]> Brief: fmb-1830-06-15-02

fmb-1830-06-15-02

Hilfe zum Zitier-Tool

Um wichtige Textpassagen (Zitate) zu speichern und auf diese via Hyperlink zu verweisen, markieren Sie bitte den gewünschten Textbereich.

Daraufhin erscheint ein Fenster, in welchem Sie die ausgewählte Textpassage inkl. des Hyperlinks zur weiteren Verwendung in die Zwischenablage kopieren können.


Felix Mendelssohn Bartholdy an Ottilie von Goethe in Weimar <lb></lb>München, 15. Juni 1830 Es ist nicht Verstimmung und nicht üble Laune, auch nicht Melancholie oder sonst Verdruß das mich in den ersten Tagen hier nicht recht heiter und unbefangen wollte werden lassen: sondern es ist die vergangne frohe Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online (FMB-C) noch nicht ermittelt noch nicht ermittelt Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847) Transkription: FMB-C Edition: FMB-C Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe (FMB-C). Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft. Humboldt-Universität zu Berlin
Am Kupfergraben 5 10117 Berlin Deutschland
http://www.mendelssohn-online.com Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0) Bd. 1, 311

Maschinenlesbare Übertragung der vollständigen Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys (FMB-C)

Deutschland Berlin D-B Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Musikabteilung N. Mus. ep. 838. Autograph Felix Mendelssohn Bartholdy an Ottilie von Goethe in Weimar; München, 15. Juni 1830 Es ist nicht Verstimmung und nicht üble Laune, auch nicht Melancholie oder sonst Verdruß das mich in den ersten Tagen hier nicht recht heiter und unbefangen wollte werden lassen: sondern es ist die vergangne frohe

4 beschr. S.; Adresse, 1 Poststempel.

Felix Mendelssohn Bartholdy

Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C: Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz Hin- und Gegenbriefe Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML-TEI-Basis.

Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy 1809-1847 in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept, Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.

15. Juni 1830 Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)counter-resetMendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847) München Deutschland Goethe, Ottilie Wilhelmine Ernestine Henriette von (1796-1872) Weimar Deutschland deutsch
A. Mde Mde. Ottilie de Goethe. à Weimar frey
Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)München d. 15 Juni 1830.

