jedem frohen Augenblick, wie ich Eurer. Felix. Bis jetzt ist kein Brief von Euch hier, obwohl ich deswegen nach Triest geschrieben habe. Hoffentlich kommen sie morgen früh und ich schreibe es Euch dann noch. Zeigt diesen Brief keinem Maler (Hensel ausgenommen) . Ich habe so meine Gründe.
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Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept, Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.</p></editorialDecl></encodingDesc> <profileDesc> <creation> <date cert="high" when="1830-10-11" xml:id="date_8f868859-447d-4e29-a60a-178895dd5089">11. 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Ihr seid aber eben einmal nicht da, und ich muß also in elendem Italiänisch am Lohnbedienten mein Entzücken auslassen, weil er stillhält; ich werde aber confus, wenn es so fortgeht, wie diesen ersten Tag, denn des Unvergeßlichen hat sich mir in jeder Stunde soviel gezeigt, daß ich nicht weiß, wo ich Sinne hernehmen soll, um es recht zu begreifen: die Himmelfahrt habe ich gesehen, dann eine ganze Gallerie im <placeName xml:id="placeName_1da8066a-5b43-4bee-b6e2-3ac26c63ca32">Palast Manfrini<name key="NST0102785" style="hidden" subtype="" type="institution">Galleria Manfrin</name><settlement key="STM0100176" style="hidden" type="">Venedig</settlement><country style="hidden">Italien</country></placeName>, dann ein Kirchenfest in der <placeName xml:id="placeName_8457ba3a-df73-4245-ba9e-5884f95a15a3">Kirche<name key="SGH0100244" style="hidden" subtype="" type="sight">Santi Giovanni e Paolo (Dominikanerkirche)</name><settlement key="STM0100176" style="hidden" type="">Venedig</settlement><country style="hidden">Italien</country></placeName> wo nebenbey <title xml:id="title_16d5a283-c1a7-4e3a-8390-1319ce7b932c">der heil. Petrus vom Tizian<name key="PSN0115347" style="hidden" type="author">Tizian (eigtl. Tiziano Vecellio)</name><name key="CRT0111094" style="hidden" type="art">Tod des Petrus Martyr</name></title> hängt, dann die Marcuskirche, Nachmittags war ich auf dem Adriatischen Meer spazieren und in den öffentlichen Gärten, wo das Volk im Grase liegt und frißt, dann wieder auf dem Marcusplatz, wo in der Dämmrung ein unglaubliches Treiben und Drängen ist. Und alles das mußte grade heut sein, weil wieder viel Neues und Andres nur morgen zu sehen ist. Aber ich muß ordentlich nun erzählen, wie ich zu Wasser hergekommen bin, (denn zu Lande, sagt <title xml:id="title_5a5da280-f2a4-4861-a2b2-d16456291c65">Telemach<name key="PSN0112080" style="hidden" type="author">Homer</name><name key="CRT0109351" style="hidden" type="literature">Odyssee</name></title>, geht es hier nicht gut) und werde zu dem Ende von Gratz ausholen. Es ist eben ein langweiliges Nest zum Gähnen eingerichtet; warum hatte ich aber auch Cousinliebe unbekannterweise, und wollte eines (he) Verwandten wegen einen Tag länger bleiben? Wie kann ein Reisender mit Erfahrungen von <persName xml:id="persName_2f005c46-59de-480d-a630-bffdd81220f1">einer Mutter<name key="PSN0113804" style="hidden">Pereira-Arnstein, Henriette (Judith) (seit 1812) Freifrau von (1780-1859)</name></persName> und <persName xml:id="persName_973e3126-8577-42a5-97d9-db5bef519cb7">Schwester<name key="PSN0113802" style="hidden">Pereira-Arnstein, Florentina (Flora) Freiin von (1814-1882)</name></persName>, die liebenswürdig sind, auf <persName xml:id="persName_8a3b1b7c-f56d-4caa-b5df-97e3e2af56a8">einen Bruder<name key="PSN0113801" style="hidden">Pereira-Arnstein, August Franz Albert Freiherr von (1811-1847)</name></persName> schließen, der Fähndrich ist? Mit einem Wort, der Mann wußte nichts mit mir anzufangen, und ich vergebe es ihm und schwärze ihn nicht <persName xml:id="persName_05fcc5a4-4228-4b1b-ac05-78bf62785192">bei seiner Mutter<name key="PSN0113804" style="hidden">Pereira-Arnstein, Henriette (Judith) (seit 1812) Freifrau von (1780-1859)</name></persName> an, wenn ich mein Versprechen halte und ihr schreibe, aber daß er mich Abends ins Theater führte und mich den <title xml:id="title_9b812a70-fcfb-493c-ba40-b7718b98c05d">Rehbock<name key="PSN0112511" style="hidden" type="author">Kotzebue, August Friedrich Ferdinand (seit 1785) von (1761-1819)</name><name key="CRT0109574" style="hidden" type="dramatic_work">Der Rehbock oder Die schuldlosen Schuldbewußten</name></title> sehen ließ, den Rehbock, der das Infamste, Verwerflichste, Elendeste ist, was der selige Kotzebue geschaffen hat, und daß er den Rehbock doch ganz nett und etwas piquant fand, das muß ihm nicht vergeben werden, denn der Rehbock hat so viel haut gout oder fumet, daß er kaum für die Katze taugt. Hier ist aber Venedig, also bin ich von Gratz weggekommen; mein alter Fuhrmann lud mich in der Finsterniß um 4 auf, und das Pferd schlich mit uns beiden davon. Hundertmal hab’ ich auf der 2 tägigen Reise an Dich gedacht, liebster <persName xml:id="persName_ce0c95a5-7b1b-4cb8-920f-0bc47bd11707">Vater<name key="PSN0113247" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Abraham Ernst (bis 1822: Abraham Moses) (1776-1835)</name></persName>, Du wärst vor Ungeduld aus der Haut und vielleicht auf die des Kutschers gefahren; denn wenn er bei jedem kleinen Abhang langsam abstieg und langsam einhemmte, und den geringsten Hügel im Schneckenschritt herauffuhr, wenn er zuweilen neben her ging um sich ein wenig die Füße zu vertreten, wenn alle möglichen andern Fuhrwerke, mit Hunden oder Eseln bespannt uns einholten und vorbeyfuhren, wenn der Kerl endlich an einem großen Berg sich einen Vorspann von zwei Ochsen nahm, und die mit seinem Pferd in guter Eintracht zusammen zogen, so mußte ich mich zurückhalten, um ihm nicht auf den Pelz zu kommen; auch that ich es zuweilen, aber dann versicherte er ernsthaft, es gehe sehr schnell und ich konnte nicht das Gegentheil beweisen. Dazu blieb er in den schändlichsten Kneipen liegen, brach Morgens um 4 auf, kurz ich kam wie zerschlagen nach Klagenfurt; als ich aber auf meine Frage, wann der Venetianische Eilwagen durchpassire, zur Antwort erhielt, in einer Stunde, so machte mich das wieder frisch, ein Platz wurde mir versprochen, ein gutes Abendbrod bekam ich auch, die Eilpost kam zwar zwei Stunden später, weil sie auf dem Sömmering starken Schnee gehabt hatten, indessen sie kam, drei Italiäner saßen darin und wollten mir den Schlaf wegschwatzen, aber ich schnarchte ihnen das Schwatzen weg, so wurde es Morgen und als wir in Resciutta einfuhren sagte der Conducteur, jenseit dieser Brücke da verstehe kein Mensch mehr Deutsch. Davon nahm ich dann also für lange Zeit Abschied, und über die Brücke gings. Gleich drüben verändern sich die Häuser; die platteren Dächer mit den rundlich gebognen Ziegeln, die tiefen Fenster, die langen weißen Wände, die hohen 4eckigen Thürme zeigen auf ein anderes Land, und die blaßbraunen Gesichter der Menschen, unzähligen Bettler, die den Wagen belagern, viele kleine Kapellen, die bunter und sorgsamer von allen Seiten mit Blumen, Sonnen, Mönchen u. s. w. bemalt sind deuten wohl auf Italien hin, aber die einförmige Gegend des Weges, der sich zwischen kahlen weißen Felsen dahinzieht, an einem Strome, der sich ein breites Bette von Steinen gebrochen hat im Sommer aber nur als kleiner Bach zwischen dem Geröll sich verliert, die traurige Monotonie der ganzen