Es ist nicht Verstimmung und nicht üble Laune, auch nicht Melancholie oder sonst Verdruß das mich in den ersten Tagen hier nicht recht heiter und unbefangen wollte werden lassen: sondern es ist die vergangne frohe Zeit. Sie müssen das Gefühl kennen, auch wohl es schon selbst erfahren haben, wenn Alles so hübsch und so heiter war, und weder ungewohnt noch alltäglich, sondern eben glücklich sich gestalten wollte – und wenn dann das Andre nachkommt, und sey es auch das Beste wie es dann nicht passen will, und wie man überall anstößt und sich unbehaglich fühlt, ohne zu wissen warum. Ich weiß aber warum, und zwar seitdem ich eben jetzt schreibe recht deutlich: es ist frohe Zeit vergangen, und so wie man sie in der Gegenwart nicht merkt, so steht sie gleich als ein Ganzes da, läßt sich zusammenfassen, sobald sie vorüber ist; das macht dann eben ernst. Sey es aber nun noch einmal Ihnen und Ihrer SchwesterPogwisch, Ulrike Henriette Adele Eleonore Freiin von (1798-1875) gedankt, wie Sie mich glücklich gemacht in der Zeit, und es wäre hübsch, wenn einige von den Stunden, die wir zusammen waren, auch in Ihrer Erinnerung die Heiterkeit und Wärme verbreiten könnten, die mir das Andenken an jeden Tag giebt, den ich diesmal mit Ihnen zubrachte. Was braucht es eben weiter gesagt zu sein? Es war so, also kommt es nicht wieder; man möcht’ es nun gern noch einmal zusammenfassen in Worte und sich drüber freuen; aber ich kann nun über gewisse Dinge, die mir gar zu tief innen liegen und mich da bewegen, nicht reden, noch weniger schreiben; es wird gleich so kalt und gradezu; lassen Sie also mich diesmal ohne die Scheltworte nur gehen, die Sie mir offenbar gesagt haben würden wenn ich vom Clavier aufstehend, die ganze obige Rede gesprochen hätte, und halten Sie sich nicht über das auf, was wohl viel besser gesagt, aber schwerlich besser empfunden sein könnte. – Sobald ich nur erst Historisch werde, soll auch gewiß der Styl sich bessern, und da will ich es denn gleich werden. – Hier also ist München, und sehr übles Wetter, mir gegenüber auf dem Tisch liegt eine Brieftasche mit bunten Figuren, die sehr seltsam durch einander geklebt sind; daneben die gestickten Flegeljahre<name key="PSN0114173" style="hidden" type="author">Richter, Johann Paul Friedrich (Pseud.: Jean Paul) (1763-1825)</name><name key="CRT0110453" style="hidden" type="literature">Flegeljahre. Eine Biographie</name>, die ich eben wieder durchgelesen habe (wie ich das immer gern thue, wenn ich recht Vieles und Dauerndes erlebt habe) dann kommt ein Brief meiner ElternMendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Abraham Ernst (bis 1822: Abraham Moses) (1776-1835)Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Lea Felicia Pauline (1777-1842), die mich auffordern, künftig ja nicht so ängstlich mit meiner Zeit zu sein, wie diesmal in Weimar, und die es nicht recht finden, daß ich nicht länger als 6 Tage dort geblieben bin; dann kommt eine hiesige Königl-Bayersche Opernpartitur, die ich loben soll aber nicht kann – that’s all. In den ersten Tagen habe ich manche recht dumme Bekanntschaften gemacht, und wurde beinahe widerhaarig, das heißt ich brummte für mich, und hatte starke Kunstgenüsse, indeß sahe ich mir mit derselben Behaglichkeit des Uebermuths, die mich am ersten Morgen in Weimar bis 12 spazieren gehen machte, Ihre beiden Briefe und die Empfehlungskarten von allen Seiten an, und gab sie erst nach 2 Tagen ab, weil ich wohl wußte, daß mich die über manches andre trösten würden. Fatal war es freilich, daß Hr. v. MartiusMartius, Karl Friedrich Philipp (seit 1820) von (1794-1868) nach Gastein gereis’t sein mußte, und daß seine FrauMartius, Franziska (1805-1881) mich zwar ganz freundlich empfing, ihrem Manne aber in einer Woche folgt, und daß ich sie somit nicht weiter werde zu sehen bekommen; denn eine Empfehlung von GoetheGoethe, Johann Wolfgang (seit 1782) von (1749-1832) und einen Brief von Ihnen zu haben, und nichts als eine einzige Visite, ohne Brasilianische Beschreibungen, ohne vierhändige Sonaten, dadurch zu erlangen, ist doch warlich – (Ihre Fräulein SchwesterPogwisch, Ulrike Henriette Adele Eleonore Freiin von (1798-1875) muß mir nun einmal den Ausdruck erlauben, ich kann sonst den Satz nicht zu Ende schreiben) Pech. – Nun war aber noch der StielerscheStieler, Joseph Karl (1781-1858) Brief da, und der Mann zum Glück nicht verreis’t, und ist gar sehr nett, und empfing mich in seinem Attelier, wo fertige, aufgezeichnete, angefangne Bilder, nasse Paletten, die Oelflaschen, die verhängten Fenster u. dgl. mich an meines SchwagersHensel, Wilhelm (1794-1861) oder meiner SchwesterHensel, Fanny Cäcilia (1805-1847) Zimmer stark erinnerten; da wurde mir denn gleich wohl; auch war er so freundlich, sprach mit so verklärtem Gesicht von Ihnen allen, und wurde so warm und herzlich, wie er merkte, ich hätte Sie wohl auch kennen gelernt, daß es eine Freude war. Von seinen Bildern haben mir zwei Portraits sehr gefallen, namentlich das eine, welches eine Frau v: Krüdener<name key="PSN0115136" style="hidden" type="author">Stieler, Joseph Karl (1781-1858)</name><name key="CRT0110986" style="hidden" type="art">Amalie Freiin von Krüdener</name>, die Frau des Russischen GesandtschaftssecretairsKrüdener, Georg Alexander Freiherr von (1786-1852) hir, vorstellt. Es ist wahr und klar und voll Natur; das Original ist aber auch bildschön, und wenn ich gestern in die Gesellschaft gegangen wäre, wo ich hätte ihre Bekanntschaft machen sollen, so hätten Sie vielleicht diesen Brief früher bekommen; ich meine per Stafette. Ich war aber besorgt um mein junges Leben und ging gar nicht hin (Sie werden es nicht billigen) sondern begnügte mich damit, mich gestern im Theater mit gleichgültigster Miene (vrgl. Daventry) an ihre Loge hinzustellen, zuweilen auch wohl sie anzusehen, und die HagnHagn, Charlotte von (1809-1891) sehr laut zu loben, sobald sie auftrat. Ist das nicht schätzbar für einen jungen Anfänger, wie ich bin? Und da ich denn einmal von Bekenntnissen spreche, so habe ich heut früh eine schöne, sehr lange Sonate vierhändig gespielt, und gegen meine Gewohnheit alle Theile wiederholt, und werde morgen früh eine andre sehr lange Sonate, und morgen Abend in Gesellschaft eine dritte begleiten müssen Die DameSchauroth, Delphine (Adolphine) von (1814-1887) hat sehr viel Talent, und ist fast schön (fast wieder im biblischen Sinn, wo es „gar sehr“ bedeutet) und ich kannte sie, als wir beide nur Kinder waren: das giebt nun Erinnerungen, und Taktstreitigkeiten, und bei vorkommenden Fehlern kann man mit Nachgeben sich schon höflich zeigen, und dann wird charming gemurmelt – aber fürchten Sie nichts, die Stafette braucht noch nicht zu satteln. Ich wollte nur, ich hätte Ihre Anreden mit den Antworten dazu; denn ich werde mich morgen wieder elend ausnehmen, da die Münchener ein Complimentemachendes Völkchen sind. – Ich hoffe auf eine große Sendung mit der Post aus Weimar, die Leute am Brieffenster schütteln schon mechanisch den Kopf, wenn sie mich an jedem Morgen wieder mit dem Fragezeichen im Gesicht erscheinen sehen. Dennoch, denk ich, werden sie mir endlich einmal ein Chaos und ein Paar – [(Seiten?)] Zeilen Geschriebnes dabey einhändigen – das wird dann gar nett sein. Meinen Chaosstoß ersuche ich Sie nun mit Fahrpost oder einmal, wenn Sie wollen, mit Gelegenheit nach Berlin zu senden, und zwar adressirt an Herrn Felix Mendelssohn Bartholdy, Berlin Leipziger Str. n°. 3; meine ElternMendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Abraham Ernst (bis 1822: Abraham Moses) (1776-1835)Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Lea Felicia Pauline (1777-1842) wissen schon davon, und es ist was Sonderbares darin, wie das nun zu Hause auf mich warten muß. – Das ist nun mein Anfangsbrief; er ist sehr schlecht, aber nächstens soll ein bessrer mich entschuldigen; heut regnet und stürmt es gar zu sehr und ich habe mich viel umhertreiben müssen im Unwetter. – Nun noch Grüße. Da ich aber an GoetheGoethe, Johann Wolfgang (seit 1782) von (1749-1832) selbst schreibe, und da der Brief an UlrikenPogwisch, Ulrike Henriette Adele Eleonore Freiin von (1798-1875) wohl fast eigentlich mit gerichtet sein soll, so bleiben mir außer EberweinEberwein, Franz Carl Adelbert (1786-1868) nur Frl. FroriepFroriep, Emma Charlotte Luise (1805-1872) und Frl. PappenheimPappenheim, Jenny Gräfin von (1811-1890) von Bekannten in Weimar übrig, und so müssen Sie den beiden meinen herzlichsten Gruß sagen. Nun leben Sie wohl, und sey Alles Trübe Ihnen fern.