Landschaft wollen nicht zu Italien passen. „Ich habe diese Stelle mit Fleiß etwas dünn gehalten, damit das Thema hernach recht vortritt“ sagt der <persName xml:id="persName_a3e7b1d2-cbc8-4804-bdd3-ecf5361f1a9b">Abt Vogler<name key="PSN0115532" style="hidden">Vogler, Georg Joseph (gen. Abbé Vogler) (1749-1814)</name></persName>, und ich glaube der liebe Herr Gott hat ihm das abgelernt, und hat es hier eben so gemacht. Denn hinter Ospedaletto tritt das Thema hervor, und thut freilich wohl. Ich hatte mir den ganzen ersten Eindruck von Italien wie einen Knalleffect, schlagend, hinreißend gedacht: so ist es mir bis jetzt nicht erschienen, aber von einer Wärme, Milde und Heiterkeit, von einem über Alles sich ausbreitenden Behagen und Frohsinn, daß es unbeschreiblich ist. Hinter Ospedaletto geht es in die Ebne; die blauen Berge bleiben im Rücken, die Sonne scheint klar und warm durch das Weinlaub, die Straße geht zwischen Fruchtgärten fort, ein Baum ist an den andern durch Ranken gekettet: es ist, als ob man da zu Hause wäre, und alles schon lange kennte, und nun wieder einmal Besitz davon nähme. Bei Gott mir wurde behäbig zu Muthe, und dazu fliegt der Wagen über die glatte Straße, und es wurde Abend und wir kamen nach Udine, wo wir die Nacht blieben, wo ich zum erstenmal Abendbrod italiänisch forderte und wie auf dem Glatteis mit der Zunge ging, bald ins Englische ausglitt, bald sonst stolperte. Drauf am andern Morgen wurde ich geprellt, und ich machte mir gar nichts draus, und es ging weiter fort; es war g[erade] an einem Sonntag; von allen Seiten kamen die Leute in ihren bunten südlichen Trachten, mit Blumen, die Frauen Rosen im Haar, leichte Einspänner rollten vorüber, die Männer ritten auf Eseln zur Kirche, an den Posthäusern überall Haufen von Müßiggängern in den schönsten, faulsten Gruppen, (unter andern faßte einer einmal seine Frau die neben ihm stand so ganz ruhig in den Arm, und drehte sich mit ihr um, und sie gingen weiter: Das hieß so gar nichts und war so hübsch) nun zeigten sich hin und wieder Venetianische Landhäuser an der Straße und wurden dichter und dichter, man fährt endlich zwischen Häusern und Gärten und Bäumen wie in einem Park, das Land sieht so feiertäglich aus, als sey man ein Fürst und hielte seinen Einzug: denn die Weinreben zwischen den Bäumen sind mit ihren dunkeln Trauben die schönsten Festkränze, alle Menschen haben sich geschmückt und geputzt, ein Paar Cypressen stören nichts: in Treviso war gar eine Erleuchtung mir zu Ehren vorbereitet, papierne Laternchen hingen über den ganzen Platz und in der Mitte gab es einen großen bunten Transparent. Freilich war es erst Dämmrung, als ich durchkam und nichts angesteckt; daher sagten die Reisegefährten es sey der Kirchweih wegen. Prächtig schöne Mädchen gehen auch in Treviso umher in ihren weißen langen Schleiern mit den rothen Kleidern; man muß sich manchmal viel umkucken; ich nahm es für ein gutes omen, so gelangten wir gestern in finstrer Nacht nach Mestre, stiegen in eine Barke, und fuhren bei stillem Wetter nach Venedig ruhig hinüber. Da ist unterwegs, wo man nur Wasser und weit vor sich Lichter sieht, mitten im Meere ein kleiner Fels drauf brannte eine Lampe; die Schiffer nehmen alle den Hut ab, und einer sagte dann das sey die Madonna für den großen Sturm, der hier zuweilen sehr gefährlich und bös sey. Nun ging es ruhig, ohne Posthorn oder Wagenrasseln oder Thorschreiber in die große Stadt, unter unzähligen Brücken durch, die Stege wurden belebter, viel Schiffe liegen umher, beim Theater vorbey wo die Gondeln, wie bei uns die Wagen, in langen Reihen auf ihre Herrschaften warten, in den großen