Ihr FMB
Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)

Abends. Eben habe ich Ihre lieben Zeilen und das erste Chaos empfangen. Hätten Sie die Miene gesehn, mit der ich es im Posthofe ganz durchlas, mit der ich Zion bemitleidete, MonickeMonicke, Charles (Christian) Henry (1800-1860) errieth, und über GoetheGoethe, Johann Wolfgang (seit 1782) von (1749-1832) jauchzte, hätten Sie die Freude erlebt, so würden Sie mir gewiß die folgenden Nummern auch schicken, und mit solchen lieben Worten begleiten. Nun Sie könnten es ja gesehn haben, und schicken auch sicher. Aber die versprochnen Lieder zum Componiren, als Beilage? Ich bin gar sehr in Componirlaune, und bekomme morgen ein Clavier; wenn die Texte doch bald erfolgten? Und meine Antworten auf Complimente? Sie sehen, daß ich gar nicht dankbar bin, obwohl ich weiß, was es auf sich hat wenn Sie einen Brief und einen so langen Brief schreiben; und ich sehe, daß es wieder einmal an Papier fehlt, denn der Bogen auf dem Sie geschrieben, ist sehr klein, und sehr halb, und sehr verbogen, und sehr in der Mitte abgerissen aus Oekonomie. Da ich nun mein hiesiges Papier schön finde, da ich weiß wie viel schwerer es ist, einen neuen Bogen sich zu holen, als auf einem alten einen großen Brief zu concipiren, und da ich mir denke, daß Ihnen, wie mir auch, das Datum schreiben am schwersten wird, so schicke ich inliegend eine lange Epistel an mich, die Sie nur auszufüllen und zurückzuschicken brauchen. Aber bitte, bitte thun Sie es auch, und plaudern Sie eben einmal mit der Feder: etwa nach dem Abendessen ganz spät, oder Nachmittags, oder wann Sie wollen. Nach Wien nicht zu gehen, hab’ ich große Neigung, und denke drüber einiges nach; wenn Sie aber sagen „Ihre Halb-Passionen E.Froriep, Emma Charlotte Luise (1805-1872) u J.Pappenheim, Jenny Gräfin von (1811-1890)“ so beleidigen Sie mich höflich. Ich hab’ gar keine Halb-Passionen, sondern glühe sehr oder sage für mich sanft: hang. – Im Allgemeinen aber, komme ich ja wieder durch Weimar wenn ich von London zurückkomme, also das Uebrige mündlich dann.