Canal, bey dem Marcusthurm, dem Löwen, dem Dogenpallast, der Seufzerbrücke vorüber: die Undeutlichkeit der Nacht erhöhte nun meine Freude, als ich die wohlbekannten Namen hörte und die dunkeln Umrisse sah, und da bin ich denn in Venedig. Nun denkt, daß ich heut die größten Bilder in der Welt kennen gelernt, daß ich die Bekanntschaft eines sehr liebenswürdigen Mannes, von dem ich bis jetzt nur gehört hatte, endlich persönlich gemacht habe, ich meine den <persName xml:id="persName_6144586b-f3e9-4a09-a141-3c62cea45bdf">Herren Giorgione<name key="PSN0111378" style="hidden">Giorgione (eigtl. Giorgio Barbarelli, gen. Zorzi da Castelfranco)</name></persName> Excellenz, der ein prachtvoller Mensch ist, und ebenso den <persName xml:id="persName_07b19462-c408-4295-9b4a-6f6d5243520a">Pordenone<name key="PSN0113953" style="hidden">Pordenone, Bernardino Licinio da</name></persName> der die edelsten Bilder hinstellt, und dann einmal <title xml:id="title_abefc77e-427a-47bb-9630-5ab181c3e80e">sich selbst mit vielen dummen Schülern<name key="PSN0113953" style="hidden" type="author">Pordenone, Bernardino Licinio da</name><name key="CRT0110335" style="hidden" type="art">Bildnis mit seinen Schülern</name></title> so fromm und treu und andächtig malt, daß einem wird, als spräche man eben mit ihm und gewänne ihn lieb – da sey ein andrer nicht verwirrt. Soll ich aber ein Wort von den <persName xml:id="persName_5773d088-6959-4af3-a6f8-e6d7155b4c74">Tizians<name key="PSN0115347" style="hidden">Tizian (eigtl. Tiziano Vecellio)</name></persName> sagen, so muß ich ernsthaft werden; bisher habe ich nicht gedacht, daß er solch ein glücklicher Künstler gewesen sey, wie ich heut gesehen habe: daß er das Leben mit seiner Schönheit und seinem Reichthum genossen habe zeigt das <title xml:id="title_741dbff2-6787-4c6c-8309-e89a13bc62c5">Bild<name key="PSN0115347" style="hidden" type="author">Tizian (eigtl. Tiziano Vecellio)</name><name key="CRT0111089" style="hidden" type="art">Junge Frau bei der Toilette</name></title> in Paris und das habe ich gewußt; aber er kennt auch den allertiefsten Schmerz und weiß, wie es im Himmel ist, das zeigt <title xml:id="title_86acdb36-c41a-44ab-89ab-a4495f6c256a">seine göttliche Grablegung<name key="PSN0115347" style="hidden" type="author">Tizian (eigtl. Tiziano Vecellio)</name><name key="CRT0111087" style="hidden" type="art">Grablegung Christi</name></title> und die <title xml:id="title_e32feab7-e9dc-4cc0-87d2-199117978e39">Himmelfahrt<name key="PSN0115347" style="hidden" type="author">Tizian (eigtl. Tiziano Vecellio)</name><name key="CRT0111092" style="hidden" type="art">Mariä Himmelfahrt</name></title>. Wie die Maria da auf der Wolke schwebt, und wie ein Wehen durch das ganze Bild geht, und wie man ihren Athem und ihre Beklemmung und Andacht und kurz die tausend Empfindungen alle in einem Blick sieht – die Worte klingen nur alle so philiströs und trocken gegen das, was es heißen soll – und dann sind drei Engelsköpfe auf der rechten Seite, die von Schönheit das Höchste sind, das ich kenne; die reine, klare Schönheit, so unbewußt und heiter und fromm. Aber nichts weiter; ich muß sonst poetisch werden oder bin es gar schon, und das kleidet mir wenig; aber sehen werd ichs alle Tage. Und doch muß ich noch ein paar Worte von der <title xml:id="title_7d48e3f1-7c49-4133-9be7-b0c8787fe53d">Grablegung<name key="PSN0115347" style="hidden" type="author">Tizian (eigtl. Tiziano Vecellio)</name><name key="CRT0111087" style="hidden" type="art">Grablegung Christi</name></title> sagen, denn ihr habt den Kupferstich davon; schaut ihn an und denkt an mich; das Bild ist das Ende von einem