Stets Ihr Felix Mendelssohn Bartholdy
            München d. 15 Juni 1830. Es ist nicht Verstimmung und nicht üble Laune, auch nicht Melancholie oder sonst Verdruß das mich in den ersten Tagen hier nicht recht heiter und unbefangen wollte werden lassen: sondern es ist die vergangne frohe Zeit. Sie müssen das Gefühl kennen, auch wohl es schon selbst erfahren haben, wenn Alles so hübsch und so heiter war, und weder ungewohnt noch alltäglich, sondern eben glücklich sich gestalten wollte – und wenn dann das Andre nachkommt, und sey es auch das Beste wie es dann nicht passen will, und wie man überall anstößt und sich unbehaglich fühlt, ohne zu wissen warum. Ich weiß aber warum, und zwar seitdem ich eben jetzt schreibe recht deutlich: es ist frohe Zeit vergangen, und so wie man sie in der Gegenwart nicht merkt, so steht sie gleich als ein Ganzes da, läßt sich zusammenfassen, sobald sie vorüber ist; das macht dann eben ernst. Sey es aber nun noch einmal Ihnen und Ihrer Schwester gedankt, wie Sie mich glücklich gemacht in der Zeit, und es wäre hübsch, wenn einige von den Stunden, die wir zusammen waren, auch in Ihrer Erinnerung die Heiterkeit und Wärme verbreiten könnten, die mir das Andenken an jeden Tag giebt, den ich diesmal mit Ihnen zubrachte. Was braucht es eben weiter gesagt zu sein? Es war so, also kommt es nicht wieder; man möcht’ es nun gern noch einmal zusammenfassen in Worte und sich drüber freuen; aber ich kann nun über gewisse Dinge, die mir gar zu tief innen liegen und mich da bewegen, nicht reden, noch weniger schreiben; es wird gleich so kalt und gradezu; lassen Sie also mich diesmal ohne die Scheltworte nur gehen, die Sie mir offenbar gesagt haben würden wenn ich vom Clavier aufstehend, die ganze obige Rede gesprochen hätte, und halten Sie sich nicht über das auf, was wohl viel besser gesagt, aber schwerlich besser empfunden sein könnte. – Sobald ich nur erst Historisch werde, soll auch gewiß der Styl sich bessern, und da will ich es denn gleich werden. – Hier also ist München, und sehr übles Wetter, mir gegenüber auf dem Tisch liegt eine Brieftasche mit bunten Figuren, die sehr seltsam durch einander geklebt sind; daneben die gestickten Flegeljahre, die ich eben wieder durchgelesen habe (wie ich das immer gern thue, wenn ich recht Vieles und Dauerndes erlebt habe) dann kommt ein Brief meiner Eltern, die mich auffordern, künftig ja nicht so ängstlich mit meiner Zeit zu sein, wie diesmal in Weimar, und die es nicht recht finden, daß ich nicht länger als 6 Tage dort geblieben bin; dann kommt eine hiesige Königl-Bayersche Opernpartitur, die ich loben soll aber nicht kann – that’s all. In den ersten Tagen habe ich manche recht dumme Bekanntschaften gemacht, und wurde beinahe widerhaarig, das heißt ich brummte für mich, und hatte starke Kunstgenüsse, indeß sahe ich mir mit derselben Behaglichkeit des Uebermuths, die mich am ersten Morgen in Weimar bis 12 spazieren gehen machte, Ihre beiden Briefe und die Empfehlungskarten von allen Seiten an, und gab sie erst nach 2 Tagen ab, weil ich wohl wußte, daß mich die über manches andre trösten würden. Fatal war es freilich, daß Hr. v. Martius nach Gastein gereis’t sein mußte, und daß seine Frau mich zwar ganz freundlich empfing, ihrem Manne aber in einer Woche folgt, und daß ich sie somit nicht weiter werde zu sehen bekommen; denn eine Empfehlung von Goethe und einen Brief von Ihnen zu haben, und nichts als eine einzige Visite, ohne Brasilianische Beschreibungen, ohne vierhändige Sonaten, dadurch zu erlangen, ist doch warlich – (Ihre Fräulein Schwester muß mir nun einmal den Ausdruck erlauben, ich kann sonst den Satz nicht zu Ende schreiben) Pech. – Nun war aber noch der Stielersche Brief da, und der Mann zum Glück nicht verreis’t, und ist gar sehr nett, und empfing mich in seinem Attelier, wo fertige, aufgezeichnete, angefangne Bilder, nasse Paletten, die Oelflaschen, die verhängten Fenster u. dgl. mich an meines Schwagers oder meiner Schwester Zimmer stark erinnerten; da wurde mir denn gleich wohl; auch war er so freundlich, sprach mit so verklärtem Gesicht von Ihnen allen, und wurde so warm und herzlich, wie er merkte, ich hätte Sie wohl auch kennen gelernt, daß es eine Freude war. Von seinen Bildern haben mir zwei Portraits sehr gefallen, namentlich das eine, welches eine Frau v: Krüdener, die Frau des Russischen Gesandtschaftssecretairs hir, vorstellt. Es ist wahr und klar und voll Natur; das Original ist aber auch bildschön, und wenn ich gestern in die Gesellschaft gegangen wäre, wo ich hätte ihre Bekanntschaft machen sollen, so hätten Sie vielleicht diesen Brief früher bekommen; ich meine per Stafette. Ich war aber besorgt um mein junges Leben und ging gar nicht hin (Sie werden es nicht billigen) sondern begnügte mich damit, mich gestern im Theater mit gleichgültigster Miene (vrgl. Daventry) an ihre Loge hinzustellen, zuweilen auch wohl sie anzusehen, und die Hagn sehr laut zu loben, sobald sie auftrat. Ist das nicht schätzbar für einen jungen Anfänger, wie ich bin? Und da ich denn einmal von Bekenntnissen spreche, so habe ich heut früh eine schöne, sehr lange Sonate vierhändig gespielt, und gegen meine Gewohnheit alle Theile wiederholt, und werde morgen früh eine andre sehr lange Sonate, und morgen Abend in Gesellschaft eine dritte begleiten müssen Die Dame hat sehr viel Talent, und ist fast schön (fast wieder im biblischen Sinn, wo es „gar sehr“ bedeutet) und ich kannte sie, als wir beide nur Kinder waren: das giebt nun Erinnerungen, und Taktstreitigkeiten, und bei vorkommenden Fehlern kann man mit Nachgeben sich schon höflich zeigen, und dann wird charming gemurmelt – aber fürchten Sie nichts, die Stafette braucht noch nicht zu satteln. Ich wollte nur, ich hätte Ihre Anreden mit den Antworten dazu; denn ich werde mich morgen wieder elend ausnehmen, da die Münchener ein Complimentemachendes Völkchen sind. – Ich hoffe auf eine große Sendung mit der Post aus Weimar, die Leute am Brieffenster schütteln schon mechanisch den Kopf, wenn sie mich an jedem Morgen wieder mit dem Fragezeichen im Gesicht erscheinen sehen. Dennoch, denk ich, werden sie mir endlich einmal ein Chaos und ein Paar – (Seiten?)  Zeilen Geschriebnes dabey einhändigen – das wird dann gar nett sein. Meinen Chaosstoß ersuche ich Sie nun mit Fahrpost oder einmal, wenn Sie wollen, mit Gelegenheit nach Berlin zu senden, und zwar adressirt an Herrn Felix Mendelssohn Bartholdy, Berlin Leipziger Str. n°. 3; meine Eltern wissen schon davon, und es ist was Sonderbares darin, wie das nun zu Hause auf mich warten muß. – Das ist nun mein Anfangsbrief; er ist sehr schlecht, aber nächstens soll ein bessrer mich entschuldigen; heut regnet und stürmt es gar zu sehr und ich habe mich viel umhertreiben müssen im Unwetter. – Nun noch Grüße. Da ich aber an Goethe selbst schreibe, und da der Brief an Ulriken wohl fast eigentlich mit gerichtet sein soll, so bleiben mir außer Eberwein nur Frl. Froriep und Frl. Pappenheim von Bekannten in Weimar übrig, und so müssen Sie den beiden meinen herzlichsten Gruß sagen. Nun leben Sie wohl, und sey Alles Trübe Ihnen fern.
Ihr FMB
Abends. Eben habe ich Ihre lieben Zeilen und das erste Chaos empfangen. Hätten Sie die Miene gesehn, mit der ich es im Posthofe ganz durchlas, mit der ich Zion bemitleidete, Monicke errieth, und über Goethe jauchzte, hätten Sie die Freude erlebt, so würden Sie mir gewiß die folgenden Nummern auch schicken, und mit solchen lieben Worten begleiten. Nun Sie könnten es ja gesehn haben, und schicken auch sicher. Aber die versprochnen Lieder zum Componiren, als Beilage? Ich bin gar sehr in Componirlaune, und bekomme morgen ein Clavier; wenn die Texte doch bald erfolgten? Und meine Antworten auf Complimente? Sie sehen, daß ich gar nicht dankbar bin, obwohl ich weiß, was es auf sich hat wenn Sie einen Brief und einen so langen Brief schreiben; und ich sehe, daß es wieder einmal an Papier fehlt, denn der Bogen auf dem Sie geschrieben, ist sehr klein, und sehr halb, und sehr verbogen, und sehr in der Mitte abgerissen aus Oekonomie. Da ich nun mein hiesiges Papier schön finde, da ich weiß wie viel schwerer es ist, einen neuen Bogen sich zu holen, als auf einem alten einen großen Brief zu concipiren, und da ich mir denke, daß Ihnen, wie mir auch, das Datum schreiben am schwersten wird, so schicke ich inliegend eine lange Epistel an mich, die Sie nur auszufüllen und zurückzuschicken brauchen. Aber bitte, bitte thun Sie es auch, und plaudern Sie eben einmal mit der Feder: etwa nach dem Abendessen ganz spät, oder Nachmittags, oder wann Sie wollen. Nach Wien nicht zu gehen, hab’ ich große Neigung, und denke drüber einiges nach; wenn Sie aber sagen „Ihre Halb-Passionen E. u J. “ so beleidigen Sie mich höflich. Ich hab’ gar keine Halb-Passionen, sondern glühe sehr oder sage für mich sanft: hang. – Im Allgemeinen aber, komme ich ja wieder durch Weimar wenn ich von London zurückkomme, also das Uebrige mündlich dann.
Stets Ihr Felix Mendelssohn Bartholdy          
            <TEI xmlns="http://www.tei-c.org/ns/1.0" xmlns:xsi="http://www.w3.org/2001/XMLSchema-instance" xsi:schemaLocation="http://www.tei-c.org/ns/1.0 ../../../fmbc_framework/xsd/fmb-c.xsd" xml:id="fmb-1830-06-15-02" xml:space="default"> <teiHeader xml:lang="de"> <fileDesc> <titleStmt> <title key="fmb-1830-06-15-02" xml:id="title_7dadbd09-b728-4184-8ac0-d7e335905ad9">Felix Mendelssohn Bartholdy an Ottilie von Goethe in Weimar <lb></lb>München, 15. Juni 1830</title> <title level="s" type="incipit" xml:id="title_c691624b-c659-406b-b3ad-bac311778d7f">Es ist nicht Verstimmung und nicht üble Laune, auch nicht Melancholie oder sonst Verdruß das mich in den ersten Tagen hier nicht recht heiter und unbefangen wollte werden lassen: sondern es ist die vergangne frohe</title> <title level="s" type="sub" xml:id="title_583667bb-97bc-4c2d-86f2-0721f71088b6">Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online (FMB-C)</title> <title key="not_yet_determined" type="precursor">noch nicht ermittelt</title> <title key="not_yet_determined" type="successor">noch nicht ermittelt</title> <author key="PSN0000001">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</author><respStmt><resp resp="writer"></resp><persName key="PSN0000001" resp="writer">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName></respStmt><respStmt resp="transcription"> <resp resp="transcription">Transkription: </resp> <name resp="transcription">FMB-C</name> </respStmt> <respStmt resp="edition"> <resp resp="edition">Edition: </resp> <name resp="edition">FMB-C</name> </respStmt> </titleStmt> <publicationStmt> <publisher>Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe (FMB-C). Institut für Musikwissenschaft und Medienwissenschaft. Humboldt-Universität zu Berlin</publisher> <address> <street>Am Kupfergraben 5</street> <placeName> <settlement>10117 Berlin</settlement> <country>Deutschland</country> </placeName> </address> <idno type="URI">http://www.mendelssohn-online.com</idno> <availability> <licence target="http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/">Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0)</licence> </availability> <idno type="MSB">Bd. 1, 311 </idno></publicationStmt> <seriesStmt> <p>Maschinenlesbare Übertragung der vollständigen Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys (FMB-C)</p> </seriesStmt> <sourceDesc source="edition_template_manuscript"> <msDesc> <msIdentifier> <country>Deutschland</country> <settlement>Berlin</settlement> <institution key="RISM">D-B</institution> <repository>Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz</repository> <collection>Musikabteilung</collection> <idno type="signatur">N. Mus. ep. 838.