großen Trauerspiel, so still und groß und schneidend schmerzlich. Da ist die Magdalena, die hält die Maria weil sie fürchtet, daß sie vor Schmerz sterben möchte, und will sie zurückführen, sieht sich aber dennoch selbst noch einmal um, und man sieht daß sie sich diesen Anblick für ewig einprägen will und daß sie ihn jetzt zum letztenmal hat; das ist über Alles. – Und dann der verstörte Johannes, der mehr an die Maria denkt und mit ihr leidet, und der Joseph, der nur mit dem Grab und seiner Andacht beschäftigt, das Ganze offenbar ordnet und leitet, und der Christus, der so ruhig daliegt und nun Alles überstanden hat – dazu die herrliche Farbenpracht, und der dunkele streifige Himmel – es ist ein Bild, das mit fortreißt und spricht und das mich nie verlassen wird. Ich glaube nicht, daß mich noch vieles in Italien so ergreifen wird; aber Vorurtheile hab’ ich nicht, das wißt Ihr, und könnte es auch jetzt wieder daran sehen, daß mir das <title xml:id="title_a24af970-ad03-4745-9e35-3ebd64cf36a4">Martyrerthum des h. Petrus<name key="PSN0115347" style="hidden" type="author">Tizian (eigtl. Tiziano Vecellio)</name><name key="CRT0111094" style="hidden" type="art">Tod des Petrus Martyr</name></title> von dem ich am meisten erwartete, am wenigsten von den dreien gefallen hat. Mir kam es nicht so wie ein Ganzes vor; die Landschaft, die herrlich ist, schien mir ein wenig überwiegend, und dann störte mich in der Anordnung, daß <hi rend="underline">zwei</hi> Leidende da sind, aber nur <hi rend="underline">ein</hi> Mörder, (denn der kleine weit im Hintergrunde ändert das nicht) es wollte mir nicht wie ein Märtyrerthum erscheinen. Aber ich irre mich wahrscheinlich, und will morgen noch einmal besser nachsehen; ich war auch beim Sehen gestört, denn es klimperte einer ganz gotteslästerlich auf der <placeName xml:id="placeName_00c22ab7-3db0-48ec-bdfc-555d1b0ed7be">Orgel<name key="SGH0100244" style="hidden" subtype="" type="sight">Santi Giovanni e Paolo (Dominikanerkirche)</name><settlement key="STM0100176" style="hidden" type="">Venedig</settlement><country style="hidden">Italien</country></placeName>, und die heiligen Gestalten mußten sein jämmerliches Opernfinal anhören. Thut alles nichts; wo solche Bilder sind, brauche ich gar keine Organisten; ich spiele mir die Orgel selbst dazu in Gedanken und ärgre mich so wenig über den Unsinn, wie ich mich überhaupt über Pöbel ärgre. <persName xml:id="persName_f7b3d092-cec2-4845-a798-cb2b1868a705">Tizian<name key="PSN0115347" style="hidden">Tizian (eigtl. Tiziano Vecellio)</name></persName> aber war ein Mensch; an dem muß man sich erbauen, und das will ich thun und mich freuen daß ich in Italien bin. Jetzt schreien eben wieder die Gondoliere einander an, und die Lichter spiegeln sich weit ins Wasser hinein; einer spielt Gitarre und singt dazu. Es ist eine lustige Nacht. <seg type="closer" xml:id="seg_d280af93-4038-4d9c-938b-f5f8c7aa1673">Lebt wohl und denkt mein in jedem frohen Augenblick, wie ich Eurer.</seg></p> <signed rend="right">Felix.</signed> </div> <div n="2" type="act_of_writing" xml:id="div_63d75038-819c-4296-a45b-fb513804ae28"> <docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor> <p style="paragraph_without_indent">Bis jetzt ist kein Brief von Euch hier, obwohl ich deswegen nach Triest geschrieben habe. Hoffentlich kommen sie morgen früh und ich schreibe es Euch dann noch. Zeigt diesen Brief keinem <persName xml:id="persName_62c4f8f3-c374-4205-a39c-f628fb6c13c4">Maler (Hensel<name key="PSN0111899" style="hidden">Hensel, Wilhelm (1794-1861)</name></persName> ausgenommen). Ich habe so meine Gründe.</p> </div> </body> </text></TEI>