</idno> </msIdentifier> <msContents> <msItem> <idno type="autograph">Autograph</idno> <title key="fmb-1830-06-15-02" type="letter" xml:id="title_085d9a7f-6530-4afe-b182-5a54e339d450">Felix Mendelssohn Bartholdy an Ottilie von Goethe in Weimar; München, 15. Juni 1830</title> <incipit>Es ist nicht Verstimmung und nicht üble Laune, auch nicht Melancholie oder sonst Verdruß das mich in den ersten Tagen hier nicht recht heiter und unbefangen wollte werden lassen: sondern es ist die vergangne frohe</incipit> </msItem> </msContents> <physDesc> <p>4 beschr. S.; Adresse, 1 Poststempel.</p> <handDesc hands="1"> <p>Felix Mendelssohn Bartholdy</p> </handDesc> <accMat> <listBibl> <bibl type="none"></bibl> </listBibl></accMat> </physDesc> <history> <provenance> <p></p> </provenance> </history> </msDesc> </sourceDesc> </fileDesc> <encodingDesc><projectDesc><p>Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C: Digitale Edition der vollständigen Korrespondenz Hin- und Gegenbriefe Felix Mendelssohn Bartholdys auf XML-TEI-Basis.</p></projectDesc><editorialDecl><p>Die Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence Online-Ausgabe FMB-C ediert die Gesamtkorrespondenz des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy 1809-1847 in Form einer digitalen, wissenschaftlich-kritischen Online-Ausgabe. Sie bietet neben der diplomatischen Wiedergabe der rund 6.000 Briefe Mendelssohns erstmals auch eine Gesamtausgabe der über 7.200 Briefe an den Komponisten sowie einen textkritischen, inhalts- und kontexterschließenden Kommentar aller Briefe. Sie wird ergänzt durch eine Personen- und Werkdatenbank, eine Lebenschronologie Mendelssohns, zahlreicher Register der Briefe, Werke, Orte und Körperschaften sowie weitere Verzeichnisse. Philologisches Konzept,  Philologische FMB-C-Editionsrichtlinien: Uta Wald, Dr. Ulrich Taschow. Digitales Konzept, Digitale FMB-C-Editionsrichtlinien: Dr. Ulrich Taschow. Technische Konzeption der Felix Mendelssohn Bartholdy Correspondence FMB-C Ausgabe und Webdesign: Dr. Ulrich Taschow.</p></editorialDecl></encodingDesc> <profileDesc> <creation> <date cert="high" when="1830-06-15" xml:id="date_dbb57976-efcc-4b2e-a1de-c137141c06ea">15. Juni 1830</date></creation> <correspDesc> <correspAction type="sent"> <persName key="PSN0000001" resp="author" xml:id="persName_d3e1d055-4ff2-47c3-86eb-b32eba53e112">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName><note>counter-reset</note><persName key="PSN0000001" resp="writer">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</persName> <placeName type="writing_place" xml:id="placeName_5d94a080-d489-4681-9112-f614bd6f5351"> <settlement key="STM0100169">München</settlement> <country>Deutschland</country></placeName></correspAction> <correspAction type="received"> <persName key="PSN0111425" resp="receiver" xml:id="persName_2beab434-4961-4782-8fa5-940338102857">Goethe, Ottilie Wilhelmine Ernestine Henriette von (1796-1872)</persName> <placeName type="receiving_place" xml:id="placeName_24fcf5ff-a2c0-4996-90d8-fec478c4068d"> <settlement key="STM0100134">Weimar</settlement> <country>Deutschland</country> </placeName></correspAction> </correspDesc> <langUsage> <language ident="de">deutsch</language> </langUsage> </profileDesc> <revisionDesc status="draft">  </revisionDesc> </teiHeader> <text type="letter"> <body> <div type="address" xml:id="div_69d99448-90d5-42ab-8e67-f14d63d9fa84"> <head> <address> <addrLine>A. Mde</addrLine> <addrLine>Mde. Ottilie de <hi n="1" rend="underline">Goethe</hi>.</addrLine> <addrLine>à</addrLine> <addrLine>Weimar</addrLine> <addrLine>frey</addrLine> </address> </head> </div> <div n="1" type="act_of_writing" xml:id="div_c04c6e98-dbeb-4c7a-a26d-8324e006107c"><docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor><docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor><dateline rend="right">München d. <date cert="high" when="1830-06-15" xml:id="date_8a5064cf-f25c-4871-b113-fcaf8f1f9847">15 Juni 1830.</date></dateline><p style="paragraph_without_indent">Es ist nicht Verstimmung und nicht üble Laune, auch nicht Melancholie oder sonst Verdruß das mich in den ersten Tagen hier nicht recht heiter und unbefangen wollte werden lassen: sondern es ist die vergangne frohe Zeit. Sie müssen das Gefühl kennen, auch wohl es schon selbst erfahren haben, wenn Alles so hübsch und so heiter war, und weder ungewohnt noch alltäglich, sondern eben glücklich sich gestalten wollte – und wenn dann das Andre nachkommt, und sey es auch das Beste wie es dann nicht passen will, und wie man überall anstößt und sich unbehaglich fühlt, ohne zu wissen warum. Ich weiß aber warum, und zwar seitdem ich eben jetzt schreibe recht deutlich: es ist frohe Zeit vergangen, und so wie man sie in der Gegenwart nicht merkt, so steht sie gleich als ein Ganzes da, läßt sich zusammenfassen, sobald sie vorüber ist; das macht dann eben ernst. Sey es aber nun noch einmal Ihnen und Ihrer <persName xml:id="persName_64e9dcfc-e385-4f00-a998-7582d9634e11">Schwester<name key="PSN0113923" style="hidden">Pogwisch, Ulrike Henriette Adele Eleonore Freiin von (1798-1875)</name></persName> gedankt, wie Sie mich glücklich gemacht in der Zeit, und es wäre hübsch, wenn einige von den Stunden, die wir zusammen waren, auch in Ihrer Erinnerung die Heiterkeit und Wärme verbreiten könnten, die mir das Andenken an jeden Tag giebt, den ich diesmal mit Ihnen zubrachte. Was braucht es eben weiter gesagt zu sein? Es war so, also kommt es nicht wieder; man möcht’ es nun gern noch einmal zusammenfassen in Worte und sich drüber freuen; aber ich kann nun über gewisse Dinge, die mir gar zu tief innen liegen und mich da bewegen, nicht reden, noch weniger schreiben; es wird gleich so kalt und gradezu; lassen Sie also mich diesmal ohne die Scheltworte nur gehen, die Sie mir offenbar gesagt haben würden wenn ich vom Clavier aufstehend, die ganze obige Rede gesprochen hätte, und halten Sie sich nicht über das auf, was wohl viel besser gesagt, aber schwerlich besser empfunden sein könnte. – Sobald ich nur erst Historisch werde, soll auch gewiß der Styl sich bessern, und da will ich es denn gleich werden. – Hier also ist München, und sehr übles Wetter, mir gegenüber auf dem Tisch liegt eine Brieftasche mit bunten Figuren, die sehr seltsam durch einander geklebt sind; daneben die gestickten <title xml:id="title_cd6ff738-181b-4b6b-aef1-8a1b36dfcdbe">Flegeljahre<name key="PSN0114173" style="hidden" type="author">Richter, Johann Paul Friedrich (Pseud.: Jean Paul) (1763-1825)</name><name key="CRT0110453" style="hidden" type="literature">Flegeljahre. Eine Biographie</name></title>, die ich eben wieder durchgelesen habe (wie ich das immer gern thue, wenn ich recht Vieles und Dauerndes erlebt habe) dann kommt ein Brief meiner <persName xml:id="persName_9521561e-6f80-4fc4-bd37-56c30950e88b">Eltern<name key="PSN0113247" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Abraham Ernst (bis 1822: Abraham Moses) (1776-1835)</name><name key="PSN0113260" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Lea Felicia Pauline (1777-1842)</name></persName>, die mich auffordern, künftig ja nicht so ängstlich mit meiner Zeit zu sein, wie diesmal in Weimar, und die es nicht recht finden, daß ich nicht länger als 6 Tage dort geblieben bin; dann kommt eine hiesige Königl-Bayersche Opernpartitur, die ich loben soll aber nicht kann – that’s all. In den ersten Tagen habe ich manche recht dumme Bekanntschaften gemacht, und wurde beinahe widerhaarig, das heißt ich brummte für mich, und hatte starke Kunstgenüsse, indeß sahe ich mir mit derselben Behaglichkeit des Uebermuths, die mich am ersten Morgen in Weimar bis 12 spazieren gehen machte, Ihre beiden Briefe und die Empfehlungskarten von allen Seiten an, und gab sie erst nach 2 Tagen ab, weil ich wohl wußte, daß mich die über manches andre trösten würden. Fatal war es freilich, daß Hr. v. <persName xml:id="persName_611ce2da-34ac-4ca5-90c6-0ff55f5cfb5c">Martius<name key="PSN0113105" style="hidden">Martius, Karl Friedrich Philipp (seit 1820) von (1794-1868)</name></persName> nach Gastein gereis’t sein mußte, und daß <persName xml:id="persName_2d376709-322b-4f8c-a842-1a06f11543df">seine Frau<name key="PSN0113104" style="hidden">Martius, Franziska (1805-1881)</name></persName> mich zwar ganz freundlich empfing, ihrem Manne aber in einer Woche folgt, und daß ich sie somit nicht weiter werde zu sehen bekommen; denn eine Empfehlung von <persName xml:id="persName_9fcede61-7512-4638-9021-f848280dc3e6">Goethe<name key="PSN0111422" style="hidden">Goethe, Johann Wolfgang (seit 1782) von (1749-1832)</name></persName> und einen Brief von Ihnen zu haben, und nichts als eine einzige Visite, ohne Brasilianische Beschreibungen, ohne vierhändige Sonaten, dadurch zu erlangen, ist doch warlich – (<persName xml:id="persName_0c868073-4819-463b-b61d-21f40dee1307">Ihre Fräulein Schwester<name key="PSN0113923" style="hidden">Pogwisch, Ulrike Henriette Adele Eleonore Freiin von (1798-1875)</name></persName> muß mir nun einmal den Ausdruck erlauben, ich kann sonst den Satz nicht zu Ende schreiben) Pech. – Nun war aber noch der <persName xml:id="persName_0454b25b-d873-425b-bdf1-73c3aca2b3b1">Stielersche<name key="PSN0115136" style="hidden">Stieler, Joseph Karl (1781-1858)</name></persName> Brief da, und der Mann zum Glück nicht verreis’t, und ist gar sehr nett, und empfing mich in seinem Attelier, wo fertige, aufgezeichnete, angefangne Bilder, nasse Paletten, die Oelflaschen, die verhängten Fenster u. dgl. mich an <persName xml:id="persName_db61aade-bc31-4575-a069-f50bc218616e">meines Schwagers<name key="PSN0111899" style="hidden">Hensel, Wilhelm (1794-1861)</name></persName> oder meiner <persName xml:id="persName_a5dada20-0086-442f-be39-1da25cb59b65">Schwester<name key="PSN0111893" style="hidden">Hensel, Fanny Cäcilia (1805-1847)</name></persName> Zimmer stark erinnerten; da wurde mir denn gleich wohl; auch war er so freundlich, sprach mit so verklärtem Gesicht von Ihnen allen, und wurde so warm und herzlich, wie er merkte, ich hätte Sie wohl auch kennen gelernt, daß es eine Freude war. Von seinen Bildern haben mir zwei Portraits sehr gefallen, namentlich das eine, welches eine <title xml:id="title_beeb8d8c-b0f7-4c8f-9633-2fc1aacb4991">Frau v: Krüdener<name key="PSN0115136" style="hidden" type="author">Stieler, Joseph Karl (1781-1858)</name><name key="CRT0110986" style="hidden" type="art">Amalie Freiin von Krüdener</name></title>, die Frau des<persName xml:id="persName_a4ddd769-1131-4654-b666-d032cd14c52b"> Russischen Gesandtschaftssecretairs<name key="PSN0112555" style="hidden">Krüdener, Georg Alexander Freiherr von (1786-1852)</name></persName> hir, vorstellt. Es ist wahr und klar und voll Natur; das Original ist aber auch bildschön, und wenn ich gestern in die Gesellschaft gegangen wäre, wo ich hätte ihre Bekanntschaft machen sollen, so hätten Sie vielleicht diesen Brief früher bekommen; ich meine per Stafette. Ich war aber besorgt um mein junges Leben und ging gar nicht hin (Sie werden es nicht billigen) sondern begnügte mich damit, mich gestern im Theater mit gleichgültigster Miene (vrgl. Daventry) an ihre Loge hinzustellen, zuweilen auch wohl sie anzusehen, und die <persName xml:id="persName_f1bd489a-1e91-4365-b036-49c55e01cfdd">Hagn<name key="PSN0111663" style="hidden">Hagn, Charlotte von (1809-1891)</name></persName> sehr laut zu loben, sobald sie auftrat. Ist das nicht schätzbar für einen jungen Anfänger, wie ich bin? Und da ich denn einmal von Bekenntnissen spreche, so habe ich heut früh eine schöne, sehr lange Sonate vierhändig gespielt, und gegen meine Gewohnheit alle Theile wiederholt, und werde morgen früh eine andre sehr lange Sonate, und morgen Abend in Gesellschaft eine dritte begleiten müssen Die <persName xml:id="persName_0335766f-21be-4005-a404-2fb40f360472">Dame<name key="PSN0114515" style="hidden">Schauroth, Delphine (Adolphine) von (1814-1887)</name></persName> hat sehr viel Talent, und ist fast schön (fast wieder im biblischen Sinn, wo es „gar sehr“ bedeutet) und ich kannte sie, als wir beide nur Kinder waren: das giebt nun Erinnerungen, und Taktstreitigkeiten, und bei vorkommenden Fehlern kann man mit Nachgeben sich schon höflich zeigen, und dann wird charming gemurmelt – aber fürchten Sie nichts, die Stafette braucht noch nicht zu satteln. Ich wollte nur, ich hätte Ihre Anreden mit den Antworten dazu; denn ich werde mich morgen wieder elend ausnehmen, da die Münchener ein Complimentemachendes Völkchen sind. – Ich hoffe auf eine große Sendung mit der Post aus Weimar, die Leute am Brieffenster schütteln schon mechanisch den Kopf, wenn sie mich an jedem Morgen wieder mit dem Fragezeichen im Gesicht erscheinen sehen. Dennoch, denk ich, werden sie mir endlich einmal ein Chaos und ein Paar – [(Seiten?)] Zeilen Geschriebnes dabey einhändigen – das wird dann gar nett sein. Meinen Chaosstoß ersuche ich Sie nun mit Fahrpost oder einmal, wenn Sie wollen, mit Gelegenheit nach Berlin zu senden, und zwar adressirt an Herrn Felix Mendelssohn Bartholdy, Berlin Leipziger Str. n°. 3; meine <persName xml:id="persName_a003ab2e-f159-4644-ad72-3987d1190cdc">Eltern<name key="PSN0113247" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Abraham Ernst (bis 1822: Abraham Moses) (1776-1835)</name><name key="PSN0113260" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Lea Felicia Pauline (1777-1842)</name></persName> wissen schon davon, und es ist was Sonderbares darin, wie das nun zu Hause auf mich warten muß. – Das ist nun mein Anfangsbrief; er ist sehr schlecht, aber nächstens soll ein bessrer mich entschuldigen; heut regnet und stürmt es gar zu sehr und ich habe mich viel umhertreiben müssen im Unwetter. – Nun noch Grüße. Da ich aber an <persName xml:id="persName_38d64505-50c7-4605-b377-6b4482b68868">Goethe<name key="PSN0111422" style="hidden">Goethe, Johann Wolfgang (seit 1782) von (1749-1832)</name></persName> selbst schreibe, und da der Brief an <persName xml:id="persName_dde5107e-9291-4645-a70e-b5ce44215900">Ulriken<name key="PSN0113923" style="hidden">Pogwisch, Ulrike Henriette Adele Eleonore Freiin von (1798-1875)</name></persName> wohl fast eigentlich mit gerichtet sein soll, so bleiben mir außer <persName xml:id="persName_bd162f10-0fd3-41c0-8a51-6efec0a22140">Eberwein<name key="PSN0110816" style="hidden">Eberwein, Franz Carl Adelbert (1786-1868)</name></persName> nur <persName xml:id="persName_d4af7910-e392-41f3-bee9-c116a2121eb9">Frl. Froriep<name key="PSN0111249" style="hidden">Froriep, Emma Charlotte Luise (1805-1872)</name></persName> und <persName xml:id="persName_8dab5717-c2d1-4c4e-bb58-1b7b79bb7bdd">Frl. Pappenheim<name key="PSN0113746" style="hidden">Pappenheim, Jenny Gräfin von (1811-1890)</name></persName> von Bekannten in Weimar übrig, und so müssen Sie den beiden meinen herzlichsten Gruß sagen. <seg type="closer" xml:id="seg_c125017a-c993-4145-8da0-306ab6a37b73">Nun leben Sie wohl, und sey Alles Trübe Ihnen fern.</seg></p><signed rend="right">Ihr FMB</signed></div><div n="2" type="act_of_writing" xml:id="div_8ef588e0-1627-4ebf-b350-5bf104a698ed"><docAuthor key="PSN0000001" resp="author" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor><docAuthor key="PSN0000001" resp="writer" style="hidden">Mendelssohn Bartholdy (bis 1816: Mendelssohn), Jacob Ludwig Felix (1809-1847)</docAuthor><p style="paragraph_without_indent"><seg type="inline">Abends.</seg> Eben habe ich Ihre lieben Zeilen und das erste Chaos empfangen. Hätten Sie die Miene gesehn, mit der ich es im Posthofe ganz durchlas, mit der ich Zion bemitleidete, <persName xml:id="persName_d5fd1629-832f-4b30-9240-47e7bda5aab6">Monicke<name key="PSN0113397" style="hidden">Monicke, Charles (Christian) Henry (1800-1860)</name></persName> errieth, und über <persName xml:id="persName_964c1dcd-5e1f-4ecc-b717-8a6205be9da7">Goethe<name key="PSN0111422" style="hidden">Goethe, Johann Wolfgang (seit 1782) von (1749-1832)</name></persName> jauchzte, hätten Sie die Freude erlebt, so würden Sie mir gewiß die folgenden Nummern auch schicken, und mit solchen lieben Worten begleiten. Nun Sie könnten es ja gesehn haben, und schicken auch sicher. Aber die versprochnen Lieder zum Componiren, als Beilage? Ich bin gar sehr in Componirlaune, und bekomme morgen ein Clavier; wenn die Texte doch bald erfolgten? Und meine Antworten auf Complimente? Sie sehen, daß ich gar nicht dankbar bin, obwohl ich weiß, was es auf sich hat wenn Sie einen Brief und einen so langen Brief schreiben; und ich sehe, daß es wieder einmal an Papier fehlt, denn der Bogen auf dem Sie geschrieben, ist sehr klein, und sehr halb, und sehr verbogen, und sehr in der Mitte abgerissen aus Oekonomie. Da ich nun mein hiesiges Papier schön finde, da ich weiß wie viel schwerer es ist, einen neuen Bogen sich zu holen, als auf einem alten einen großen Brief zu concipiren, und da ich mir denke, daß Ihnen, wie mir auch, das Datum schreiben am schwersten wird, so schicke ich inliegend eine lange Epistel an mich, die Sie nur auszufüllen und zurückzuschicken brauchen. Aber bitte, bitte thun Sie es auch, und plaudern Sie eben einmal mit der Feder: etwa nach dem Abendessen ganz spät, oder Nachmittags, oder wann Sie wollen. Nach Wien nicht zu gehen, hab’ ich große Neigung, und denke drüber einiges nach; wenn Sie aber sagen „<persName xml:id="persName_296be383-d599-441e-b370-9d3549afdad1">Ihre Halb-Passionen E.<name key="PSN0111249" style="hidden">Froriep, Emma Charlotte Luise (1805-1872)</name></persName> u <persName xml:id="persName_00bca588-520f-47f1-8d7c-0436ec78b19b">J.<name key="PSN0113746" style="hidden">Pappenheim, Jenny Gräfin von (1811-1890)</name></persName>“ so beleidigen Sie mich höflich. Ich hab’ gar keine Halb-Passionen, sondern glühe sehr oder sage für mich sanft: hang. – Im Allgemeinen aber, komme ich ja wieder durch Weimar wenn ich von London zurückkomme, <seg type="closer" xml:id="seg_da244449-ef64-4b4e-b1e7-bfa2487a1941">also das Uebrige mündlich dann.</seg></p><lg rend="right" type="verse" xml:id="lg_ef832a95-d7ac-4827-9207-3940cfcd37b7"> <l>Stets Ihr Felix Mendelssohn Bartholdy</l></lg></div></body> </text></TEI>